Wissenswertes über PISA und Bologna

Talarenmief Hochschulen standen immer unter dem Diktat der Ökonomie - und Bildung war immer subversiv

Die Flut von Reformen, die in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten über Schulen und Hochschulen hereingebrochen ist, bewirkt vor allem eines: alte, funktionierende Institutionen sturmreif zu schießen für die Eroberung durch Bertelsmänner und andere neoliberale Privatisierer. Teils ist die Kritik berechtigt. Nur: Wo wollen wir jetzt hin? Zurück in die fünfziger Jahre des letzten Jahrhunderts? Oder noch weiter zurück in die "gute alte Zeit"?

Zentrale Prüfungen, Vergleichsarbeiten, Leistungsstandards, PISA, PIRLS, VERA und LAU, in den Schulen wird gemessen und gerankt, dass es nur so kracht. Da zählt Humboldts Bildung nichts mehr, denn es wird nur noch für die Tests gelernt, für das outcome und die performance in den internationalen Rankings. So klagte jüngst wieder in einer Lokalzeitung der Leiter eines Berliner Humboldt-Gymnasiums. Gleichzeitig wird die gymnasiale Schulzeit um ein Jahr verkürzt. Da gilt alles als verzichtbar, was nicht in den zentralen Abschlusstests vorkommt. Aus den Deutsch-Lehrplänen wird das Lesen anspruchsvoller Texte gestrichen, in Mathematik gelten Exponentialfunktionen als verzichtbar, und in Geschichte kann die griechische Antike ebenso geschlabbert werden wie Europa als Traditionsraum, die Weimarer Republik oder das Thema Friedenssicherung.

Bildung als die Aneignung von Welt, als Persönlichkeitsentwicklung, und Erziehung als ein personaler Prozess zwischen Lehrer und Schüler sind verloren gegangen, stattdessen geht es nur noch um die Ausbildung der eigenen Arbeitskraft, um quasi industrielle Produktion von Kompetenzen.

In der gleichen Richtung werden auch die Hochschulen umgebaut: Die Hochschulfreiheit ist nicht mehr die Freiheit der Forschung und Lehre von materiellen oder administrativen Zwängen, sondern die unternehmerische Freiheit des selbstständigen Wirtschaftens auf dem Bildungsmarkt. Da teilt zum Beispiel die nach Heinrich Heine benannte Düsseldorfer Universität in einer Presseerklärung mit, dass sie Mitglied der "Innovations-Allianz" geworden sei. Das ist ein Zusammenschluss von Hochschulen und Transfergesellschaften, die, wie es in ihrer Selbstdarstellung heißt - ein gemeinsames Label benutzen, nachfrageorientierte Angebote von Serviceleistungen bereitstellen, zur Profilschärfung beitragen, die Hochschule besser aufstellen - Marketing, Lobbying, Qualitätssicherung, man lässt keine Phrase des Hochschulmanagement-Jargons aus, und am Ende weiß man nur: Diese Heinrich-Heine-Universität möchte ihre Forschungsprodukte besser verkaufen, und zwar auf dem Gebiet der Life-Science, denn damit macht man Umsätze in Dimensionen, von denen ein Literaturwissenschaftler wahrscheinlich Alpträume bekommen würde.

Dass da nicht mehr in Einsamkeit und Freiheit geforscht wird, liegt auf der Hand. Ein Bachelor-Studium ist in Module aufgeteilt, deren Ableistung in Workloads berechnet und mit Kreditpunkten honoriert wird. Aus dem Studium als Bildungserlebnis, als die Beschäftigung mit einer Sache um ihrer selbst willen, wird die Zurichtung des Humankapitals auf employability, wie es in der Bologna-Reform gefordert wird. Von den Diagnosebögen und Sprachstandstests im Kindergarten über PISA, die über den Hochschulen ausgegossene Sauce Bolognese bis zur Phrase vom lebenslangen Lernen - all diese Pseudoreformen im Namen von Wettbewerb, Qualität und Effizienz ordnet Jochen Krautz in seinem Buch Ware Bildung (München 2007) ein in das beängstigende Tableau einer marktförmigen und Profitinteressen unterworfenen Reorganisation von Bildung. Der Wiener Philosoph Konrad Paul Liessmann hat diese Entwicklung in seiner Theorie der Unbildung (Wien 2006) beschrieben.

Ja, bei Humboldt ging es noch um die Persönlichkeitsbildung. Im Lichte der Kritik an PISA und Bologna erstrahlen die alten Bildungsinstitutionen, einst von den demokratischen Reformern als reaktionär kritisiert, als Horte des Wahren, Schönen und Guten. Im guten alten deutschen Gymnasium bemaß sich der Wert eines Unterrichtsfachs nicht daran, was es für das Pisa-Ranking bringt oder ob es junge Menschen fit macht für ein Betriebswirtschafts- oder Ingenieursstudium. Lerninhalte sollten jungen Menschen helfen, sich die Welt anzueignen und ihr Bild davon zu strukturieren. Deshalb alte Sprachen statt Neue Medien, die Suche nach Wahrheit und Sinn - statt Präsentation auf Plakaten und Power-Point-Folien. Denn das gehört heute zum Standard-Repertoire jeder, wie es gern im unternehmensberaterischen Jargon heißt, "gut aufgestellten" Schule.

So sympathisch und einleuchtend die Kritik an der gegenwärtigen Reform ist, man kommt doch ins Grübeln, wenn ihr pauschales Fazit lautet: Macht endlich Schluss mit den Reformen! Nach Bologna und PISA, nach der Verkürzung von Schul- und Hochschulbildung scheinen Reformen insgesamt in Verruf geraten zu sein als Mittel, bewährte Institutionen sturmreif zu schießen für die Übernahme durch ein ideologisches und ökonomisches Machtkartell des Neoliberalismus - diesen Eindruck kann man bei der Lektüre der Reformkritiker Krautz und Liessmann gewinnen.

Für Krautz hat das Unglück mit dem Sputnik-Schock begonnen, also mit der Ablösung der alten Volksschule durch die Hauptschule und mit dem Ansinnen, mehr Kinder aufs Gymnasium zu schicken. Denn seitdem seien Schulen und Hochschulen Faktoren eines globalen Wettbewerbs. Und seitdem sind sie einem permanenten Reformprozess unterworfen, der niemanden mehr zur Ruhe kommen lässt, weder Lehrer noch Schüler, und in dieser Atemlosigkeit muss die Bildung untergehen, die ja etwas mit Muße zu tun hat. Von der Gesamtschule bis zu Bologna: Alles ist Reform und deshalb in Krautz´ Augen schlecht.

War da nicht was, weshalb wir vor vierzig Jahren den Muff unter den Talaren vertreiben wollten? Weshalb wir Chancengleichheit für das katholische Arbeitermädchen vom Lande forderten? War die Professorenriege in ihrer vermeintlichen Einsamkeit und Freiheit damals nicht Teil eines zwar nicht unbedingt wirtschaftlichen, aber doch eines ideologisch-politischen Machtkartells, das man aus guten Gründen aufbrechen wollte? Ja, damals hatte man sich im Humboldtschen Sinne an Sachen um ihrer selbst willen abgearbeitet, aber doch nicht beim Nachbeten der 20 Jahre alten Vorlesungsskripte der Professoren, sondern in der Kritik daran, was sie den Studenten vorsetzten. Wir Studenten kritisierten schon damals, dass das Studium mehr und mehr dazu diente, nützliche Arbeitskräfte heran zu bilden.

Doch - war das zu Humboldts Zeiten anders? An den preußischen Universitäten des 19. Jahrhunderts wurde das Führungspersonal eines ökonomisch und politisch erfolgreichen Staates ausgebildet. Die alten Sprachen im Gymnasium, die Juristerei an den Hochschulen - diese Gegenstände dienten doch nicht dazu, Altphilologen oder Richter auszubilden, sondern Fähigkeiten des Systematisierens einzuüben, man lernte, Regeln auszulegen und anzuwenden - Fähigkeiten, die damals in der Verwaltung und in Unternehmen gefragt waren, Methodenkompetenz des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Heute lernt man andere formale Fähigkeiten an anderen Gegenständen, etwa die Gruppenarbeit in naturwissenschaftlichen Projekten und mit Power-Point-Präsentationen. Ist der Unterschied wirklich so groß?

Der Kanon einer humanistischen Grundbildung lässt sich nicht mehr schlüssig ableiten. Er verkam zum Distinktionsmerkmal einer Klasse, deren Angehörige sich durch die Kenntnis von Zitaten und Bezügen vom Pöbel abhoben, einer bürgerlich-akademischen Intelligenz, die sich in Langemarck und im Reichssicherheitshauptamt skrupellos missbrauchen ließ. Da ist Günter Jauchs Ratespiel Wer wird Millionär doch geradezu ein Zeichen für die Demokratisierung wenn nicht von Bildung, so doch immerhin von Wissen!

Nein, es gibt keinen Grund, dem alten Gymnasium, der alten Universität nachzutrauern. Da wurde gepaukt, damit man das Gelernte für die Klausur parat hatte und dann schnell wieder vergaß, nur hieß das damals noch nicht teaching to the test. Das Lernen von Griechisch und Latein war ebenso wenig Bildung wie heute die Beschäftigung mit Chemie oder Neuen Medien. Beides kann nur die Voraussetzung dafür schaffen, dass Menschen sich selbst bilden können. Das alte Gymnasium wollte das nur für bestenfalls fünf Prozent der Bevölkerung - mit welchem Erfolg, sei dahin gestellt. Die Reformen der sechziger und siebziger Jahre wollten diese Voraussetzungen für mehr, wenn nicht gar alle Menschen bereitstellen.

Aus Humboldts hehren Plänen wurden Anstalten zur Ausbildung des Führungsnachwuchses und zur Reproduktion einer herrschenden Klasse. Schulen und Hochschulen standen immer, mal mehr, mal weniger unter dem Diktat der Ökonomie: Die Entstehung der Realschulen, die Ausweitung der Volksbildung, schließlich die Bildungsexpansion nach dem Sputnik-Schock, bei all dem waren ökonomisch-politische Interessen am Werk. Selbst die Reformpädagogik des 20. Jahrhunderts war eine Antwort darauf, dass die sture Paukschule nicht in der Lage war, den Anforderungen an Kreativität und Flexibilität gerecht zu werden. Heißt das aber, dass all dies Teufelszeug war und ist?

Verhindert die ökonomisch zugerichtete, portionierte und funktionalisierte Wissensvermittlung Bildung - und ist sie deshalb abzulehnen? Die zu Bildenden waren immer darauf angewiesen, den Kopf auch anders zu gebrauchen als es die Veranstalter von Bildung und Erziehung beabsichtigten. Sie lernten, sich ihr Bild von der Welt selbst im Kopf zusammenzusetzen, selbst auszubrechen aus der Unmündigkeit. Diese Anstrengung hat ihnen das alte Gymnasium nicht abgenommen, erst recht nicht die "Volksschule".

Bildung ist immer subversiv, aber sie nutzt das, was die Institution bietet: das Gerüst an Wissen, die Lerngelegenheiten und vor allem die Beziehungen zu Mitschülern, Kommilitonen und Lehrenden, die sich als Erzieher und Mitstreiter verstehen. Menschen, die mit dem Hauptschulabschluss oder noch weniger zureichenden Grundkompetenzen die Schule verlassen müssen, haben einfach weniger Chancen, ihr Leben zu gestalten, sich eine Perspektive aufzubauen, den Weg aus der - nicht selbst verschuldeten - Unmündigkeit zu gehen. Höhere Abschlüsse und damit längere Bildungszeiten für mehr Menschen bieten ungleich bessere Bedingungen für Bildung im aufklärerischen Sinn.

Wir brauchen also einen differenzierteren Blick auf das, was heute Bildungsreform heißt: Was schafft wirklich bessere Voraussetzungen dafür, dass mehr Menschen als bisher die Welt verstehen und mit gestalten können? Was ermöglicht ihnen eine sichere und interessante Berufsperspektive? Um höhere Abschlüsse für alle zu ermöglichen, können Qualitätsstandards und - kontrollen hilfreich sein. Die Propagandisten von PISA und Bologna behaupten, dass ihre Reformen dazu führten. Bisher allerdings haben wir nur das Gegenteil erlebt. Wenn Vergleichstests und Standards so verstanden werden, dass sie jedem Besucher einer Schule eine bestimmte Grundausstattung an Wissen und intellektuellen Fertigkeiten garantieren, so können sie durchaus nützlich sein.

Vor den Reformen ließen Schulen und Hochschulen mehr Zeit, in der sich die Lernenden die wirklichen Bildungserlebnisse selbst organisieren konnten. Sie ließen Freiräume für Exkursionen und Arbeitsgemeinschaften, für selbst organisierte Projekte und Kritik an den gebotenen Lehrinhalten. Diese Nischen waren Räume, in denen sich Beziehungen zwischen Schülern und Lehrern entwickeln konnten - das waren die wirklichen Bildungserlebnisse. Von der heutigen Generation der Lehrenden, der Schüler und Studenten ist schon mehr Schläue gefragt, um die rigideren Regeln zu unterlaufen. Aber, mal so aus der ganz persönlichen Erfahrung, ich bin da optimistisch. n

Karl-Heinz Heinemann, geboren 1947 ist Soziologe und freier Journalist. Er arbeitet unter anderem für den SWR und WDR und beschäftigt sich seit den siebziger Jahren mit Schul- und Hochschulthemen.

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