Der Super-GAU der Schulkarriere

Soziale Auslese In der Hauptschule versammeln sich die Kinder von Eltern mit niedrigem Bildungsstand. Ohne berufliche Perspektive können sie dort nur das Verlieren lernen

Warum kommt man zur Hauptschule? "Weil wir dumme Schüler sind." "Weil wir in der Grundschule nicht so gut waren" antworten Jungen und Mädchen aus dem sechsten Schuljahr einer Kölner Hauptschule. Sofort entspinnt sich eine Diskussion: Sind wir wirklich dumm? Oder halten uns nur die anderen dafür? Sind Gymnasiasten arrogant? Sind wir vielleicht faul? Irgendwie müssen sich die 12- 13-Jährigen damit auseinandersetzen, dass sie zu den Verlierern gehören, die beim Selektionsprozess nach dem vierten Schuljahr (in einigen Bundesländern nach dem sechsten) ausgesiebt wurden.

Niemand geht freiwillig zur Hauptschule, warum auch? "Die einzigen, die wirklich die Hauptschule wünschen, sind diejenigen, deren Kinder diese Schule nie besuchen werden und die froh sind, dass es da eine Einrichtung gibt, in die man die Kinder abschieben kann, meint Ernst Rösner, Schulforscher an der Universität Dortmund. Also die Verfechter des Gymnasiums, die Eltern, die ihre Kinder nicht mit Krethi und Plethi in dieselbe Schule stecken wollen. Und Gymnasiallehrer, die Kinder los werden wollen, die sie für ihren guten Unterricht für zu dumm halten.

In den fünfziger Jahren, als es noch die Volksschuloberstufe gab, besuchten rund 80 Prozent eines Altersjahrgangs diese Schule für das einfache Volk. Als es dann in den sechziger Jahren immer weniger wurden, sollte die Volksschule aufgewertet werden. Sie hieß nun Hauptschule und wurde als "weiterführende Schule" etikettiert. Das Ergebnis: Heute besuchen nur noch 22 Prozent im Bundesdurchschnitt diese Schulform. In den Stadtstaaten sind es kaum zehn Prozent, in Bayern waren es bisher fast 40 - eine Vorzeigehauptschule, die nicht nur die Reste aufsammelte. Bisher waren dort Haupt- und Realschüler bis zum achten Schuljahr zusammen. Doch nun hat CSU-Schulministerin Monika Hohlmeier - gegen ein Volksbegehren - die Trennung von Haupt- und Realschule ab dem fünften Schuljahr eingeführt, mit der unmittelbaren Folge, dass auch dort die Hauptschule nur noch die Bildungsverlierer aufsammelt.

Es kommen diejenigen, die eine andere Schule nicht genommen hat. "Was früher das katholische Mädchen vom Lande war, ist heute der Großstadt-Junge aus einer Patchworkfamilie mit Migrationshintergrund", meint Dietmar Bronder, Vorsitzender des Arbeitskreises Hauptschulen, der eigentlich für die Verbreitung dieses Bildungsgangs sorgen soll. Er leitet eine Hauptschule in einem sozialen Brennpunkt in Duisburg. In seinen Augen ist der "Schulversuch Hauptschule grandios gescheitert". Gescheitert allein schon deshalb, weil bei uns Jahr für Jahr 80.000 bis 100.000 Schülerinnen und Schüler die Hauptschule ohne jeden Abschluss verlassen.

Grundschullehrer und -lehrerinnen empfehlen Eltern, deren Kinder bereits in der Grundschule zu den Verlierern zählten, ihr Kind auf die Hauptschule zu schicken. Der Berliner Erziehungswissenschaftler Rainer Lehmann hat die Leistungsfähigkeit sämtlicher Fünftklässler in Hamburg getestet und seine Testergebnisse mit den Schulempfehlungen der Grundschullehrerinnen verglichen. Er hat festgestellt: Kinder von Müttern mit Abitur haben im Vergleich zu Kindern, deren Mütter keinen Schulabschluss haben, eine sechseinhalbmal so große Chance, für das Gymnasium empfohlen zu werden. Das Kind einer Mutter ohne Schulabschluss muss erheblich überdurchschnittliche Leistungen aufweisen, um eine Gymnasialempfehlung zu bekommen, während einem Kind, dessen Mutter Abitur hat, auch noch mit unterdurchschnittlichen Testleistungen der Besuch eines Gymnasiums empfohlen wird. Das Akademikerkind wird schon zuhause den richtigen Habitus entwickeln und die nötige Unterstützung bekommen, sagen sich die Grundschullehrerinnen, und sie haben nicht einmal unrecht. Unser Schulsystem sei durchlässig, behaupten die Verteidiger der Selektion. Durchlässig ist das System aber praktisch nur in einer Richtung: Nach unten.

"Wir können nichts", haben die Schüler im fünften Schuljahr einer Hauptschule in Bergisch Gladbach ihrer neuen Klassenlehrerin Inken Waltz gesagt, als sie einmal aufschreiben sollten, was sie denn gut können. Ihnen fiel nichts ein, und als Inken Waltz ihnen sagte, sie als Lehrerin wüsste doch, was sie könnten, antworteten sie: "Das sagen Sie nur, damit wir uns nicht so schlecht fühlen." Die Hauptschule ist die letzte Station des Abstiegs, der Super-GAU der Schulkarriere, eine Kränkung und Verletzung für die Kinder.

Ja, was können sie? Kinder, die keinen Satz aufschreiben und keinen Absatz lesen können, schreiben blind unter der Bank eine SMS. Die 12-jährige Amila spricht akzentfrei Deutsch und redet viel, wenn man sich mit ihr unterhält. Sie kann ebenso gut Italienisch und Türkisch, weil ihre Eltern aus diesen Ländern kommen. Sprechen zumindest. Beim Schreiben merkt man, dass sie die Schriftsprache nicht beherrscht. Sie wäscht ihre Wäsche selbst, weil sie bei ihrer Mutter immer verfärbt, wie sie sagt. Andere müssen ihre Geschwister morgens in den Kindergarten bringen, sie müssen selbst dafür sorgen, dass sie alle Schulsachen dabei haben - Dinge, auf die in gut funktionierenden Mittelschichtfamilien die Eltern achten. Diese Kompetenzen, diese Selbstständigkeit wird in der Schule nicht honoriert, meint Inken Waltz. "Es sind misserfolgsorientierte Kinder. Sie haben gelernt, dass nur das Negative Beachtung findet."

Petra Funke unterrichtet eine Abschlussklasse an einer Hauptschule in Köln. Sie hat mit ihren Schülern den Kinderkreuzzug von Bertold Brecht gelesen. Sie haben dazu Wandzeitungen erstellt, sich mit der Lebensgeschichte Brechts, der Situation polnischer Kinder im Zweiten Weltkrieg beschäftigt. Sie haben ihre eigenen Anti-Kriegsgedichte geschrieben. Petra Funke entschuldigt sich - an einer Hauptschule, da müsse man eben anders arbeiten als an einem Gymnasium. In der Tat, da würden sich Lehrer und Schüler kaum diese Mühe machen, am Ende ein wirklich vorzeigbares Produkt herzustellen. Die Jugendlichen sind stolz. Aber Petra Funke ist sauer: Sie wollte die Wandzeitung auf dem Flur ihrer Schule aufhängen. Kommt nicht in Frage, meinte ihr Schulleiter. Der sei doch gerade frisch gestrichen.

Entgegen dem verbreiteten Horrorbild sind Hauptschüler in der Regel nicht die lernunwilligen oder gar -unfähigen und aggressiven Dumpfbacken. Viele kommen ausgesprochen gern zur Schule, richtig motiviert lernen sie auch gern. Hier werden Lehrer noch geliebt, weil sie oft die einzigen funktionierenden Bezugspersonen sind. Doch die Schüler und Lehrer können sich noch so abmühen - letztendlich zählt, was die Absolventen mit dem Abschluss anfangen können. Und das ist immer weniger. Dieser Abschluss ist keine Berechtigung mehr, sondern ein Stigma. Die Lehrstellenbilanz gibt die Katastrophe nur unzureichend wieder. Tatsächlich bekommt nur noch eine kleine Minderheit der Hauptschulabgänger einen betrieblichen Ausbildungsplatz.

Zu Beginn des letzten Schulhalbjahres wurden alle 3.500 Haupt-, Real- und Gesamt-schüler in Köln, die im zehnten Schuljahr vor ihrem Schulabschluss standen, nach ihrer Perspektive befragt. Von ihnen hatten ganze 5,3 Prozent einen Ausbildungsvertrag. Im Jahr davor waren es zum gleichen Zeitpunkt mehr als doppelt so viele. Dabei wird spätestens ab dem achten Schuljahr auf den Ernstfall Lehrstellensuche und Bewerbung hin gearbeitet. Dreiwöchige Betriebspraktika und Langzeitpraktika, bei denen die Schülerinnen und Schüler über mehrere Monate einen Tag in der Woche in die Betriebe gehen, Bewerbungstrainings, Assessment-Wochenenden und Fähigkeiten-Tage werden durchgeführt. Es kommt der Berufsberater von der Arbeitsagentur, es gibt eine Berufswahl-Koordinatorin im Kollegium.

Inka Schreinermacher ist frustriert. Sie ist Berufswahlkoordinatorin an einer Kölner Hauptschule: "Wir verwalten einen Missstand. Auf der einen Seite müssen wir die Kinder motivieren, dass sie sich bewerben. Auf der anderen Seite erfahren die Kinder dann immer wieder Frustrationen, und das führt dann irgendwann dazu, dass sie aufhören, an Bewerbungen zu arbeiten." Mittlerweile ist der Markt für typische Hauptschülerberufe wie Maler-Lackierer, Friseurin oder Verkäufer von Realschülern belegt. Weiter zur Schule gehen - das ist für viele nur eine Notlösung, eine Warteschleife.

Hauptschüler beenden ihre Schulzeit, wie sie sie begonnen haben: als Verlierer. Aus vielen aufgeweckten und lernbegierigen Kindern werden frustrierte Schulverweigerer, wenn sie nur mit anderen zusammen sind, die sich abgewertet fühlen und im Laufe der Jahre noch die abgewiesenen Gymnasiasten und Realschüler dazu kommen. "Kinder müssen länger zusammen lernen", meint Dietmar Bronder vom Arbeitskreis Hauptschule. "Das soziale Lernen wird wesentlich durch die Peer-Group bestimmt. Und das ist auch einer der Gründe dafür, dass Verliererkinder, zusammengepfercht in einer einzigen Schule nur noch verlieren lernen können", erklärt Bronder. "Sie brauchen auch Gewinnertypen zum Anschauen und um von ihnen zu lernen."

Der Blick in die bei Pisa erfolgreicheren Länder zeigt, dass das Lernen in heterogenen Lerngruppen in jeder Hinsicht erfolgreicher ist. In Finnland etwa gehen nicht nur die Schulleistungen zwischen den schwächsten und den stärkeren Schülern weniger auseinander, es werden einfach viel weniger Jugendliche ohne Abschluss oder ohne Lese- und Schreibfähigkeiten aus der Schule entlassen. Bei uns schlagen immer mehr Bundesländer den Weg zu einem zweigliedrigen Schulsystem ein: Eine wie auch immer benannte Sekundarschule, die sowohl die mittlere Reife als auch den Hauptschulabschluss vergibt, existiert neben dem deutschen Gymnasium. Dahinter stehen nicht pädagogische Überlegungen, sondern finanzielle. Angesichts des Geburtenrückgangs lassen sich nicht mehr drei verschiedene Schulformen in für die Kinder erreichbarer Nähe anbieten. Bisher hat man nicht gewagt, das heilige deutsche Gymnasium in die Reformdebatte einzubeziehen. Auch das neue schleswig-holsteinische Modell der "Gemeinschaftsschule" lässt die Möglichkeit offen, neben einer Sekundarschule aus Haupt- und Realschule das Gymnasium unangetastet zu lassen.

Die Diskussion um die Schulstruktur ist bei uns belastet durch das Scheitern des Versuchs, Gesamtschulen einzuführen. Dadurch, dass sie als vierte Schulform zusätzlich zu den drei bestehenden allgemeinbildenden Schulen eingerichtet wurden, hat sich der sogenannte negative Creaming-Effekt noch verstärkt, das heißt, es bleiben noch weniger und noch schlechtere Schülerinnen und Schüler für die Hauptschule übrig.

Die Hauptschule, wie sie heute existiert, hat keine Zukunft mehr und sie verbaut Jugendlichen ihre Zukunft. Sie gehört abgeschafft. Wir brauchen eine Hauptschule für alle: eine Schule, die Raum lässt für individualisierten Unterricht, für das voneinander Lernen, in der die positiven Vorbilder dominieren und die allen Kindern nach oben offene Perspektiven bietet. Wir brauchen eine Schule, die Kinder nicht entmutigt und kränkt, sondern ihre Fähigkeiten herausfordert.


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