Im März wird gewählt, und Wladimir Putin hat noch immer kein Programm. Von dem künftigen russischen Präsidenten gibt es nur einzelne Äußerungen, Erklärungen, hier und da ein Interview sowie laufend Kurzkommentare im Fernsehen - und neuerdings auch einen »Offenen Brief an die Wähler«.
Da steht aber auch nichts drin. Nur, dass Putin die Wirtschaft zwischen liberalen Reformen und stärkerer staatlicher Regulierung stabilisieren will; von einem Kampf gegen Korruption oder dergleichen kein Wort. Putin will einen starken Staat. Dass er dafür den Krieg in Tschetschenien führen lässt, ist offensichtlich. Putin verspricht Stabilität. Wie er die erreichen will, bleibt ebenso unklar wie sein Wirtschaftsprogramm oder sein auß
in außenpolitischer Kurs gegenüber dem Westen. Die gültige »Sicherheitsdoktrin« ist noch Produkt der Jelzin-Administration. Von neuen Ideen, einer neuen nationalen Vision gar, keine Spur.Putin erscheint der russischen Öffentlichkeit wie eine Black Box, auf die alle politischen Kräfte erstaunlich homogen reagieren. Jede Partei glaubt, darin etwas finden zu können und hält sich die Türen offen: Die Patrioten erwarten von dem neuen Mann eine Orientierung gegen Amerika; die Kommunisten eine dirigistische Wirtschaftspolitik; die in den Dumawahlen abgeschlagenen Mitglieder von Juri Luschkows Vaterland erhoffen sich eine zentristische Orientierung, an der sie trotz Niederlage partizipieren können; und der liberale Anatolij Tschubajs erwartet die Fortsetzung und Absicherung der Privatisierung.Nur Jabloko und die auf diese Partei orientierenden Menschenrechtler scheinen zu einer echten Opposition bereit - wenigstens in der Kriegsfrage ist ihr Widerspruch zur Putin-Linie klar. Aber ohne Putin zu dämonisieren, meint etwa Ludmilla Alexejewa, Präsidentin der russischen Helsinki-Gruppen. Der Krieg in Tschetschenien sei brutal und falsch, und man müsse mit allen Mitteln dagegen angehen. Aber der Krieg sei ja schließlich nicht alles.Statt einer Auseinandersetzung um Programme geht es in der jetzigen Phase des Wahlkampfes nur um die Frage: Für oder gegen, mit oder ohne Putin? Außer dem amtierenden Kremlchef gibt es noch zehn weitere Kandidaten (siehe Tabelle): Verzichtet hat Jefgenij Primakow, Ex-Premier, der Russland nach dem Bankenkrach vom 17. August 1998 in eine relative Stabilität führte und dafür große Sympathie bei der Bevölkerung genoss. Er wurde im schmutzigen Wahlkampf des vergangenen Jahres politisch und menschlich so weit demontiert, dass er sich keine Chancen mehr ausrechnen kann. Ähnliches wird über Juri Luschkow berichtet, den Bürgermeister von Moskau, dessen noch vor Jahresfrist als Favorit gehandelte Organisation Vaterland vier Wochen vor der Wahl eine Kapitulationserklärung gegenüber Putin abgegeben hat.Bleiben als ernstzunehmende Konkurrenten nur noch der KPRF-Chef Gennadij Sjuganow und Grigori Jawlinski, Vorsitzender der westorientierten Jabloko-Partei. Alle anderen, vom Politclown der Nation, Wladimir Schirinowski, über den linksorientierten Gouverneur Titow bis zum Nationalbolschewisten Podberjoskin oder der einzigen Frau im Rennen, Ella Pamfilowa, sind politisch bedeutungslos und machen mit ihrer Kandidatur lediglich persönliche Reklame.Besondere Beachtung verdient die Position der »patriotischen« Rechten. Das sind Kräfte um Alexander Prochanow, den Herausgeber der auflagenstärksten national-bolschewistischen Zeitung Sawtra (morgen) oder Alexander Dugin, der für eine Orientierung Russlands auf seine euroasiatischen »Führungsaufgaben« plädiert. Sie versprechen sich von einem Präsidenten Putin einerseits eine euroasiatische, antiwestliche (genauer: antiamerikanische) Orientierung, bezichtigen ihn gleichzeitig aber auch der Kooperation mit Tschubajs Co. Sehr schroff tritt diese Art der Kritik im antisemitischen KP-Flügel links hervor. Diese »patriotische Bewegung« betrachtet Wladimir Putin als die Verlängerung der liberalen Verschwörung durch Jelzin. Auch Putin sei schließlich Jude.Die Reformlinke hingegen ist als politische Kraft kaum noch wahrnehmbar, besteht lediglich aus einzelnen Personen und versprengten Gruppen, die nach dem Rücktritt Boris Jelzins noch weniger Einfluss haben als in den Jahren zuvor: Diese Linke hat - wie etwa der Kreis der Alternative um Alexander Busgalin - bestenfalls theoriebildenden Einfluss. Linke Intellektuelle wie Boris Kagarlitzki sind in der westlichen Publizistik oft bekannter als im eigenen Land, und andere, wie etwa Boris Slawins Partei der Werktätigen, geraten in den Sog der »Sozialdemokratisierung« von Vaterland oder Jabloko.Überraschungen kann man nur spontan und auf der Straße erleben. Hier wird Politik, wenn überhaupt, als Medienschauspiel wahrgenommen. Und da scheint dann, besonders unter Jugendlichen, Wladimir Putins Position doch nicht so gefestigt, wie manche glauben möchten. Nach anfänglicher Begeisterung für den jungen, energischen Mann, blättert jetzt schon der erste Lack: Der Tschetschenienkrieg dauert länger als versprochen und kostet mehr Opfer als der erste. Austragen müssen das vor allem weniger gebildete Schichten. Der Fall des Radio Liberty-Korrespondenten Babizki schockiert zudem auch die intellektuellen Schichten, weil in Babizkis Person die Freiheit des Wortes nicht nur bedrängt, sondern mit Gewalt unterdrückt wurde.Rechte wie linke Radikale erwarten daher unisono eine weitere Polarisierung: Mit der kommenden Wahl werde noch nicht das letzte Wort gesprochen. Wenn Putin das ausführen müsse, was er bis jetzt nur andeute, dann werde sich zeigen, dass die wichtigsten Fragen Russlands weiterhin einer Lösung harren.Dennoch bleibt Putin faktisch konkurrenzlos. Widerspruch gegen ihn ist entweder Systemopposition, die ihre Positionen nach den Möglichkeiten der Machtbeteiligung ausrichtet, oder der Ruf nach humanerer Machtausübung, einschließlich der Kriegsführung in Tschetschenien. Im Spektrum der Gegner dieses Feldzuges gibt es eine Reihe von Menschen, die nicht das Militärabenteuer an sich, sondern lediglich dessen Ausuferung zum Vernichtungskrieg kritisieren. Auf der anderen Seite befürworten keineswegs alle »Patrioten« den Tschetschenienfeldzug; viele verurteilen ihn als Krieg gegen das russische Volk.In einem allerdings stimmen parlamentarische Opposition und außerparlamentarischer Protest überein: Putin wird Russland nicht retten. Im Gegenteil. Er begräbt es unter nationalen Parolen. Mit dieser Feststellung hört die Gemeinsamkeit aber auch schon auf. Ob sich mehr daraus entwickelt, kann sich erst nach der Wahl zeigen, wenn klar wird, welchen Weg Wladimir Putin tatsächlich einschlägt.