DIE "OBSCHTSCHNINA" ALS ÜBERLEBENSKULTUR Der Sieg des Kapitalismus auf den Äckern Russlands verzögert sich. Präsident Putin will die Privatisierung von Grund und Boden "vorsichtig forcieren"
Nach etlichen Versuchen, auch die Landwirtschaft per "Ukas" im Schnelldurchgang zu privatisieren, hinterließ Boris Jelzin seinem Nachfolger die Agrarfrage als ungelöstes Problem. Wladimir Putin hat nun eine "Konzeption des Bodenrechts" vorgelegt, die Verkauf und Vererbung von Grund und Boden gesetzlich verankern will. Ob allerdings die Duma zustimmt, erscheint fraglich.
Das Pro und Contra zur Privatisierung der Landwirtschaft ist in Russland oft gleich bedeutend mit einem Pro und Contra zur Obschtschina - der klassischen Dorfgemeinschaft. Allerdings gehen die Ansichten darüber, was man eigentlich darunter zu verstehen habe, zwischenzeitlich weiter auseinander als je zuvor. Kommunisten und "Patrioten" verherrlichen sie als Urbild russischer Lebensweise. Westlich orientierte Re
her Lebensweise. Westlich orientierte Reformer verdammen sie als Verhängnis, das den Fortschritt blockiert. Teodor Schanin, Russlands führender Agrartheoretiker (er lehrt derzeit an der Universität Manchester) hält es daher für nötig, erst einmal zu klären, was tatsächlich gemeint ist: "Wenn man von ÂObschtschina spricht, wie es sie im 19. Jahrhundert gab, dann bezeichnet der Begriff ein System, das den Bauern gegen hohe Risiken schützte, indem es ihm die Möglichkeit gab, mit Hilfe des Nachbarn zu überleben. Auf der anderen Seite hatte die ÂObschtschina ihren Nutzen für die Regierung, der so ausufernde bürokratische Strukturen erspart blieben. Ohne einen Administrator vor Ort haben zu müssen, reichte es aus, der Kommune Order zu geben, Rekruten auszuheben oder Steuern einzutreiben. Die ÂObschtschina erledigte das und war effektiv nach zwei Seiten hin: Sie diente den Bedürfnissen der Bauern - und sie diente den Bedürfnissen der Regierung, das sorgte für Stabilität."Mit der Sowjetunion lebte die Obschtschina als Sowchose und Kolchose fort, auf deren Zerschlagung Boris Jelzins Privatisierung zielte - das Resultat war grassierende Desorganisation. Die Kollektivwirtschaften sind zwar heute mehrheitlich in Aktiengesellschaften überführt, doch sie produzieren wie eh und je. Ein Drittel ist insolvent und auf ein Stadium der Selbstversorgung zurückgesunken. Der Boom einer privaten Ausgründung von Höfen, der 1991 einzusetzen schien, war bereits Mitte 1993 beendet. Die meisten "Ausgründer" wollten bald in den Schutz der Kollektivökonomie zurück, um ihr Überleben zu sichern. Außerdem fehlt ein Jahrzehnt nach dem Abgang der UdSSR noch immer eine Gesetzesnovellierung, die den Erwerb von Grundbesitz regelt. Alle Anläufe dazu sind bisher in der Duma am Widerstand der Kommunisten wie der Agrarpartei gescheitert.Die so vielerorts anzutreffende Situation beschreibt Teodor Schanin - inspiriert von einjähriger Feldforschung im Süden Russlands - wie folgt: "Man muss von einem Âinformellem Einkommen der Bauern sprechen. Eine Familie in Kuban zum Beispiel lebt offiziell von 600 oder 1.000 Rubel im Monat, umgerechnet 30 Dollar. Ihr Realeinkommen beträgt jedoch 200 bis 300 Dollar. Die Differenz fällt deshalb nicht weiter ins Gewicht, weil die bäuerliche Sphäre aus einer Symbiose zwischen Familienwirtschaft und Großstrukturen besteht, die sich häufig in den denkwürdigsten Formen des naturalen Austausches vollzieht. Man zahlt seinen Kolchosmitgliedern nichts und die nutzen dafür die Ressourcen der Kolchosen auf nicht-legale Weise. Dadurch reproduziert sich das System. Wichtig ist allerdings die Balance: Wenn die Kolchosmitglieder zu viel ÂklauenÂ, kollabiert die Produktionsbasis der Gemeinschaft, dann kehrt das ganze Kollektiv definitiv zur Naturalwirtschaft zurück, dann verelenden die Familien."Die wenigen erfolgreichen Privatbauern stehen nicht außerhalb dieses Systems: Ihre Erfolge beruhen in der Regel auf früheren Verbindungen, die konserviert werden, was man in Russland mit dem Wort Blat, beschreibt. Beziehungen mit der Administration, mit den Banken, der Saatgutfabrik. Einzelbauern wirtschaften keineswegs in freien Marktbeziehungen, sondern nehmen wie die Kolchosniki weiter Ressourcen der Sowchose für sich in Anspruch - ein Grund, weshalb die Kolchosniki die Einzelbauern nicht eben lieben.Ein Crash-Szenario für die Agrarreform zeichnete sich 1998/99 mit dem Vorpreschen der Gouverneure von Saratow und Tatarstan ab. Sie erließen regionale Dekrete über privates Eigentum an landwirtschaftlich nutzbarem Boden und kassierten mit ihrer (keinesfalls verfassungswidrigen) Kampagne (*) einen eklatanten Misserfolg. Kaum jemand verfügte über das erforderliche Kapital, um mit dem Boden auch die nötige Technik, Saatgut und Düngemittel zu kaufen. Und die lokalen Sowchosen hatten kein Interesse, potenzielle "Ausgründer" zu unterstützen - die Regierung schon, doch der fehlte das Geld.Alexander Nikulin, ein Mitarbeiter Teodor Schanins, bezweifelt, dass Präsident Putin in dieser Situation neue Vorstöße zur Privatisierung auf dem Lande unternimmt, so sehr sie allein schon deshalb zwingend wären, weil zur Zeit 30,6 Millionen Hektar brachliegen, davon 28 Millionen Weide- und Ackerland: "Wenn Putin jetzt den Verkauf von Grund und Boden vorantreiben will, verheißt das nicht automatisch den Sieg des Kapitalismus in der russischen Landwirtschaft. Letztlich wird Gewohnheitsrecht siegen. Klar, man wird Papiere über privates Eigentum vorweisen, aber das sind eben Papiere, mehr nicht. Man wird es einfach nicht umsetzen, man wird einfach nicht folgen."Vorerst gelten die präsidialen Interventionen den "politischen Rahmenbedingungen" einer Agrarreform. Putin will unbedingt die "vertikale Staatsmacht" stärken, was auf eine Liquidierung der lokalen Selbstverwaltung hinausläuft: die lokale Administration wird nun von oben eingesetzt, das Budget durch die Zentralregierung festgelegt. Ein grelles Licht auf die so geprägte Realität wirft der 1991/92 entstandene Ökologische Dienst, der gutgläubigen Westlern gern als Beispiel erfolgreicher Reformpolitik offeriert wird. "In den neunziger Jahren", so Nikulin, "wurden nach westlichem Muster überall Dependancen eingerichtet, um formal die Einhaltung ökologischer Standards zu sichern, was aber unter den Bedingungen Russlands kaum möglich ist. Gerät ein Mitarbeiter dieses Dienstes auf eine Sowchose und erklärt: Sie müssen ausmisten, Sie müssen die Wege pflegen, Sie müssen dies und das, der Direktor aber keine Mittel dafür hat, gibt man dem Agenten des Dienstes einfach Wsatki. Das heißt, er wird verpflegt, damit er wieder geht. Folglich gilt der Ökologische Dienst inzwischen als gefürchteter Schutzgeldeintreiber. So vollzieht sich Ökologie vor Ort ... "Alternativen lägen weder in einer weiteren Privatisierung, noch im Widerstand dagegen, meint Alexander Nikulin: "Ich stelle mir für Russland aktuell das Modell Tschajanows vor. Tschajanow war ein bedeutender Agrarwissenschaftler, der Anfang des 20. Jahrhunderts die Theorie der ländlichen Kooperative ausgearbeitet hat. Sie beschreibt die äußerst produktive, äußerst perspektivreiche, äußerst effektive Kombination zwischen Persönlich-Familiärem und Groß-Kollektivem. Diese Kombinationen bilden sich zur Zeit spontan, sie sind die einzigen, die tatsächlich etwas bewirken in Russland. Wissenschaftler und Politiker sollten sie studieren und ihnen die Möglichkeit einer rationalen Entwicklung geben. Eine perspektivreiche, vor allem friedliche Variante."(*) Artikel 36 und 90 der russischen Verfassung erlauben Verkauf und Vererbung von Grund und Boden. Russlands Agrarproduktion und Verbraucherpreise zwischen 1990 und 2000Russland ist heute nicht einmal ansatzweise in der Lage, sich selbst mit Nahrungsmitteln zu versorgen. Seit 1991 müssen zwischen 35 und 40 Prozent des Bedarfs an Lebensmitteln importiert oder durch Hilfssendungen akquiriert werden. Hauptlieferanten sind die EU, die USA und Kanada.199019921994199619982000Agrarproduktion- 3,6- 9,0- 12,0- 5,1- 13,2+ 1,0Verbraucherpreise (insgesamt)+ 6,0+ 2.510+ 215+ 21,8+ 84,4+ 4,0Nahrungsmittelpreisekeine Angabe+ 2.570+ 233+ 18,0+ 96,1+ 2,7(Veränderungen gegenüber dem Vorjahr in Prozent, Quelle: DIW)
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