Wenn mein Herz rast

Vergessene Opfer Vergewaltigte Frauen in Ruanda zehn Jahre nach dem Völkermord

Eine staubige Straße mitten im ruandischen Nirgendwo: Alvéra wartet. Ihr Kleid ist festlich, leuchtendes Gelb flattert im Wind. Heute ist ein besonderer Tag, das Auto mit den Frauen müsste längst da sein. Dann endlich ein Hupen, und der Geländewagen fährt heran. Die Anspannung weicht einem Lächeln. Hastig steigt sie ein, die Gruppe ist fast vollzählig - sieben Tutsi-Frauen aus der Region Butare, die zu keinem fröhlichen Ausflug aufbrechen.

Die Frauen kennen und vertrauen einander, doch nicht das ist es, was sie eint: Jede von ihnen wurde während des Völkermords 1994 unzählige Male vergewaltigt, jede ist seitdem mit dem HI-Virus infiziert, jede sucht nach einem Weg zurück ins Leben und in die Gesellschaft Ruandas.

Als am 6. April 1994 das Flugzeug des ruandischen Präsidenten Juvenal Habyarimana von unbekannten Tätern über der Hauptstadt Kigali abgeschossen wird, ist das der Beginn des furchtbarsten und effizientesten Genozids nach dem Zweiten Weltkrieg: In weniger als 100 Tagen werden vor den Augen der Welt über 800.000 Männer, Frauen und Kinder - vorwiegend aus der Volksgruppe der Tutsi - massakriert. Die Täter sind Hutu, die mit ihren Opfern jahrzehntelang Tür an Tür den Alltag geteilt haben. Bewaffnet mit Macheten und Nagelkeulen ziehen sie von Haus zu Haus - töten, vergewaltigen und plündern. Erst der Vormarsch der aus Uganda einrückenden Patriotischen Front (RPF) beendet am 4. Juli das Inferno.

Wie viele Frauen in den Wochen der Barbarei vergewaltigt werden, lässt sich nie genau feststellen. Die UNO spricht von 500.000 Frauen und Mädchen. Doch die Dunkelziffer ist hoch, viele haben nicht überlebt oder verschweigen aus Scham das Erlittene. Die ruandische Regierung unter Präsident Kagame, 1994 Befehlshaber der RPF, vertritt eine Politik der Versöhnung. In medienwirksamen Manifestationen, wie der Anfang des Monats zelebrierten nationalen Gedenkfeier zum 10. Jahrestag des Genozids, wird der Toten gedacht. Aber die staatliche Hilfe für die Überlebenden bleibt rar und das Sprechen über die Vergewaltigungen ein Tabu.

Zwischen Milizen hin und her

Kurz nach dem Genozid haben Alvéra und die anderen Frauen einander gefunden: Beim verzweifelten Umherirren auf der Suche nach Angehörigen, beim Betteln um Essen, im Notfallzelt des Internationalen Roten Kreuzes. Als jeder anbrechende Tag, so Alvéra, "wie eine grausame Laune Gottes" erschien. Als ein Blick genügte, um zu wissen, was anderen wiederfahren war. Da haben sie sich gegenseitig gestützt und waren füreinander da, bis die Kraft wieder reichte, um in ein zerstörtes Zuhause zurückzukehren.

Seit einem Jahr hilft die ruandische Frauenorganisation Association des Veuves du Genocide (AVEGA), dass sich die Frauen bis heute regelmäßig treffen können. Einmal im Monat fährt Chantal, Psychologin bei AVEGA, mit einem Geländewagen die zwei Stunden von Kigali nach Butare und sammelt die Frauen unterwegs ein. Ihr gemeinsames Ziel ist das Haus von Immaculée, der Achten in ihrer Gruppe. Sie wohnt abseits jeder Siedlung, fast wie versteckt, in einem kleinen Bananenhain. Hier sind die Frauen ungestört; hier finden sie den Raum, den ihnen die Gesellschaft bis heute nicht geben will oder kann - Raum für Trost und das Zuhören untereinander.

Immaculée klatscht in die Hände und strahlt; sie freut sich, die anderen zu sehen. Die Frauen streifen ihre Schuhe ab. Das Haus ist klein; zwei karge Zimmer, mit Bastmatten ausgelegt. Wer keinen Stuhl findet, sitzt auf dem Boden. Der Plauderton der Autofahrt verfliegt schnell - die Frauen wirken in sich gekehrt, gefangen in einem Erleben, das ihre Seelen verdunkelt. Mit leiser Stimme, den Kopf gesenkt, beginnt Alvéra zu sprechen.

"Alles, was ich erzähle, ist meine eigene Geschichte. Als das Schreckliche begann, war mein Sohn fünf und das Baby gerade mal acht Tage alt. Ich erinnere mich genau: Die Milizen kamen nachts. Sie töteten meinen Mann mit Macheten, und dann..." - sie schlägt die Hände vors Gesicht. "Es waren fünf, alle aus der Nachbarschaft. Sie lachten über meine Angst und verhöhnten mich: ›Ihr Tutsi-Frauen haltet euch wohl für etwas Besseres‹. Und dann machten sie mit mir, was sie wollten, die ganze Nacht. Sie hörten einfach nicht auf, ließen nicht ab. Sie schlugen mit Stöcken auf mich ein und traten nach mir. Ich blutete und blutete, hatte doch gerade erst das Baby ..."

Alvéras Worte wühlen auf: Jede von ihnen hat Ähnliches erlebt. Die Täter vergewaltigten sie auf offener Straße, vor den Augen der eigenen Familie. Mehrmals. Manch eine wurde entführt, zu wochenlanger sexueller Sklaverei gezwungen und zwischen Milizengruppen hin- und hergetauscht.

Letzteres ist Alvéra erspart geblieben. Als die Täter im Morgengrauen kurz das Haus verlassen, kriecht sie ins Freie und verbirgt sich in einem nahen Maisfeld. "Ich konnte nicht mehr, nicht mehr gehen und gar nichts. Aber ich wusste, dass ich mit den Kindern nicht dort bleiben durfte."

Erst abends wagt sie sich hervor. Bei einer befreundeten Hutu-Familie bekommt sie Wasser, um ihren wunden Körper zu waschen und etwas zu essen. Länger als ein paar Stunden darf Alvéra nicht bei ihren Helfern bleiben - zu groß ist die Angst vor den Milizen und ihrer Rache.

In der Hoffnung, nicht das ganze Land möge im Wahnsinn versunken sein, tritt Alvéra den Marsch nach Süden an. Tagsüber mit ihren Kindern stundenlang in Maisfeldern, verlassenen Ställen oder Gräben versteckt, wandert sie nur im Schutz der Dunkelheit. Wohin sie auch kommt, überall bietet sich das gleiche Bild: zur Unkenntlichkeit verstümmelte Leichen, geplünderte Häuser, sterbende Verletzte. "Ich hatte Hunger und starke Schmerzen. Meine Glieder waren angeschwollen von ihren Schlägen und dem, was sie mir angetan hatten." Mehr als einmal kämpft Alvéra mit dem Verlangen, ihr Baby unterwegs zurückzulassen. Die Rettung ist schließlich ein Blauhelmsoldat, der sie mit beiden Kinder entdeckt und in Sicherheit bringt. Alvéra schweigt einen Augenblick. "Geblieben ist mir ein Leben mit Aids und einer Angst, die regelmäßig wiederkehrt. Und dann sage ich mir, dass ich trotz allem noch am Leben bin ..."

Das rechte Bein nie gefunden

Ohne die gezielte Diffamierung der Tutsi-Frauen durch die Hutu-Elite Ruandas und deren Medien in den Jahren und Monaten vor dem Genozid, wäre ein derartiges Ausmaß an Vergewaltigungen nicht möglich gewesen. Mit dem Ziel, den Hass zwischen Hutu und Tutsi zu schüren, wurde ein Bild von Tutsi-Frauen gezeichnet, das sexuelle Gewalt in Worten vorwegnahm und provozierte. Man bediente sich tief in der ruandischen Gesellschaft verwurzelter Stereotype, etwa der sprichwörtlichen und viel gelobten Schönheit der Tutsi-Frauen. In der Sprache des Privatkanals Radio-Télévision des Milles Collines wurde sie zu einer hemmungslos gebrauchten Waffe, mit der die Frauen jeden Hutu zum willenlosen Werkzeug ihrer persönlichen Interessen erniedrigen konnten. Sie handelten niemals aus Liebe, sondern verachteten die Hutu-Männer zutiefst. "Die Vergewaltigungen", vermutet Human Rights Watch, "dienten den Tätern dazu, sich für diese Demütigung zu rächen und die Frauen zu bestrafen."

Zur Verantwortung gezogen worden sind Alvéras Peiniger nie. Die fünf Männer haben sich in den Kongo abgesetzt. Manchmal nachts glaubt Alvéra, sie wieder an ihrer Tür zu hören. "Mein Herz rast, ich bekomme keine Luft, bin panisch, will weg ... Aber da ist nichts, nichts und niemand."

Immer wieder wird das Furchtbare in den Köpfen der Frauen lebendig und reißt sie mit sich fort. "Manchmal", erzählt Immaculée, "möchte ich zwei Tage lang überhaupt nicht vor die Tür gehen, so groß ist meine Angst." Doch sie muss. Schon so schafft sie es kaum, sich und ihre vier Kinder über Wasser zu halten. Die Arbeit auf dem Feld ist hart und ihr fehlt die Erfahrung, wie man Mais und Bohnen zum Wachsen bringt. Von Jahr zu Jahr fällt die Ernte schlechter aus. Früher hat sich ihr Mann um die Feldarbeit gekümmert. "Die Milizen hatten ihn so schlimm zugerichtet, dass ich sein rechtes Bein nicht finden konnte. Meine Tochter glaubte lange Zeit, ich hätte ihn nie geliebt und deshalb nur die Hälfte seines Körpers begraben."

Die äußeren Verletzungen der acht Frauen sind vernarbt, ihre seelischen Wunden werden wohl nie ganz heilen. Hinzu kommt die Gewissheit, dass die HIV-Infizierung ihnen eines Tages die letzte Kraft nehmen und den Tod bringen wird. "Bis dahin", hofft Alvéra, "möchte ich meinen Kindern wenigstens die Schulausbildung bezahlen können."

Die AVEGA bemüht sich darum, ihr und den anderen dabei zu helfen. Mit kleinen Krediten, gewonnen aus internationalen Spenden, unterstützt sie Frauen wie Immaculée, die davon träumt, sich eine Kuh zu kaufen und mit dem anfallenden Mist, ihr Feld zu düngen. "Wichtig ist uns vor allem", sagt Chantal, "dass die Frauen ihren Lebenswillen behalten. Nur so können sie einen Platz in der ruandischen Gesellschaft finden."

Es ist Nachmittag geworden, das Treffen der acht neigt sich dem Ende zu. Sie stehen auf, fassen einander an den Händen, verharren und blicken sich an. Bis in einem Monat, bis zum nächsten Mal. Bevor sie zu den anderen klettert, blickt Alvéra sich noch einmal um: "In Ruanda gibt es ein Sprichwort. ›Wenn du krank bist und jemanden zum Sprechen findest, dann ist das wie ein Tropfen Medizin‹", lächelt sie.


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