Theaterbesuch ist besser als Sonnenbaden

Theater in Avignon, Oper in Aix Die popularisierte Umsetzung der ästhetischen Erziehung des Menschengeschlechts im provenzalischen Festivalsommer

Avignon im Winter, das kann eine unwirtliche, von der Geschichte erdrückte, vom Mistral leergefegte Stadt sein. Roland Barthes hat es 1954 in einem kleinen Text beschrieben. Avignon im Juli 2001 hingegen - von so etwas muss Hilmar Hoffmann geträumt haben, als er »Kultur für alle« zum Programmwort wählte. Man tritt aus dem Bahnhof, von provenzalischer Wärme empfangen, geht ein paar Schritte an mittelalterlichen Festungswällen entlang, tritt unters grüne Platanendach der Hauptstraße und ist mitten im Zirkus, im Karneval. Im Festival.

Auf den paar hundert Metern sanft hinauf zum Vorplatz des mächtigen, für den Rest des Jahres viel zu mächtigen Papstpalastes trifft man auf Gaukler, Feuerschlucker, Entfesselungskünstler, stehen bewegungslos lebendige Statuen, spielen Pantomimen mit dem Publikum, verzaubern Clowns kleine Kinder, schlafen junge Schauspielerinnen mitten auf der Straße in ihrem Bett, um so die Aufmerksamkeit auf die Abendvorstellung ihrer Truppe zu lenken, spielen ernste Mädchen mit freien Bäuchen filigran Mozart, lärmen Dixibands, werden Tatoos aufgepaust und Schicksale aus Karten gelesen. Man kann nirgendwo im Straßencafé sitzen, ohne von ambulanten Schauspieler-Gruppen mehr oder minder kunstvoll aufgefordert zu werden, alsbald ihre Vorstellung zu besuchen. Handzettel, Programmzettel, Plakate, Sonderausgaben aller großen französischen Zeitungen und Zeitschriften; hier ein Minister ganz ohne Bodyguard, dort ein anderes Gesicht, das man irgendwie aus dem Fernsehen kennt.

Die größte Spielstätte, der Ehrenhof des Papstpalastes, fasst 2.200 Zuschauer. Alle Vorstellungen waren dort schon Wochen vorher ausverkauft. Dabei hat Jean Vilar, der Gründer des Festivals, bereits 1947 bei der ersten Inspektion dieses Hofes gesehen, dass dies ein Un-Ort des Theaters ist: zu groß, zu sehr befrachtet mit Geschichte, die Stimmen der Schauspieler hallen nach, wenn sie nicht vom Mistral davongetragen oder gar, wie in diesem Jahr in einer der ersten Vorstellungen, vom Donner übertönt und vom Platzregen weggeschwemmt werden. Und dennoch waren sie alle hier, die großen Schauspieler und Regisseure der letzten fünfzig Jahre. Nicht nur die französischen.

Und es wird auch noch an 23 anderen Orten gespielt: Gymnasien, Turnhallen, Kinos, sogar Steinbrüche - wie gesagt, ganz Avignon wird zum Spielort. Die Straße und das Theater gehen ineinander über. Das offizielle Programm bestand dieses Jahr aus 41 Stücken, Lesungen und Konzerte nicht mitgezählt, im »off«-Programm waren es 669 (!) verschiedene Vorführungen, davon 134 nach Vorlagen lebender Autoren aus allen Erdteilen, dargestellt von 551 Gruppen. Und sie finden alle ihr Publikum. Fast 150.000 Karten wurden für das offizielle Programm verkauft, 550.000 für das »off«-Theater. Neben Großinszenierungen findet Avantgardistisches, Bizarres, Verstiegenes, Provozierendes, auch Nichtssagendes irgendwo seinen Platz und trommelt, um gehört zu werden, möglichst auch von den rund 500 akkreditierten Journalisten.

Kritiker, Theaterprofis, bildungsbeflissene Studienräte, Nobeltouristen aus dem nahen Luberon, Rucksacktouristen, Neugierige von den nahen Campingplätzen, Bettler mit Hund - alle strömen herbei. Etwa 40% der Gäste sollen aus dem französischen Süden sein, 23% aus Paris, 26% aus anderen französischen Regionen, 11% aus dem Ausland. Wer es wie gezählt haben will, kann man sich nicht vorstellen.

All das bewirkt eine bunte Unübersichtlichkeit, auch bei der Programmgestaltung. Keine großen Manifeste, keine dominierenden Denkrichtungen, nichts Zwingendes. Kaum sind Tendenzen auszumachen, mit Ausnahme vielleicht der Tatsache, dass der Tanz, von dem in den letzten Jahren die stärksten Erneuerungsimpulse des Theaters ausgegangen sind, nun auch in Avignon stärker vertreten war, ebenso wie die Theaterleute aus dem europäischen Osten (zum Beispiel durch einen vorzüglichen polnischen Hamlet).

Die »deutschen« Beiträge? Eine gelungene französische Erstaufführung von Heiner Müllers Titus Andronicus-Bearbeitung durch eine Truppe unter Leitung von Philippe Vincent sowie (in deutscher Sprache) die Schaubühnen-Inszenierung von Büchners Danton Tod durch Thomas Ostermeier. Titus, Shakespeares Stück über das Verhältnis von Römern und Goten beim Fall von Rom, ist bekanntlich eine sehr blutige Angelegenheit. Ostermeier hat an Büchners Stück weniger die Ideenkonfrontation zwischen Robespierres Fortschrittstugend und Dantons skeptischem Hedonismus interessiert, als der zweite Teil des Dramas mit dem Kampf der Dantonisten um ihr schieres Leben und ihrer schließlichen Hinrichtung durch eine riesige Guillotine. Das Blut fließt eimerweise.

Es gibt noch eine weitere Gemeinsamkeit zwischen den beiden so verschiedenen Inszenierungen: Sie versuchen die Geschlechterrollen szenisch in Frage zu stellen. Ostermeier besetzt Julie, die bis in den Tod treue Frau Dantons, mit einer muskulösen Tunte und die Rolle des Camille mit einer (überforderten) Frau. Vincent lässt alle Römer von Frauen spielen, alle Goten von Männern. Mord und Totschlag setzt auch das kein Ende.

Ich müsste mehr von den 710 Aufführungen des Festivals gesehen haben, um behaupten zu können, was sich mir immerhin als Vermutung aufdrängt: Es scheint einen inneren Zusammenhang zu geben zwischen der unüberschaubaren Vielfalt des Gebotenen und dem szenischen Rückgriff auf Elementares wie die Geschlechterverhältnisse oder, mehr noch, das Blut. Denn »Kultur für alle« bereitet wie alle »Phrasen, wenn sie verkörpert werden« (Danton) ein unabweisbares Unbehagen. Wie »light« muss Theater sein - oder zumindest seine Rezeption - damit man drei bis vier Aufführungen am Tag verdauen kann? Wo ist der Unterschied zwischen den Lehrern, die von Inszenierung zu Inszenierung hetzen, um ihre Pauschalkarte zu »rentabilisieren« und deren geschmähten Schülern, die zwischen Fernsehprogrammen zappen? Sollte man wirklich allen etwas geben? Aber wie nah liegt dieses »Alles« beim »Nichts«? Nie war die Utopie Goethes und Schillers von der ästhetischen Erziehung des Menschengeschlechts ihrer popularisierten Umsetzung so nahe wie im provenzalischen Festivalsommer. Schließlich gibt es nicht nur Avignon, sondern viele Dutzende von kleineren Festivals - hinter jedem Lavendelfeld lauert schon ein Geiger. Nur ist der Ästhetik die Hoffnung, die Utopie, ja sogar die Anstrengung abhanden gekommen. Nicht nur Robespierre, nicht nur der Terror hat abgedankt, sondern auch seine deutsche Alternative, die Bildungsutopie. Theaterbesuch ist besser für die Haut als Sonnenbaden - mehr lässt sich gesichert über die Wirkung des »Kultur für alle« nicht sagen.

Eine Ahnung von etwas Anderem, Neuem, ja auch etwas Einmaligen hat auf dem Festival von Avignon vor allem eine Inszenierung geweckt - oder wach gehalten: Jan Fabres Ich bin Blut (Mittelalterliches Märchen). Der Grundeinfall, die Utopie vielleicht, ist die Vorstellung, den Körper von aller Festigkeit, von aller Erstarrung in überlieferten Ikonen zu befreien, ihm Freiheit, Neugeburt zu ermöglichen, ihn ganz Blut werden zu lassen. Tanz, Spiel, Musik, Pantomime mischen sich, Mystik und Karneval durchdringen sich, Ekliges und Schönes fließen blutig ineinander, Breughel und Hildegard von Bingen halten Messe ohne Papst und ohne Liturgie. Provokation wurde erwartet, blutiger Schock. Aber was kann nach dem 20. Jahrhundert noch blutig schockieren? Es wurde keine Provokation - aber eine nachhaltige Erinnerung daran, dass Kunst in ihren besten Momenten etwas anderes sein kann als ein gefälliges Ferienerlebnis.


Das Musikfestival in Aix, das renommierteste in Frankreich, versucht, sich durch ein relativ preiswertes Konzertprogramm einem jungen Publikum zu öffnen, aber die Oper bleibt doch eine teure Angelegenheit - man muss das Fünffache einer Karte in Avignon rechnen. Trotzdem hält sich der Jahrmarkt der noblen Eitelkeiten im Vergleich zu Salzburg oder Bayreuth in Grenzen. Stéphan Lissner hat seit vier Jahren dem Festival neue Impulse gegeben und auch in diesem Juli ein spannendes Programm vorgelegt: In der Hauptspielstätte, dem im Vergleich zu Avignon intimen Innenhof des ehemaligen Bischofspalastes, wurde ein Falstaff (Inszenierung Wernicke) gegeben, ein Figaro und eine Zauberflöte (Braunschweig). Von der Zauberflöte abgesehen, waren die Inszenierungen eher gefällig als einfällig, und den Protagonisten, vor allem eine wunderbare Susanna im Figaro nicht gerechnet, fehlte es bisweilen an Stimme. Reiche Entschädigung dafür bot Luc Bondys Inszenierung von Brittens Kammeroper The Turn of the Screw. Diese Opernadaptation der Gespensternovelle von Henry James scheint am Anfang klar und eindeutig das Kindlich-Unschuldige vom Verführerisch-Lasterhaften der Gespenster zu scheiden und führt dann doch zutiefst hinein in unentrinnbare Ambivalenzen, in einen unheimlich saugenden Mahlstrom aus Musik, Szene und Handlung, der schrecklich ist und dem man doch ein Ende nicht wünscht. Das dann kommt, wie immer, und doch keine Erlösung ist.

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