Es verwundert nicht, dass sich die NATO und all jene Staaten, die sich dem Westen zugehörig fühlen oder ihm - wie die Staaten Osteuropas - angehören möchten, derzeit auf die Seite Amerikas stellen, zumindest verbal. Nachdenklich allerdings stimmen die Solidaritätsadressen aus Moskau und Peking: Über Nacht wurden die USA vom "Störenfried einer sich herausbildenden multipolaren Ordnung" zum "strategischen Partner". Dies alles erweckt den Eindruck, als sei jetzt - gut ein Jahrzehnt nach dem Ende der UdSSR - endgültig das "amerikanische Zeitalter" ausgebrochen und werde nun auch von Russland und China akzeptiert. Doch dieses Bild täuscht: Wenn Russen und Chinesen der angeschlagenen Supermacht Hilfe beim Aufspüren der Terroristen zusagen, so tun sie das - ungeachtet aller diplomatischen Formeln - allesamt unter einer Bedingung: Dass sie von den USA konsultiert werden. Aus der Sicht Washingtons eine Form des Umgangs, der sich US-Administrationen während der vergangenen Jahre nicht selten entzogen haben. Doch ein Verzicht auf Konsultationen mit Partnern wie Russland und China würde die Risiken für Bushs angekündigten Kreuzzug potenzieren. China als potentielle Führungsmacht Asiens unterhält Beziehungen mit allen Staaten, die seit Jahren nach US-Weltanschauung unter der Kategorie "Schurkenstaaten" firmieren. Am 11. September, dem Tag der Anschläge von New York und Washington, gab es beispielsweise Verhandlungen über ein Handelsabkommen zwischen China und der Taliban-Regierung in Kabul. Peking verfolgt beharrlich eine Politik, mit der die muslimisch geprägten Staaten Zentralasiens durch Wirtschafts-, Zoll- und Sicherheitsverträge an die Region gebunden werden sollen.
Für Russland gelten vergleichbare Intentionen - mehr noch, gerade unter Wladimir Putin hat die Ausrichtung nach Süden und Osten eine Belebung erfahren: Nicht nur versucht Moskau, wieder seinen Einfluss in der GUS (*) geltend zu machen, es pflegt genau wie Peking auch mit jenen Staaten weitgehend normale Beziehungen, die für die USA inzwischen als Deckadressen für Terroristen gelten. Im Übrigen ist die in letzter Zeit oft beschworene relative Stabilisierung der russischen Ökonomie - abgesehen von den Öl-Dollars, die das Staatsbudget zu einem Drittel füllen - auch ein Ergebnis wieder wachsender Rüstungsexporte in diverse Krisengebiete.
Wohl hat Wladimir Putin seine Bereitschaft erklärt, die USA bei der Bekämpfung des von den Taliban gedeckten Osama bin Laden zu unterstützen, doch muss dabei in Betracht gezogen werden, dass der Kreml die Taliban seit Jahren beschuldigt, radikale tschetschenische Militärkommandos mit Personal und Waffen zu beliefern. Jenseits dieser Konfliktlinie aber hören die Berührungen zwischen Moskau und Washington bereits auf. Russland kann im Unterschied zu den USA keinerlei Destabilisierung des kaukasischen und zentralasiatischen Raumes brauchen. Die aber droht, wenn Russen und Amerikaner, die bis 1988/89 einen blutigen Stellvertreterkrieg auf dem Rücken der Afghanen austrugen, nunmehr in einer gemeinsamen Militäraktion gegen die Taliban-Regierung vorgehen sollten. Die Taliban müssten ihren Nachbarn für einen solchen Fall nicht erst den Heiligen Krieg androhen - eine Eskalation der Konflikte in diesem Raum wäre auch ohne ihr Zutun die Konsequenz.
Nicht zu vergessen - der innerrussische Krisenherd Tschetschenien. Es gibt Anzeichen dafür, dass die Regierung Putin nach einem Ausweg sucht, der durch einen allzu offenkundigen Schulterschluss mit den USA obsolet wäre. Derzeit kommen Konzepte zum Ausgleich mit Tschetschenien vor allem aus dem Umfeld einer sich selbst so nennenden neo-euroasiatischen Bewegung. Deren Wortführer, Alexander Dugin, definiert Russland nicht nur als Macht zwischen Asien und Europa - er definiert Weltpolitik als grundsätzliche Konfrontation zwischen dem territorial-euroasiatischen und dem maritim-atlantischen Block, kurz gefasst, zwischen Russland als potentiellem Führer des euroasiatischen und den USA als Führungsmacht des atlantischen Blocks. Augenblicklich findet Dugin, der zu Perestroika-Zeiten als nationalistischer Extremist galt, nicht nur offene Ohren in Russlands neuen Eliten, er avancierte auch zum Berater von politischen Kongressen im Dunstkreis Wladimir Putins. Die von ihm gegründete Euroasiatische Bewegung ist dabei, sich mit Staatsmitteln im Land zu verbreiten. Nach Dugins Lesart, sind russische Muslime - besonders die Tschetschenen - nicht als Gegner zu bekämpfen, sondern als Partner in eine euroasiatische Front gegen die USA einzubeziehen. Es versteht sich, dass diese Linie, die zunehmend Anhänger im Umfeld des Präsidenten zu finden scheint, mit einer militärischen Unterstützung amerikanischer Vergeltungsmaßnahmen gegen "die" Taliban nur schwer zu vereinen ist.
(*) Gemeinschaft Unabhängiger Staaten
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