Der Big-Brother-Award in der Kategorie Politik geht in diesem Jahr an Ursula von der Leyen. Wirklich überraschend ist das ja nun nicht.
Das ist richtig, aber dieser Preis ist so verdient, dass wir da gar nicht drum herum gekommen sind. Nicht nur wegen des Ausbaus einer Zensurinfrastruktur ist diese Auszeichnung richtig. Frau von der Leyen hat sich durch die Instrumentalisierung des Leids von Kindern Zustimmung für ihr Projekt erkauft. Dieser Preis musste sein.
Auch Innenminister Wolfgang Schäuble wird dieses Jahr ausgezeichnet. Warum erst jetzt die Ehre?
Der Preis für Wolfgang Schäuble ist schon etwas Besonderes. Es ist die Auszeichnung für sein Lebenswerk. Er bekommt ihn in der Hoffnung, dass das damit auch abgeschlossen ist. Kaum jemand hat sich so sehr wie er darum bemüht, den Rechtsstaat in einen Sicherheitsstaat umzubauen. Das ist eine Gefahr für die Demokratie. Schäuble argumentiert dabei gern mit der „besonderen Gefährdungslage“, die in Deutschland angeblich bestehe. Dabei war die Situation 1949, als das Grundgesetz geschrieben wurde, doch deutlich unübersichtlicher. Dennoch haben die Väter und Mütter des Grundgesetzes den Bürgerrechten zentrale Bedeutung verliehen. Sein Verständnis vom Rechtsstaat hat Schäuble schon 1996 verbreitet. Damals schrieb er in einem Beitrag für die FAZ unter der Überschrift „Weniger Demokratie wagen?“, dass das Grundgesetz die Tagespolitik begrenze. Dazu kann ich nur sagen: Dafür ist es ja auch da!
Schäuble ist jetzt ja in kollegialer Gesellschaft. Innenminister scheinen der Jury zu liegen. Otto Schily, Volker Bouffier, Erhart Körting - sie alle wurden in den letzten Jahren geehrt. Warum überreichen Sie neuen Innenministern den Big Brother-Award eigentlich nicht gleich bei der Amtseinführung?
Es stimmt schon: Innenminister sind prädestiniert für den Big Brother-Award. Aber das müsste nicht so sein! Innenminister sind ja zumeist auch Verfassungsminister. Und dass es auch andere Beispiele gibt als die genannten, zeigt Ex-Innenminister Gerhart Baum. Er ließ uns sogar zu unserer diesjährigen Preisverleihung ein Grußwort zukommen, in dem er unsere Pionierarbeit für Bürgerrechte und Datenschutz würdigt. Wir würden uns sehr wünschen, dass der neue Innenminister - oder die neue Innenministerin - die Chance nutzt, ohne Big-Brother-Award auszukommten.
In der Kategorie Arbeitswelt gab es dieses Jahr einen Außenseitersieg. Wie konnte sich die Firma "Claas Landmaschinen" gegen so harte Konkurrenz wie die Deutsche Bahn, die Deutsche Post oder die Deutsche Telekom durchsetzen?
Andere Fälle von Telekom, Bahn, Lidl, Drogeriekette Müller, Kik und so weiter sind in der Tat gravierender, aber sie sind mittlerweile auch hinreichend durch die Medien gegangen. Der Fall "Claas Landmaschinen" ist zum einen wirklich so absurd, dass wir eine Auszeichnung reizvoll fanden. Die Firma stattet Maschinen wie Mähdrescher mit satellietengestützten Trackingsystemen aus, damit der Chef jederzeit überprüfen kann, wo die Mitarbeiter gerade rumfahren. Das ist besonders komisch. Es ist schwer vorstellbar, wofür ein Mitarbeiter den Firmenmähdrescher denn privat nutzen sollte. Es ist uns auch kein Fall bekannt, dass "Claas Landmaschinen" die Daten ihrer Mitarbeiter missbraucht hätte. Dieser Preis ist eher eine Aufforderung, nicht einfach etwas einzubauen, nur weil es technisch geht, sondern auch an die Nebenwirkungen und die Rechte der Mitarbeiter zu denken. Und das gilt eben auch für mittelständische Firmen. Aber wir wollten mit dem Preis ein Zeichen setzen, dass auch Mittelständlern heute das Bewusstsein für den richtigen Umgang mit Mitarbeiterdaten fehlt. Es sind nicht nur die großen Konzerne.
Sie verleihen die Big Brother-Awards nun seit zehn Jahren. Die Datenschutzsituation ist in dieser Zeit eher schlechter als besser geworden. Was glauben Sie denn mit ihren Preisen zu bewegen?
Wir haben in den vergangenen Jahren einiges erreicht. Ein Beispiel: Nachdem wir 2003 gaben wir der Metro AG-Group einen Big-Brother-Award für den Einsatz von RFID-Funkchips auf Waren in einem Supermarkt in Rheinberg bei Duisburg. Dann entdeckten wir, dass auch die Payback-Kundenkarte dieses Supermarktes ein RFID-Schnüffelchip versteckt war - ohne Wissen der Kunden. Nach unserer Auszeichnung musste der Konzern die verwanzte Karten zurückziehen. Das war schon eine große Sache! Auch in anderen Fällen haben wir zunächst gewonnen, vieles wurde dann aber durch die Vorratsdatenspeicherung nachträglich legal gemacht. Dieser Erfolg hat viele beflügelt. Auf jeden Fall haben wir es aber geschafft, das Thema Datenschutz auf die öffentliche Agenda zu bringen. Unsere jährlichen „Freiheit statt Angst“-Demonstrationen stehen heute auf einer breiten gesellschaftlichen Basis: Über 160 Organisationen haben in diesem Jahr mit zur Demo aufgerufen von Verbänden und Parteien – über alle ideologischen Grenzen hinweg. Das zeigt: Wir sind nicht mehr „eine Handvoll“ - sondern wir sind eine neue Bürgerrechtsbewegung. Wir haben es geschafft, das Bewusstsein zu erhöhen, indem wir konkrete Beispiele gezeigt haben, anstatt theoretische Diskurse abzuhalten.
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