Ehrgeiziger Hinterbänkler

50 Jahre NATO: NATO/Russland Mit dem Krieg um das Kosovo wird nicht nur die »neue Strategie« des Paktes erprobt, sondern auch über den weiteren weltpolitischen Aktionsradius Moskaus entschieden

Keine zehn Jahre ist es her, da beschwor der Amerikaner Francis Fukujama angesichts der Auflösung der Sowjetunion das Ende der Geschichte. Was wir seitdem erleben, ist das Gegenteil: Die Welt befindet sich in einem fundamentalen Umbruch, in dem Geschichte neu geschrieben wird. Die Nachkriegsordnung unseres Globus, von den Allianzen konkurrierender Systeme fast für ein halbes Jahrhundert in einem Gleichgewicht gegenseitiger Abschreckung gehalten, geriet erneut in Bewegung. Der Warschauer Pakt verschwand - der Nordatlantik-Pakt, bis dahin als regionales Verteidigungsbündnis definiert, überlebte zwar, brauchte jedoch eine neue strategische Identität.

Zudem waren für die konventionelle und nukleare Rüstungskontrolle veränderte Rahmenbedingungen zu beachten. Das galt nicht zuletzt für die Verträge über konventionelle Rüstungsbeschränkung (KSE), da die dort verankerten Kontingentierungen noch von der Blockzugehörigkeit der Vertragspartner ausgingen. Ähnlich verhielt es sich mit den strategischen Rüstungskontrollabkommen, insbesondere dem noch unter Gorbatschow 1991 ausgehandelten Start-I-Vertrag, der eine Reduzierung der strategischen Kernwaffen um rund ein Drittel innerhalb von sieben Jahren vorsah: Nach Auflösung der UdSSR mußte das Abkommen zwischen den USA und den Nachfolgestaaten der Union - Rußland, Weißrußland, Kasachstan und der Ukraine - neu gefaßt werden. Das Folgeabkommen Start II, mit dem ein weiterer Abbau von Nuklearsprengköpfen vereinbart wurde, ist bis heute durch die russische Duma nicht ratifiziert. Und die immer tieferen Brüche im Verhältnis zwischen Washington und Moskau lassen bezweifeln, ob es in absehbarer Zeit dazu kommt.

Wirkt bei der Rüstungskontrolle das Axiom aus der Zeit der Blockkonfrontation - keine thermonukleare Konfrontation - noch fort, gilt ansonsten, daß die USA und Rußland heute auf höchst unterschiedlichen Wegen nach einer neuen Weltordnung suchen. Dabei möchten vor allem die Amerikaner die NATO von einem auf das Territorium der Mitgliedstaaten begrenzten Verteidigungsbündnis zu einer Allianz mit globaler Interventionsfähigkeit entwickeln, die unter dem Signum, weltweit für Stabilität und Menschenrechte zu sorgen, den Führungsanspruch der USA durchsetzt. Ein wesentlicher Schritt zur unumgänglichen Einbindung Mitteleuropas in dieses Konzept wurde mit der Aufnahme Ungarns, Tschechiens und Polens gerade getan.

Aber auch Rußland hat seinen Anspruch Großmacht zu bleiben, obwohl geschwächt durch die Folgen der Transformation, nicht aufgegeben. Es versucht, ihn im Rahmen einer multipolaren Neuordnung der Weltgemeinschaft zu verwirklichen, als deren Partner neben den USA vor allem China, Japan und Europa betrachtet werden.

Dieses Ziel im Blick war Moskau auch bereit, der EU beizutreten und durch die Kooperation im »NATO-Rußland-Rat« 1997 sogar eine Ausweitung der NATO nach Osten zu billigen. Seine Kritik an der NATO-Osterweiterung ist indes nie verstummt. In ihrem Motiv, einer mit der neuen NATO-Strategie zwangsläufig verbundenen Delegitimierung der UN entgegenzuwirken, dürfte sich die Moskauer Führung durch den Jugoslawien-Krieg nachhaltig bestätigt fühlen - ebenso in dem Bestreben, die OSZE als europäischen Sicherheitsverbund aufzuwerten. Die Ratifizierung einer Charta, mit der eine solche Definition festgeschrieben werden soll, ist für den OSZE-Gipfel im November dieses Jahres in Istanbul vorgesehen.

Aus Moskauer Sicht steht Westeuropa zwischen beiden Konzeptionen. Auch dies eine neue Konstellation: Zu Zeiten der Systemkonfrontation war die atlantische Bindung Westeuropas, insonderheit der Bundesrepublik Deutschland, eine Tatsache ohne Alternative. Mit dem Fall der Mauer und dem Verschwinden der Sowjetunion rückte Westeuropa aus einer exponierenden Frontlage gegenüber dem Warschauer Vertrag in eine auf den ersten Blick komfortable Mittellage zwischen den USA und dem jetzt wieder »offenen« Osten. Das galt vorrangig für Deutschland, das im letzten Jahrzehnt vom langjährigen Juniorpartner der USA zu einem realen Machtfaktor aufgestiegen ist, der - zumindest theoretisch - zwischen Rußland und den USA wählen könnte.

Schon mit dem Golfkrieg 1991, vollends aber durch den Krieg um das Kosovo, sind die unterschiedlichen Vorstellungen Rußlands, der USA sowie der West- und Mittel europäer, wie eine künftige Weltordnung gegliedert und gewahrt werden soll, aufeinandergeprallt.

Zunächst einmal ist es den USA gelungen, das widerstrebende Westeuropa - allen voran eine für ihre Bündnistreue unter Beweisnot stehende rotgrüne deutsche Regierung - gegen russischen Widerstand für den militärischen Präzendenzfall der neuen NATO-Doktrin zu vereinnahmen. Damit wurde aber zugleich eine Eigendynamik provoziert, aus der es kein Entrinnen gibt: Die NATO braucht gegen Jugoslawien einen militärischen Erfolg, um ihre Kriegführung politisch legitimieren zu können. Je weiter sie den Krieg eskaliert, um so mehr verliert sie eben diese Legitimation. Eindeutig stehe inzwischen weit mehr auf dem Spiel als das Kosovo, schrieb Zbigniew Brzezinski, ehemaliger Sicherheitsberater Jimmy Carters, dieser Tage: »Ein Scheitern der NATO wäre das Ende ihrer Glaubwürdigkeit und würde die globale Führungsrolle der USA in Mitleidenschaft ziehen.« Er prognostizierte für diesen Fall »verheerende Folgen für die globale Stabilität«. Vermutlich hat er ebenso recht wie alle, die es ihm jetzt unisono nachsprechen. Dies gilt in einem doppeltem Sinne: Scheitert die NATO im Kosovo, stellt das die westliche Hegemonie in Frage; siegt die NATO, wäre das ein Schritt in Richtung auf eine europäische, genereller: eine globale Weltordnung, in der sich eine freiwillige Integration der Völker in Unterordnung unter das militärische Diktat einer NATO-Weltmacht verkehrt. Noch sind die Würfel nicht gefallen.

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