Entschieden ist nichts

Urteil im Chodorkowski-Prozess Im Kampf um die Verfügungsgewalt über Russlands Ölvorkommen ist eine Runde vorbei. Die nächste wird folgen

Kein Zweifel, Prozess und Urteil im Verfahren gegen den russischen Ölmagnaten Chodorkowski sind nicht nur "politisch motiviert", wie dessen Verteidiger im Europarat meinen. Sie sind Ausdruck einer strategisch angelegten Konfrontation zwischen staatlicher Macht und privatem Kapital. Es geht um nicht mehr und nicht weniger als die Frage, wer die Verfügungsgewalt über die nationalen Öl- und Gas-Ressourcen besitzt, mit denen immerhin 40 Prozent des Staatsbudgets bestritten und 55 Prozent der Exportgewinne erwirtschaftet werden. Mit dem Prozess gegen Chodorkowski werden Auswüchse der Privatisierung drakonisch und exemplarisch zurück geschnitten. Das ist erklärte Politik Wladimir Putins - gut 70 Prozent der Bevölkerung sind laut Umfragen einverstanden.

Kein Zweifel auch, dass die Art des Verfahrens - angefangen bei der martialischen Verhaftung Chodorkowskis über den Verlauf des Prozesses bis zum drakonischen Urteil von neun Jahren Gefängnis - nicht den Menschenrechtsstandards der UNO oder dem EU-Wertekanon entspricht. Folgerichtig hat amnesty international (ai) Chodorkowski nach anfänglicher Weigerung inzwischen zum politischen Gefangenen erklärt.

Aber die überlange Untersuchungshaft des Angeklagten sowie das selektive Vorgehen in diesem Fall sind keine russische Spezialität. In der Sache nimmt sich die deutsche Justiz das gleiche Recht auf Inhaftierung Beschuldigter wie die russische, und nicht anders als die russische geht auch die deutsche dabei selektiv vor, wenn sie denn überhaupt etwas gegen Wirtschaftskriminelle unternimmt. Mit diesem Befund könnte man den Fall Chodorkowski zu den Akten legen, wäre der nicht zwischenzeitlich zur Stimulans einer Kampagne geworden, die sich bewährter Feindbilder versichert. Es begann mit einem Artikel Zbigniew Brzezinskis: Unter der Überschrift "Der Moskauer Mussolini" vertrat er im Wall Street Journal vom 20. September 2004 die Auffassung, Wladimir Putin versuche, einen Faschismus nach dem Muster Mussolinis aufzubauen - Russland tendiere dazu, ein "faschistischer Erdölstaat" zu sein. Ein Schlagwort, das im neo-konservativen Amerika nicht ohne Resonanz blieb. Bruce Jackson, Reisender in Sachen Project on Transitional Democracies, versah den russischen Staatschef daraufhin zusätzlich mit dem Stigma des Antisemiten: "Seit Putin gewählt wurde, waren alle führenden Figuren, die wegen Wirtschaftsverbrechen exiliert oder arretiert wurden, jüdisch. Wir sind Zeugen der größten illegalen Enteignung jüdischen Kapitals seit den Beschlagnahmungen der Nazis in den Dreißigern ... " Und zu Chodorkowski hieß es: "Die Inhaftierung eines solchen Mannes hat uns das Signal gegeben - unsere gut gemeinte Russland-Politik ist gescheitert. Wir müssen nun erkennen, dass eine massive Unterdrückung von Menschenrechten stattgefunden hat." In Moskau sei eine Administration errichtet worden, die vom Typ her an den Kalten Krieg erinnere. Wenig später folgte der "Offene Brief" an die Führungen von NATO und EU vom 28. September 2004, der von 150 Persönlichkeiten aus Europa und den USA, unter anderem dem Parteivorsitzenden der deutschen Grünen, unterzeichnet wurde. Unter Rückgriff auf die einschlägige Menschrechtsrhetorik korrespondierte das mit dem Versuch, direkt auf die russische Politik Einfluss zu nehmen und den "demokratischen Kräften" beizustehen. Am 5. Oktober 2004 legte die grüne Böll-Stiftung mit einem weiteren "Aufruf für Rechtstaatlichkeit und Gerechtigkeit im Fall Chodorkowski" und einer Solidaritätsveranstaltung für den Öl-Tycoon und Milliardär nach.

Der Vollständigkeit halber sei daran erinnert, dass Chodorkowski - allen patriotischen Beteuerungen zum Trotz - kurz vor seiner Verhaftung drauf und dran war, den Öl-Giganten Yukos durch die Fusion mit Sibneft und anderen US-dominierten Konzernen in ein multinationales Unternehmen zu verwandeln, auf das der russische Staat keinen Zugriff mehr haben sollte. Politische Verbindungen in die USA waren angebahnt. Wie es die International Herald Tribune mitteilte, hatte Chodorkowski versucht, sich mit viel Geld Zutritt zum "politischen Klub" in Washington zu verschaffen. Dafür sollen zwischen 2001 und 2003 pro Jahr 50 Millionen Dollar investiert worden sein. Davon eine Million als Spende für die Kongressbibliothek und 500.000 für die Carnegie-Stiftung, die ihrerseits dieses Geld zur Unterstützung für Nichtregierungsorganisationen nach Russland zurück wandern ließ. Chodorkowski verteilte des weiteren großzügige Gaben an neokonservative US-Institutionen und öffnete den Verwaltungsrat seiner eigenen Stiftung für einflussreiche US-Politiker wie den ehemaligen demokratischen Senator Bill Bradley und Henry Kissinger.

Im Vorfeld des Irak-Krieges wandte er sich - offenkundig mit Blick auf die beabsichtigte Yukos-Expansion - gegen die ablehnende Haltung von Schröder, Chirac sowie Putin und plädierte stattdessen für eine russisch-amerikanische Kriegsallianz. Es konnte ihm dabei nicht um die immer wieder gern kolportierte Rivalität mit dem russischen Staatschef um die Macht im Kreml gehen. Als Oligarch mit US-Paten hätte Chodorkowski in Russland keine Mehrheiten gewinnen können. Die Machtfrage stellte sich anders und lautete: Wer kontrolliert künftig den Ölreichtum Eurasiens? - Putin hat in diesem Kampf für Russland eine Runde gewonnen; endgültig entschieden ist damit noch nichts.


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