Salopp und ohne Bodyguard

Festival-Sommer in der Provence Eindrücke und Einzelheiten aus Aix-en-Provence und Avignon

Der Kulturwirtschaft scheint es in Frankreichs Süden weit besser zu gehen als der Landwirtschaft - 189 Seiten Kleingedrucktes umfasst der provenzalische Festivalkalender in diesem Sommer. Die Kultur wird nicht mehr an ein paar Festivals delegiert, sondern jedes Örtchen hat sein Festival. Und selbst Marseille hält da neuerdings mit.
Die Ausnahmestellung haben freilich nach wie vor Avignon und Aix. Avignon hat sich für die drei Wochen zwischen dem 5. und dem 27. Juli wieder in einen Theaterjahrmarkt verwandelt, der auf der Welt seinesgleichen wohl nicht hat. 38 Inszenierungen im offiziellen Programm, mehr als 400 im "off", ungezählte im off des "off", manchmal vor 10 Personen in irgendeinem Klassenzimmer oder improvisierten Zelt. Man kann, wenn man es denn aushält, fünf Inszenierungen pro Tag sehen; gute, aber auch absurd misslungene. Während der Pause auf der Caféterrasse kommen dann die Feuerschlucker und andere Musikanten. Unvermeidlich. Im offiziellen Programm waren deutsche Autoren stark vertreten: Mein Kampf von Tabori, Medea-Material von Müller, ein Lehrstück-Abend mit Die Maßnahme und Mauser vor einem Publikum, das sichtbar nicht so recht wusste, was es mit dieser in einem anderen Weltzeitalter - so fern so nah - angesiedelten Problematik denn anfangen sollte, ein schlecht inszenierter, schlecht übersetzter und schlecht gespielter Minetti von Thomas Bernhard, eine Musil-Baustelle, die den Zweifel nicht ausräumen konnte, ob denn Musil wirklich ein Theaterautor ist, sowie Der Narr und seine Frau heute Abend in Pancomedia von Botho Strauss, ein Stück, dem auch die französische Inszenierung nicht verleihen konnte, was dem Text je schon fehlt. Herausragend das Tanzstück noBody, inszeniert von Sasha Waltz für die gigantische Hauptspielstätte im Innenhof des Papstpalastes. Sie eignet sich für Tanztheater mehr als fürs Schauspiel, aber die Aufnahme von Waltz´ perfekt kalkulierter und technisch sehr elaborierter Inszenierung blieb eher gemischt. Das französische Publikum liebt seit zwanzig Jahren das poetische Ballet der Pina Bausch, findet aber das Körpertheater von Sasha Waltz oder dem (nicht vertretenen) Forsythe eher seelenlos. Eben.
Hauptlinien auszumachen, fällt auch denen schwer, die drei Wochen ausgeharrt haben. Die Vielfalt ist zu groß und die Zeit nicht danach. Deshalb bleiben eher Einzelheiten im Gedächtnis: eine vorzügliche, wundersame Inszenierung von Maurice Maeterlincks Die Blinden; eine polnische Inszenierung von Sarah Kane oder die Stücke von Rodrigo Gracia, der gleich dreifach im offiziellen Programm vertreten war. Und das Gefühl, dass das Neue hier, wo alle darauf warten, nur noch selten passiert.
Opernfestivals funktionieren anders, schon weil die Produktionskosten viel höher sind, das Publikum begrenzter, die Planung langfristiger. Das Festival in Aix hat seit vier Jahren unter der Direktion von Stephan Lissner stetig an Dynamik gewonnen. Solche Festivals sind allemal Eiertänze zwischen den Repräsentationsbedürfnissen des wohlhabenden Publikums auf den Rängen für 180 Euro und der Notwendigkeit ästhetischer Innovation, ohne die ein Festival allmählich den Ruf verliert, der solches Publikum anzieht und das andere erst recht. Lissner gelingt dieser Eiertanz ziemlich virtuos: Das Festival finanziert sich zu über 70 Prozent aus eigenen Mitteln; bei den Premieren im intimen Hof des Bischofspalastes sind sowohl die ehemaligen Minister als auch die neuen zu sehen, dazu ein paar Fernsehstars, Herr Schweitzer von Renault und Herr Breuer von der Deutschen Bank ganz salopp und ohne Bodygard. Man hat aber auch auf durchaus ordentlichen Plätzen für 22 Euro schon das Vergnügen, so dass der Anteil der studentischen Zuschauer gegenüber dem letzten Jahr auf das Doppelte gestiegen ist.
Auf dem Programm: Eugen Onegin von Pjotr Tschaikowski und Le Balcon nach einem Text von Jean Genet vertont von Peter Eötvös im Bischofspalast, Janác?eks Schlaues Füchslein, eine Mozart-Montage von Franz Wittenbrink auf den Text von Shakespeares Sommernachtstraum sowie die Wiederaufnahmen von Peter Brooks Don Giovanni-Inszenierung und Adrian Nobles großartige Monteverdi-Oper über die Heimkehr des Odysseus aus dem Festival-Jahrgang 2000. Gab es in den letzten Jahren noch richtig konventionelle Kostümoper-Inszenierungen, so war in diesem Jahr der Regiestil generell eher reduziert, abstrakt, allem Naturalismus fern. Wilsons Licht, Brooks gestischer Reduktionismus überall. Das ist zunächst einmal wohltuend. Tschaikowskys Oper kann mit russischer Volkstanzfolklore nur unerträglich wirken. Aber manches kommt dadurch auch zu glatt, zu schön daher. Kostüme von Myake und von Vuitton, Bühnenbilder von kalter Schönheit - Modernes, wie es eben noch so gefällt. So war die Onegin-Inszenierung von Irina Brook auch in der psychologischen Fundierung der Figuren gehalten, wenn sie sich nicht, wie die großartige Tatjana (Olga Guryakova) souverän darüber hinwegsangen. Und so war übrigens auch das einzige Schauspiel des Festivals, Peter Brooks französische Inszenierung des Hamlet. Ein schöner, sehr einfacher Rahmen, intelligent genutzt; ein schöner, schwarzer Hamlet - aber das Grübeln, die Getriebenheit nahm man ihm nicht ab, der Text war banalisiert und die Schauspieler zur guten Hälfte dilettantisch. Vereinfachung kann auch eine Falle sein.
Das interessanteste Ereignis war zweifellos die Uraufführung von Le Balcon, Eötvös´ Vertonung nach Genet. Das Libretto hält eine Mehrdeutigkeit durch, die man in der Oper selten sieht: Wenn man will, kann man die Geschichte, die in einem Bordell spielt, als gescheiterten Aufstand gegen Klerus, Militär, Justiz und Polizei sehen, die allegorisch auf der Bühne vertreten sind und von der Regie des jungen Stanislas Nordey überaus geschickt geleitet werden. Man kann sie aber auch lesen, muss sie auch lesen als Geschichte männlicher Phantasien von ideologischer, realer und revolutionärer Macht, gegen Bezahlung realisiert im Puff. Brecht - schwebend statt allwissend. Dazu eine Musik, die die Sänger zwar kaum ins Singen kommen lässt, sich aber auch nicht gegenüber dem Geschehen verselbständigt. Die Kritik war sich uneins und kein Minister im Publikum. Gut so. Möge sie touren, diese Oper.

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