Es steht nicht gut um Hamburg. Musiker verlassen die Stadt, die Fertigstellung der Elbphilharmonie wird immer weiter verschoben – und sogar Udo Lindenberg hat mit einem Umzug in die Hauptstadt gedroht. Hamburg rockt nicht mehr. Alle wollen nach Berlin. Naja, nicht ganz alle. Die Chemnitzer Band Kraftklub landete mit ihrem Anti-Berlin-Song "Ich will nicht nach Berlin" vor Kurzem einen Hit. Mittlerweile füllen Kraftklub die größten Hallen, in denen dann auch Tausende Westdeutsche bei dem Song "Ich komm' aus Karl-Marx-Stadt!" fröhlich mitsingen. Zeit also, dass die Karl-Marx-Städter den leidenden Hamburgern zu Hilfe eilen.
Unter dem Motto "Chemnitz zeigt’s Hamburg" sind an diesem Samstagabend Chemnitzer Künstler in der Hansestadt zu Besuch, allen voran Jan Kummer mit seiner Ausstellung "Inflationsheilige und Kohlrabi-Apostel". Während ein paar Straßen weiter das Hamburger Hafenfest mit seinen Schießbuden tobt, steht Kummer in der ruhigen Galerie des "Westwerks", raucht und erzählt von seinem ersten Hamburg-Besuch 1990. Kummer war Musiker der in der DDR sehr legendären Gruppe AG Geige, die mit dem in der BRD sehr legendären Label ZickZack freundschaftliche Bande knüpfte und von diesem zum Konzert eingeladen wurde.
Mit dem Trabi nach Hamburg
Ein Auftritt, an den sich Kummer nur schwach erinnern kann. "Ich weiß nur noch, dass wir im Winter stundenlang im Trabi hergefahren sind, in dem die Heizung nicht funktionierte." Heute stellt Kummer Bilder aus, auf denen trostlos aussehendes Essen aus Ostzeiten zu sehen ist – oder eine Figur wie das "Gutmännlein", das DDR-Zeitschriften wie Frösi oder Atze entsprungen zu sein scheint. "Klar hat meine Kunst einen DDR-Hintergrund, aber der ist nicht so wichtig." Seine Skulptur "Heimatensemble", die an Mickymäuse aus Kronkorken erinnert und damit auf das verbreitete Selberbasteln und den Mangel an Westprodukten in der DDR verweist, wurde etwa in Mexiko lange ausgestellt, ohne dass dort irgendjemand einen Bezug zu Ostdeutschland hergestellt hätte.
Kummer hat zur Ausstellungseröffnung Bekannte und Verwandte aus Chemnitz mitgebracht. Seine Söhne zum Beispiel, Sänger und Bassist von Kraftklub, die hier einen geheimen Gig als "Die Kosmonauten" spielen wollen, die Postpunk-Band Suralin und Sir Henry, mit dem Kummer zusammen das DJ-Duo Discoteque Tandem bildet. Die Galerie füllt sich vor allem mit jungen Mädchen. Ein Security-Mann fragt, ob er sie von den Skulpturen fernhalten soll. Kummer weiß auch nicht so recht. Doch dann gehen alle freiwillig. Der Eingang zum Konzert ist an der Nachbartür.
Plötzlich ist die Galerie leer, draußen bildet sich eine Schlange vor der Nachbartür. Jemand hat ein Poster mit fünf Köpfen in Astronautenhelmen aufgehängt. Der Andrang ist aber überschaubar. 150 Leute werden in den Raum mit Bar und kleiner Bühne hereingelassen. Viele sind es nicht, die nach Hause geschickt werden müssen.
Drinnen gibt es zunächst mal ein Ost-West-Quiz. Kummer steht mit einem Kollegen vom Westwerk auf der Bühne und stellt Fragen zu Elbe und Erzgebirge. Wer die richtige Antwort brüllt, kriegt einen Schnaps. "Was versucht Kati Witt seit Jahren erfolgreich herzustellen?" – "Eine Beziehung", ruft eine Frau. Richtige Antwort: Schmuck. Hamburg ist an der Reihe: "Was für hässliche Dinge tun Hamburger Bands?" Hä? Für Sponsoren wie Jägermeister spielen, wäre die richtige Antwort – aber wer soll da draufkommen? Irgendwer kriegt trotzdem Schnaps. Nachdem geklärt wurde, dass Chemnitz die Elbphilharmonie zumindest mit Zement unterstützt und mit Abstand die größte Zerstörungsrate im Krieg hatte, fällt der Strom aus. Kurze Dunkelheit und Ruhe. Nur der knallgrüne Schnaps leuchtet ein bisschen. "So wie das Uran bei uns", meint Kummer.
Der Strom kommt wieder, mit ihm Licht und nur halbwegs funktionierender Sound für das Hamburger Frauenduo Zucker, das Zeilen singt wie: "Fick dich hart" oder "Wir sind die Trümmerfrauen und haben einen Traum". Die Fortführung der lustigen Fragerunde scheitert daran, dass die Quizmaster inzwischen verschwunden sind. Also Schnaps für alle und: Jetzt wird gerockt.
"Wir covern jetzt Kraftklub"
Suralin schwitzen und spielen wie blöde. Vielleicht das nächste große Ding aus der Hype-Stadt Chemnitz? Dann drängeln sich Kraftklub – also an diesem Abend: Die Kosmonauten – durch den engen Raum zur Bühne. "Wir covern jetzt einen Hit von Kraftklub", sagt Sänger Felix Brummer, um anschließend alle Hits von Kraftklub zu spielen. So nah, so eng, so klein wird wohl nur noch selten ein Kraftklub-Konzert sein. "Oh, ich habe meinen Schritt ja genau vor eurem Gesicht", fällt Brummer auf, der sich an den geringen Abstand zu den Erste-Reihe-Mädchen erst mal gewöhnen muss. Dass Kraftklub zu Recht der Ruf vorauseilt, eine grandiose Liveband zu sein, beweisen sie.
In dem engen Raum wird es immer heißer. Der Schlagzeuger öffnet ein Fenster. Kurze Pause zum Stoßlüften. "Nicht, dass sich jemand wegen der Lautstärke beschwert. In Chemnitz wurden schon Clubs geschlossen wegen ein paar Dezibel zu viel", sagt Brummer. Zum Schluss bedankt er sich bei Jan Kummer für die Einladung und "das Zeugungsding" und lädt alle zur folgenden Party ein.
Dort legt das Diskoteque Tandem alles von Electrohits bis zu Indie auf, und Jan Kummer moderiert im besten Provinzdiscostil die Lieder mit "Bürger Hamburgs, für euch" an, während seine Söhne und ihre Gang ihm zujubeln. Irgendwoher taucht dann auch noch Rocko Schamoni auf und tanzt zu "Funky Town". DJ Kummer ruft: "Jetzt Ballade oder Disco?" Die Menge, die inzwischen fast nur noch aus den Bandmitgliedern und ihren Freunden besteht und abgeht, als wäre es die letzte Party der Klassenfahrt, schreit: "Ballade!" Dann wird gemeinsam und sehr textsicher Oasis' "Don't look back in anger" mitgegrölt. Rocko Schamoni gibt da auf. Die Chemnitzer haben’s Hamburg wirklich gezeigt.
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