In der Kita »Schalthaus Balsen« in der Essener ehemaligen Zeche Zollverein ist gerade das Thema Post dran. Briefkasten, Postkarten, Briefumschlag - nach zwanzig Minuten haben die vier kleinen Marokkaner und Türken keine Lust mehr, in dem Memory-Spiel die Paare herauszusuchen und Stefanie zu sagen, was das ist. Zweimal in der Woche zieht sich Stefanie Malter, eine Pädagogikstudentin, mit den Vierjährigen in einen kleinen Nebenraum zurück, um mit ihnen den Wortschatz zu trainieren.
Eine Tür weiter sitzen fünf Frauen zusammen, Mütter aus der Türkei. Meral Altendorf erklärt ihnen, wie sie den Kindern helfen könnten, sich die Wochentage einzuprägen. Sie hat ein paar Zeichnungen gemacht, die sie den Müttern mitgibt. Sie hat sel
ie hat selbst ein Kind hier, ist türkischer Herkunft wie die anderen, aber sie ist hier aufgewachsen und spricht mindestens so gut Deutsch wie Türkisch. Meral trifft sich jede Woche mit den Müttern und geht mit ihnen dieselben Themen auf Türkisch durch, die Stefanie und die Erzieherinnen mit den Kindern auf Deutsch besprechen. Meral ist »Stadtteilmutter«, sie bekommt Anleitung vom Büro für interkulturelle Arbeit - und ein Honorar. »Rucksackprogramm« nennt man in Rotterdam dieses parallele Arbeiten: die Kinder lernen im Kindergarten deutsch, die Mütter bekommen Hilfen, parallel dazu mit ihren Kindern in der Muttersprache zu reden, zu spielen und vorzulesen. Das Essener Büro für interkulturelle Arbeit hat dieses Modell aus den Niederlanden importiert.Mütter sind die wichtigsten Gesprächspartner für ihre Kinder. Ohne sie werden die Kinder nicht Deutsch lernen. Doch viele von ihnen sind »Heiratsmigrantinnen«, sie leben erst wenige Jahre hier, bewacht von der Familie ihres Mannes. Sie erwarten, dass ihren Kindern im Kindergarten Deutsch beigebracht wird.»Die Eltern müssen mit ihren Kindern zuhause Deutsch sprechen, das ist die Meinung vieler Erzieherinnen gewesen, und die Eltern meinen, die Erzieherinnen haben die Verantwortung, den Kindern Deutsch beizubringen. Wir haben durch das Projekt den Kreislauf der gegenseitigen Schuldzuweisung unterbrochen. Wir haben einen Weg gefunden, dass beide Parteien an einem Strang ziehen,«, meint Chati, die Libanesin, die die Stadtteilmütter betreut.Das Rucksackprogramm ist der erste Baustein des »Rahmenkonzepts Sprachförderung«, das der Essener Stadtrat im Mai vergangenen Jahres einstimmig beschlossen hat. Nicht erst die miserablen Pisa-Ergebnisse von Migrantenkindern hätten alle Ratsparteien in der Ruhrgebietsstadt auf dieses Problem gestoßen. Das gehöre zur Sicherung des Wirtschaftsstandorts, meint Oberbürgermeister Wolfgang Reiniger (CDU). Essen ist die erste deutsche Großstadt, die ein umfassendes Sprachförderprogramm mit 30 Einzelmaßnahmen verabschiedet hat.600.000 Euro kostet das Programm die Stadt. Damit kann man noch keine großen Sprünge machen. In 33 der 260 Essener Kindergärten sprechen über die Hälfte der Kinder eine nichtdeutsche Muttersprache. Das Geld reicht gerade, um in jedem Jahr zehn weitere Kitas in das Rucksackprogramm aufzunehmen.Danach geht es weiter in der Grundschule. Zwei Essener Schulen haben Vorbereitungsklassen für Kinder ohne ausreichende Deutschkenntnisse eingeführt. Nicht alle betroffenen Eltern wollen das. Ihr Kind ist dann nur mit anderen Türken zusammen, da lernt es auch nicht Deutsch, meinen sie. Und es muss ein Jahr länger zur Grundschule gehen.In der Grundschule am Wasserturm geht man einen anderen Weg. In der Klasse 1a werden die Kinder zweisprachig alphabetisiert. Hier sind über die Hälfte der Kinder türkische Muttersprachler. Nur fünf Prozent von ihnen konnten schon bei der Einschulung genug Deutsch, um dem Unterricht folgen zu können, schätzt Schulleiter Winfried Bega. In fünf Wochenstunden unterrichten der Klassenlehrer und der türkische Muttersprachenlehrer gemeinsam. Die Buchstaben werden mit einer deutsch-türkischen Anlauttabelle eingeführt. Kadir Akyazi, der Türkischlehrer, erklärt den Kindern in ihrer Muttersprache, was sie nicht verstanden haben.Am Ende des Schuljahres ist es noch ein Junge, dem Herr Akyazi auf Türkisch helfen muss. Herr Bega, der Klassenlehrer, lässt auch mal ein Kind auf Türkisch die Arbeitsanweisung vorlesen, dann übersetzt es ein deutsches Kind. Es kann nicht wirklich Türkisch, aber es lernt, wie eine andere Sprache funktioniert. Die türkischen Kinder haben zusätzlich drei Stunden Muttersprachenunterricht mit Herrn Akyazi. Da kommen dann die selben Themen und Buchstaben wie im regulären Klassenunterricht dran. Schließlich gibt es noch Förderstunden in Deutsch als Zweitsprache für alle, die sie brauchen. Statt der üblichen 19 Stunden stehen in dieser Klasse bis zu 25 Wochenstunden auf dem Programm.Bald jeden Monat lädt Herr Akyazi die türkischen Eltern abends in die Schule ein. Er spricht mit ihnen über die zweisprachige Alphabetisierung ebenso wie über den Fernsehkonsum, über Belohnen und Bestrafen oder türkische Bücher, die die Eltern mit ihren Kindern durchsehen könnten. »Wir sagen den Eltern, sie müssen mit ihren Kindern reden, in der Sprache, die sie besser beherrschen, egal, ob Türkisch oder Deutsch.« An acht Essener Grundschulen wird so gearbeitet. Auch das gehört zum Essener Sprachförderprogramm.»Die Zusammenarbeit mit den Eltern ist einfacher, die Kinder sind im Unterricht aktiver,« stellt Winfried Bega fest. Wissenschaftlich evaluiert ist dieses zweisprachige Alphabetisierungsprogramm noch nicht. Die Kollegen sind gespannt auf die Rückmeldungen von den weiterführenden Schulen, wenn sie im nächsten Jahr die ersten Kinder an sie abgeben, die so gefördert wurden.Unter Lernpsychologen und Linguisten ist immer noch umstritten, ob die gute Beherrschung der Muttersprache nun für den Zweitspracherwerb wichtig ist oder nicht. Das ist letztlich ein akademischer Streit. Das Anknüpfen an die Muttersprache entspringt nicht einer folkloristischen Multikulti-Euphorie, sondern damit nutzt man die Ressourcen, die die Eltern in den Entwicklungsprozess ihrer Kinder einbringen können.