Der Speckgürtel drückt

ÖPNV Eine Verkehrswende muss im Umland der Städte ansetzen. Sie wäre auch ein Mittel im Kampf gegen rechts
Ausgabe 05/2019

Der andauernde „Dieselskandal“ böte die Chance, ein radikales Umdenken auch in Bezug auf den öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) zu bewirken. Dieselfahrzeuge sind zunehmend von Fahrverboten betroffen. Dabei kann der Eindruck entstehen, als wären sie die einzigen motorisierten Fortbewegungsmittel, die Schadstoffe ausstoßen. Weit gefehlt! Dagegen hilft auch das Einsetzen von sauberer Technik – immerhin eine Möglichkeit, den gebeutelten Pkw-Besitzern entgegenzukommen – wenig.

Denn die Ursache unserer Verkehrs- und Verschmutzungsprobleme sitzt viel tiefer. Umso grundsätzlicher müsste auch eine Lösung sein. Allein, die Politik versucht sich weiter im Schattenboxen: Ihr Vorschlag etwa, Schadstoffbelastung durch die Anhebung der zulässigen Grenzwerte zu bekämpfen, ist ein Irrwitz.

Leise summet der Stau

Manch einer setzt seine Hoffnungen in die Elektromobilität. Nur: Wie wird uns die im täglichen Stau helfen? Leise summend wird er sein, der Stau, leiser noch als das Radio, das uns die Staumeldungen übermittelt. Oder man räumt einen „Nulltarif“ im ÖPNV ein und suggeriert die abstruse Hoffnung, dass man damit in ausgewählten Städten der „Dieselbedrohung“ Herr werden könne. In einigen Politikerohren klingt das sicherlich verheißungsvoll. Es ist aber auch nur ein schwaches Pflänzchen, das nicht überleben kann, weil es den Hebel am falschen Punkt ansetzt.

Wir wissen, Politik denkt vor allem kurzfristig, sie reagiert, anstatt zu versuchen, die Ursachen herauszufinden. Denn zu fragen wäre: Wo entstehen die Verkehrsbelastungen, die die Städte „bedrohen“? Die Antwort ist einfach: Immer dort, wo Menschen ihr Recht auf Mobilität wahrnehmen wollen und müssen.

Die jüngsten Zahlen des Statistischen Bundesamtes zeigen, dass beinahe zwei Drittel der Bevölkerung in gering oder mitteldicht besiedelten Regionen leben. Es ist diesen Menschen nicht vorzuwerfen, dass sie ihr Auto benutzen, wenn nichts anderes vorhanden ist, um zur Arbeit oder zum Einkaufen zu gelangen.

Der Verkehrsdruck, der auf den Städten lastet, kommt hingegen hauptsächlich aus dem Umland, aus der Peripherie, dem „Speckgürtel“. Für Verkehrsplaner ist folgende Faustregel hilfreich: Binnenverkehre sind mit 40 Prozent zu gewichten, Quell-Ziel-Verkehre mit 50 Prozent, Durchgangsverkehre mit zehn. Die Quell-Ziel-Verkehre entstehen im ländlichen Raum, es sind Verkehre von Ein- und Auspendlern, das heißt Menschen, die Einkaufs- und Kulturangebote wahrnehmen wollen, die es im ländlichen Raum nicht mehr gibt. Nicht nur Großstädte, auch Klein- und Mittelstädte leiden unter dem Druck. Durchschnittlich stehen etwa 70 Prozent Einpendlern etwa 30 Prozent Auspendler gegenüber.

Folglich muss für die oft zitierte Verkehrswende dort angesetzt werden, wo der ÖPNV ein Schattendasein fristet. Also nicht in ausgewählten Städten, sondern eher im ausgewählten Umland einschließlich der Städte. Die räumlichen, siedlungsstrukturellen, ökologischen und gesundheitlichen Auswirkungen, die durch die Pkw-Zunahmen entstehen, sind vielfältig belegt. Doch sieht sich die „öffentliche Hand“ aus angeblich finanziellen Gründen immer weniger in der Lage, eine so starke infrastrukturelle wie organisationale Unterstützung für den ÖPNV zu leisten, damit konkurrenzfähige, attraktive und flächendeckende Systeme auf allen Maßstabsebenen entstehen können.

Die Selbstverpflichtung in den Nahverkehrsgesetzen der Länder zur „Daseinsvorsorge“ beziehungsweise für eine „ausreichende Bedienung“ der Bevölkerung mit Verkehrsleistung stellt eine „freiwillige“, am jeweiligen Budget („Wirtschaftlichkeit“) und der spezifischen ÖPNV-Tradition und -Priorität orientierte Aufgabe dar. Hier bräuchte es ein politisches Umdenken. Anstatt ein paar Städte mit etwas mehr Geld zu versorgen, gälte es, den ÖPNV auf eine rechtssichere, verbindliche Grundlage zu stellen. Sonst bleibt es dabei, dass Kommunen und Gebietskörperschaften nur unabdingbare „Notwendigkeiten“ in der ÖPNV-Bereitstellung, insbesondere in der Fläche, ableiten. Ein erster Schritt wäre es, mit den Kosten des ÖPNV ehrlich umzugehen und nicht gleich aufzuschreien, wenn der Kostendeckungsgrad bei circa 70 Prozent liegt, also der ÖPNV 70 Prozent seiner Kosten selber aufbringt und 30 Prozent bezuschusst werden müssen. Das springt den Haushältern gleich ins Gesicht, weil es in einem einzigen Haushaltsposten zusammengefasst ist. Dagegen steht der Kostendeckungsgrad des Pkw-Verkehrs, der jeden Rechnungshof zur Weißglut treiben müsste. Er bewegt sich zwischen 16 Prozent und 45 Prozent, wie eine Studie des Verbands Local Governments for Sustainability 2005 herausgefunden hat. Das fällt nicht weiter auf, weil die Kosten des Pkw-Verkehrs, die die Steuerzahler, darunter auch Nicht-Autofahrer, auf sich nehmen müssen, in vielen verschiedenen Haushaltstiteln „versteckt“ sind. Dabei besteht ein deutlicher Zusammenhang zwischen dem niedrigen Kostendeckungsgrad des Pkw-Verkehrs und einem geringen städtischen ÖPNV-Angebot. Würden Autofahrer auch nur annähernd kostendeckend zur Kasse gebeten, wäre die Finanzierung des ÖPNV gesichert.

Eine Verkehrswende ist notwendig. Nicht nur aus ökologisch-politischen Gründen, um endlich die Klimaziele zu erreichen. Es ist genauso eine sozialpolitische, eine demokratische Frage. Denn es ist die Erfahrung der eigenen Benachteiligung, das „Abgehängtsein“ im ländlichen Raum, das jenes „persönliche Entwertungsgefühl“ entstehen lässt, das den Rechtspopulisten den Weg öffnet. Johannes Hilljes Populismusstudie zeigt, dass in den Antworten auf Fragen nach dem eigenen Alltag im ländlichen Raum die mangelnde Verkehrsinfrastruktur an erster Stelle steht (der Freitag 18/2018). Somit diente eine Verkehrswende nicht nur besserer Mobilität, sondern auch der Stabilisierung unseres Gemeinwesens.

Karl-Georg Schroll ist Sozial- und Verkehrswissenschaftler. 2018 erschien sein Buch ÖPNV – Marktchancen und Konzepte für den ländlichen Raum

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