Spekulationsobjekt Schule

Pisa E Das Bildungsranking der Bundesländer bietet zwar Fakten, aber Analyse und aussagekräftige Erklärungen stehen noch aus

Nein, wir Deutschen brauchen keinen Rat aus Finnland oder Kanada, und schon gar nicht von dem deutschen Besserwisser in Paris, dem Chef der Pisa-Studie bei der OECD, Andreas Schleicher, also von all jenen, die uns einreden wollen, unser selektives Schulsystem sei verantwortlich dafür, dass Deutschland bei Pisa miserabel da steht. Und wenn uns diese Anerkennung im internationalen Schulvergleich verwehrt wird, schön, dann vergleichen wir uns halt mit uns selbst, wie jetzt bei Pisa E. Belgien und Kanada zum Beispiel hatten auch die Besonderheiten der Regionen in ihren Ländern untersuchen lassen, aber im Rahmen der internationalen Pisa-Studie. Dieses Risiko wollten die deutschen Kultusminister nicht eingehen, und deshalb haben sie für diesen Ländervergleich ihr eigenes, innerdeutsches Pisa-Konsortium gebildet. Wir bescheinigen uns selber, dass das gute deutsche Gymnasium immer noch die beste aller Schulen ist.

Die überwältigende Mehrheit christdemokratischer Kultusminister hat auf die vorzeitige Veröffentlichung zumindest von Teilergebnissen des republik-internen Bildungsvergleichs gedrungen, obwohl die Pisa-Konsorten ihren Abschlussbericht erst zum 3. November fertig haben wollen. Angeblich wollte man die Pisa-Daten durch den vorgezogenen Veröffentlichungstermin aus dem Wahlkampf heraus halten. Naja.

Veröffentlicht wurden nun Rankinglisten für die von Pisa gemessenen Bereiche - Lesekompetenz, Naturwissenschaften, Mathematik und "Problemlösefähigkeit". Die Ergebnisse wurden für ganz Deutschland bereits mit der internationalen Pisa-Studie 2004 publiziert. Die nun vorgelegten Daten schlüsseln die Ergebnisse noch einmal nach Bundesländern auf - mehr aber auch nicht. Dafür fehlt etwa ein Vergleich auf der Ebene der Schulformen. Für die so beliebte Interpretation - Gesamtschule schlecht, Gymnasium gut, geben die Ergebnisse also erst mal nichts her. Die Verschiebungen auf der Rankingliste, die nun von den Kultusministern gefeiert werden, beruhen oft nur auf wenigen Punkten auf der Skala.

Dass Bayern im bundesdeutschen Leistungsvergleich ganz oben rangiert und Bremen ganz unten - damit war zu rechnen. Erklärungsbedürftig sind die Veränderungen, die es in dieser relativ kurzen Zeit gab. Für das euphorische Selbstlob aus dem Munde der versammelten Kultusminister geben sie jedenfalls keinen Anlass. Aus den Veränderungen gegenüber 2000 könne man noch keine Entwicklungslinien oder Trends extrapolieren, meinte der Chef des deutschen Pisa-Konsortiums, Manfred Prenzel.

Zwischen den Beschlüssen der Kultusminister im Jahr 2002, dass etwas geschehen müsse und der neuen Pisa-Erhebung 2003 lag nicht einmal ein Jahr. Ganztagsschule, Förderung im Vorschulbereich, mehr Aufmerksamkeit auf die Sprachentwicklung, schließlich Verbesserungen in der Lehrerbildung und die Einführung zentraler Bildungsstandards, all das war 2003 bestenfalls beschlossen, aber noch nichts davon realisiert. Dennoch soll es einen Fortschritt gegeben haben, der den Kultusministern so hörbare Erleichterung verschafft. An der Schulpolitik kann es nicht gelegen haben, woran also dann? Aus der empirischen Feldforschung weiß man: Ein Gegenstand verändert sich durch seine Beobachtung. Seit Bekanntwerden der ersten Pisa-Studie sehen Lehrer und Schüler etwas aufmerksamer auf das Lernen. Immerhin, damit ist schon etwas erreicht.

Statistisch aussagekräftige Leistungsverbesserungen gab es vor allem in der Mathematik. Die Debatte über schlechte Matheleistungen hatte allerdings schon 1997 eingesetzt, nachdem TIMSS, ein internationaler Vergleich des mathematisch-naturwissenschaftlichen Unterrichts, den deutschen Schulen schlechte Zeugnisse erteilt hatte. Es gab neue Lehrpläne und überzeugende Beispiele für problemorientierten Unterricht. Ganz anders sieht es aus mit der Förderung der Lesekompetenz. Da tut sich bisher kaum etwas. Dabei ist die Sprachentwicklung der Schlüssel, um den 30, 40 Prozent Migrantenkindern gleiche Entwicklungschancen in dieser Republik zu ermöglichen.

Die ökonomischen und sozialen Rahmenbedingungen beeinflussen den messbaren Bildungserfolg maßgeblich. Darauf hatten im Vorfeld der Pisa-Veröffentlichung die Essener Bildungsforscher Rainer Block und Klaus Klemm hingewiesen. Nicht erst seit Pisa wissen wir, dass es Kinder mit Migrationshintergrund besonders schwer haben. In den Stadtstaaten Bremen und Hamburg sind das 40 Prozent der Kinder, in den neuen Bundesländern dagegen nicht einmal fünf Prozent. Folglich finden sich Bremen und Hamburg unten in der Ranking-Skala, trotz des hohen Pro-Kopf-BIP in Hamburg. Auch zwischen den westdeutschen Flächenstaaten gibt es große Unterschiede: so sind in Schleswig-Holstein keine 15 Prozent der Kinder aus Migrantenfamilien, in Nordrhein-Westfalen hat dagegen ein Drittel aller Kinder mindestens ein ausländisches Elternteil. Würde man die Migrantenkinder herausrechnen, hätte sich die Rankingliste für Pisa 2000 bei den Lesekompetenzen ziemlich verändert. Dann wäre Nordrhein-Westfalen von Platz acht auf Platz drei vorgerückt.

Bayern ist das reichste Land mit dem höchsten Bruttoinlandsprodukt pro Kopf und der geringsten Staatsverschuldung. Hier gibt es weniger Arbeitslose und - immerhin - bekommen die Kinder bis zum neunten Schuljahr rund 800 Unterrichtsstunden mehr als in Nordrhein-Westfalen, das macht fast ein ganzes Schuljahr aus. Die Pisa-Ergebnisse seien nur eine - wenn auch schlechte - Widerspiegelung des gesellschaftlichen Reichtums, meint Pisa-Koordinator Andreas Schleicher bei der OECD. So sind die Unterschiede zwischen den Bundesländern nach wie vor so groß wie etwa zwischen Griechenland und Norwegen. Das Pisa-Ranking zeigt, wie sich die Lebensbedingungen in der Republik auseinander entwickeln - gegen das Grundgesetzgebot, wonach der Bund für deren Ausgleichung zu sorgen habe.

Aber es müssen noch andere Faktoren hinzukommen. Wie ist zu erklären, dass das nun wirklich arme Land Sachsen-Anhalt einige Punkte hat aufholen können und dass Sachsen im Bereich Naturwissenschaften den Platz zwei vor Baden-Württemberg einnimmt? Besonders erschreckend ist das schlechte Abschneiden von Nordrhein-Westfalen. Es findet sich in einer Gruppe mit den Stadtstaaten Bremen, Hamburg und Berlin, in denen sich die ungünstigen Bedingungen häufen: viele Migranten, viele Arbeitslose und Arme, ein hoch verschuldeter Staat. Sicher, auch in NRW gibt es einen besonders hohen Anteil an Migrantenkindern, die schlecht gefördert werden, aber das allein kann es nicht sein.

Wurden anderswo große Reformen eingeleitet - und Nordrhein-Westfalen hat sie verschlafen? Wohl kaum. So schnell können Schulreformen gar nicht wirksam werden. Und auch in NRW wurde einiges eingeleitet: Englisch in der Grundschule, die Einführung der flexiblen Eingangsstufe für die Erstklässler, Vergleichsarbeiten in den neunten Klassen, neue Lehrpläne, selbstständige Schule - aber all das hat keine Aufbruchsstimmung in den Lehrerzimmern bewirkt, sondern Verdrossenheit. Und wenn sich in zwei, drei Jahren etwas ändern kann, dann geht das nur durch die Lehrer, nicht durch politische Maßnahmen. Immer neue Anforderungen, neue Entscheidungen über die Köpfe der Betroffenen hinweg - da ziehen viele lieber den Kopf ein und warten, dass diese Unwetter an ihnen vorüber ziehen. Das ist umgekehrt vielleicht auch eine Erklärung für die spürbaren Verbesserungen in Sachsen-Anhalt: Das große Abbruchunternehmen der neunziger Jahre ist abgeschlossen, es gibt wieder mehr Verlässlichkeit für Schüler und Lehrer.


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