Wie sähe es heute in Europa aus, wenn Hitler den Krieg gewonnen hätte? Wären die Nazis ohne die Versailler Verträge überhaupt an die Macht gekommen? Hätte der Erste Weltkrieg auch ohne das Attentat von Sarajevo stattgefunden? Historiker verschiedenster Couleur bedienen sich häufig solcher Gedankenexperimente und behaupten, wir können durch sie über geschichtliche Zusammenhänge lernen. Haben sie Recht? Oder sollten wir eher Skeptikern wie dem marxistischen Historiker E.H. Carr zustimmen, die behaupten, bei historischen Gedankenexperimenten handelt es sich um Gesellschaftsspiele ohne wissenschaftlichen Wert?
Zweifellos ist es für die Geschichtswissenschaften unverzichtbar, Kausalbehauptungen aufzustellen. Ohne sie verkümmert Geschichtsschreibung zur reinen Beschreibung von Ketten unverknüpfter Ereignisse. Die Geschichtswissenschaft will mehr. Sie will nicht nur beschreiben, sie will auch erklären. Warum hat der Zweite Weltkrieg stattgefunden? Wäre die Shoah vermeidbar gewesen?
Hiermit verbunden ist auch die Klärung von Schuldfragen. Wenn etwa Daniel Goldhagen behauptet, dass die Deutschen europäische Helfer bei der Judenvernichtung gehabt hätten, der Holocaust aber ohne den Beitrag der Deutschen niemals hätte stattfinden können, geht es ihm um das Zuschreiben moralischer Verantwortung.
Eine dritte Rolle spielen Kausalbehauptungen in der rationalen Analyse politischer Strategien. War es wirklich Neville Chamberlains Politik des Appeasements, die Hitlers Überfall auf die Tschechoslowakei ermöglichte? Und können wir hieraus Rückschlüsse ziehen für zukünftige Konfrontationen mit Diktatoren?
Auf Max Weber geht die Idee zurück, dass sich historische Kausalbeziehungen generell nur durch Gedankenexperimente erforschen lassen, bei denen man einen oder mehrere historische Faktoren aus dem Nexus der Geschichte entfernt, um sich anschließend zu fragen, ob unter den so veränderten Bedingungen derselbe Ausgang erwartbar gewesen wäre. Mit anderen Worten, ein Ereignis A ist genau dann eine Ursache eines späteren Ereignisses B, wenn B ohne A nicht (oder nur verändert) stattgefunden hätte.
Dies zieht aber zwei Fragen nach sich. Erstens, können historische Kausalbeziehungen – im Gegensatz zu Max Webers Auffassung – auch ohne Gedankenexperimente festgestellt werden? Zweitens, sind die von Gedankenexperimenten aufgestellten kausalen Hypothesen verlässlich? Ich möchte die erste Frage verneinen, die zweite bejahen.
Reise mit der Zeitmaschine
Die verlässlichste Methode, Kausalbeziehungen festzustellen, ist die des wissenschaftlichen Experiments. In einem Experiment wird ein bestimmter Faktor kontrolliert variiert, während all diejenigen Faktoren, die ebenso das Ergebnis beeinflussen könnten, bewusst konstant gehalten werden. In einem klinischen Versuch etwa wird einer Gruppe ein Medikament verabreicht und einer weiteren Gruppe ein Placebo. Findet sich ein Unterschied im Krankheitsverlauf zwischen beiden Gruppen, so gilt das Medikament als wirksam.
Historische Kausalhypothesen lassen sich nicht experimentell überprüfen, weil sich, in den Worten des Evolutionstheoretikers Stephen Jay Gould, das Aufnahmeband der Geschichte nicht zurückspulen und erneut abspielen lässt. Und selbst wenn es technisch möglich wäre, wären uns ethisch enge Grenzen gesetzt. Niemandem wäre daran gelegen, experimentell festzustellen, was die Folgen eines Sieges der Nazis im Zweiten Weltkrieg gewesen wären!
Aber auch alternative Methoden der Kausalinduktion wie etwa die statistische Analyse, die wir unter anderem in der Ökonometrie finden, oder die Computersimulation, die zum Beispiel mit großem Erfolg in der Kosmologie verwendet wird, haben in der Geschichtswissenschaft wenig Anwendbarkeit. Es bestehen einfach zu wenige Gesetzmäßigkeiten, zu wenige allgemeingültige Regeln, um diese Methoden erfolgreich zu gebrauchen.
Das heißt aber nicht, dass das historische Gedankenexperiment vollkommen ohne Regeln auskommt. Diese Regeln sind jedoch von sehr begrenzter räumlicher und zeitlicher Gültigkeit. Wenn etwa behauptet wird, dass Hitler sich möglicherweise einem Konfrontationskurs seitens des Vereinigten Königreichs gebeugt hätte, dann beruht dies auf historischen Fakten, die zum Beispiel belegen, dass sich Hitler sehr wohl von Drohungen (etwa durch den französischen Premierminister Daladier) beeindrucken ließ und dass ihm klar war, dass er mit einem Churchill, Cooper oder Eden als Großbritanniens Premierminister vorsichtiger sein müsste.
Das bringt uns zur zweiten Frage: Können Gedankenexperimente verlässliches Wissen über Kausalzusammenhänge liefern? Wir können Gedankenexperimente gewissen methodologischen Maximen unterwerfen, die ihre Ergebnisse zumindest wahrscheinlich machen. Wir können zum Beispiel fordern, dass das veränderte Ereignis „historisch möglich“ gewesen sein muss. Eine Welt ohne das Attentat von Sarajevo erscheint uns möglich, schließlich wurde Franz Ferdinand vor möglichen Attentaten gewarnt. Im Gegensatz dazu erscheint ein britischer Konfrontationskurs mit Chamberlain als Premier undenkbar – er war viel zu sehr von der Richtigkeit seiner Politik überzeugt. Ebenso können wir fordern, dass kontrafaktische Geschichte nicht zu weit fortgeschrieben wird und dass Schlussfolgerungen soweit wie möglich mit historischen Fakten und Hintergrundwissen untermauert werden sollen.
Historische Gedankenexperimente sind in der Tat sehr spekulativer Natur, aber für die Geschichtswissenschaft sind sie unverzichtbar.
Über Gedankenexperimente findet an der Universität Oldenburg noch bis Donnerstag, 2. Juli, eine wöchentliche Ringvorlesung statt.
Die Universität von Toronto/Kanada organisierte im Mai eine wissenschaftliche Tagung über Gedankenexperimente. Die dort gehaltenen Vorträge kann man hier herunter laden.
Am Donnerstag, 25. Juni, wird Ulrich Kühne im physikalischen Kolloquium der Universität Bremen einen Vortrag über naturwissenschaftliche Gedankenexperimente halten.
Julian Reiss ist Philosophieprofessor an der Erasmus-Universität Rotterdam und Autor von Error in Economcs: Towards a More Evidence-Based Methodology (Routledge 2008)
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