Meine alte Wohnung war für zwei zu klein geworden und ein Umzug nicht mehr zu vermeiden. Umziehen, das heißt: Monatelang Inserate in Zeitungen durchlesen, mit nervigen Vermietern telefonieren, Wohnungsbesichtigungen am Sonntagmorgen mit viel Aspirin. Aber es kam - zunächst - anders als gedacht. Wir hatten Glück. Nach nicht einmal drei Wochen war das neue Objekt gefunden. Wir treffen uns also an einem sonnigen Sommertag mit dem Vermieter. Alles ist in bester Ordnung bis ganz am Schluss die für uns überraschende Aufforderung kommt: »Die Einkommensnachweise geben Sie bitte der Hausverwaltung ab.«
Dass es in Berlin genügend Menschen gibt, die ihre Miete nicht bezahlen können oder wollen, wusste ich. In meinem vorigen Haus im Bezirk Moabit war das schon fast die Regel und nicht die Ausnahme. Prekäre Existenzen gibt es in Berlin genug, Vermieter sind also vorsichtig. Da ich gerade einen Publikationsvertrag habe, ist mir aber nicht bange. Die Hausverwaltung weiß sicher nicht, dass man vom Bücherschreiben allein nicht leben kann.
Am nächsten Tag fahren wir Richtung Grunewald zu einer der feinen Villas, in denen Hausverwaltungen, geschützt vor ihrem Kientel, gerne sitzen. Ein freundlicher Herr begrüßt uns, die Einkommensnachweise haben wir brav mitgebracht. Während wir den ellenlangen Mietvertrag studieren (ähnlich wie bei Gebrauchsanleitungen oder Beipackzetteln aus der Apotheke ist jedes kleinste Detail aufgelistet) verlangt der freundliche Herr unsere Pässe zwecks Feststellung der Personalien. Eine reine Routinesache, so seine Aussage. Nach zehn Minuten, wir quälen uns durch den Vertrag, hören wir Schritte, und eine Stimme sagt schon von weitem: »Wir haben da ein Problem.« Die Betonung liegt dabei ganz eindeutig auf dem letzten Wort. Als wir uns umdrehen, sehen wir den aus seinem Büro kommenden Verwalter. »Ja, tut mir leid, ihr österreichischer Pass ist abgelaufen, und ihre Freundin hat nur eine einjährige Aufenthaltsgenehmigung.«
Im nachfolgenden Gespräch werden alle unsere Verfehlungen klar. Der Pass meiner Freundin ist zwar gültig, aber dummerweise hat sie den Ausweis der Fremdenpolizei, den jeder EU-Ausländer braucht, darin liegen gelassen. Und da steht ganz eindeutig: »Aufenthalt vorübergehend bewilligt für ein Jahr.« Vorsorglich und vorausschauend hatte ich dieses Dokument aus meinem Pass herausgenommen, denn meine auf fünf Jahre befristete Aufenthaltsgenehmigung läuft in den nächsten Tagen ab. Aber mein Pass selbst ist nicht mehr gültig, zumindest nicht für eine Berliner Hausverwaltung. Der Mietvertrag liegt unerreichbar vor uns, es fehlen nur noch die Unterschriften. Bei meiner Freundin ist die Sache klar: ein unbefristeter Mietvertrag und eine einjährige Aufenthaltserlaubnis - das geht natürlich nicht! Und ich bin sozusagen identitätslos. Ein neuer Pass ist die einzige Möglichkeit, die Wohnung doch noch zu bekommen. Wir einigen uns darauf, dass ich eine Bestätigung des Konsulats bringe, auf der meine Passbeantragung amtlich verzeichnet ist. Ein Fax dieser Bestätigung soll als »Sicherheit« genügen.
Der Besuch des österreichischen Konsulats am nächsten Tag unterscheidet sich ziemlich von Kontakten mit deutschen Behörden. In Österreich gilt auf Ämtern: »Ich habe ein Problem, was können wir da machen?« Diese Frage schafft vor allem Spielraum für eine gemeinsame Lösung, mit der alle Beteiligten leben können. Als Akadamiker oder sonstiger Titelträger kann man darüber hinaus immer mit der Subalternität des Beamtentums rechnen, die »Frau Hofrat« oder der »Herr Diplomingenieur« eröffnen ungeahnte Möglichkeiten. Diesmal treffe ich eine sehr nette Frau, mit der ich in schöner österreichischer Tradition schnell ins Raunzen (Schimpfen /Jammern) komme. Das typische Schicksal einer Diplomatengattin: Mann im Auswärtigen Dienst, sie Sekretärin an der Botschaft. Wir klagen uns gegenseitig das Leid über die Schikanen für Ausländer in einem EU-Land und dass dies doch im Zeitalter der vielzitierten Globalisierung niemand verstehen kann. »Überall wird Flexibilität im neuen Europa gefordert aber ein Umzug wird selbst für EU-Ausländer zum Problem.« Ich werde über diesen Satz ein wenig böse und finde, dass Flexibilität oder Modernisierung sowieso nur die ökonomische Flexibilität der Ausbeutung meint. Aber das geht der Diplomatengattin dann doch zu weit. »Vieles ist schon einfacher geworden. Wenn ich Ihnen sage, wie es war, als ich 1984 hierher kam, schrecklich!«
Ich allerdings will gar nicht über 1984 oder Europa diskutieren, ich brauche einen neuen Pass für meinen ordnungsgemäßen Umzug. Obwohl ich sorgfältig alle Unterlagen für eine Passbeantragung zusammengestellt habe, fehlt ein winziges Detail: der Nachweis meines akademischen Grades. Noch niemals in der langen Geschichte der Ämter, darauf wette ich, hat jemals ein Mensch beim ersten Anlauf alle Anforderungshürden genommen. Also, »Aufwiederschaun«, ab nach Hause, Diplom einpacken und zurück zur Botschaft. Die Frage, die ich die ganze Zeit befürchte: »Was ist denn mit ihrer Aufenthaltsgenehmigung?« kommt schließlich ganz am Ende, nicht unerwartet, aber mit einer mir alle Türen öffnenden Betonung. Es ist mehr eine Feststellung als eine Frage, die mein Ohr erreicht. »Sie haben hier einen unbefristeten Aufenthalt, oder?« Das »Ja« wird mir förmlich in den Mund gelegt. Während ich meine Lippen dabei ertappe, das geforderte Wort betont ruhig auszusprechen, nimmt sich mein Über-Ich vor, sofort nach der Fertigstellung meines Passes zur Ausländerbehörde zu gehen, um mein befristetes und bald illegales Dasein in Berlin ein für alle Mal zu beenden.
Auf dem Weg nach Hause kommen die ersten Phantasien der Kriminalisierung. Wenn die Botschaft meine Angabe nun prüft? Eklige Wörter wie Straf- und Bußgeld, ja sogar Ausweisung oder Abschiebung bauen sich vor mir auf. Alles Quatsch, sage ich mir: Ich habe noch nie gehört, dass ein Österreicher aus Deutschland abgeschoben wurde, obwohl das im Fall des Adolf H. aus Braunau historisch kein Fehler gewesen wäre. Mir drängen sich Gefühle auf, wie sie jeder Asylbewerber in extremer Weise empfinden muss. Dass die Idee von Europa zunächst einmal den Überwachungsstaat meint, hatte ich bei einem klugen Autor gelesen und noch nicht recht glauben wollen. Jetzt ändere ich meine Meinung. Das einzige, was wirklich globalisiert funktioniert, sind wahrscheinlich die Mafia, die Polizei und die Finanzströme. Letztere brauchen aber kein reales Zuhause. Ich hingegen schon! Das sich globalisierende Europa hatte sich gegen meinen Umzug gestellt und mir meine Lebenslage und paradoxerweise meine Nationalität bewusst gemacht. Nun das Fax an die Hausverwaltung, und danach heißt es in die Offensive gehen.
Nach ein paar Tagen bekomme ich einen Anruf vom Konsulat. »Herr Magister, ihr Pass ist bereits abholbereit.« Die Botschaft hat also nicht bei der Ausländerbehörde nachgefragt und mein angeregtes Gespräch mit der Sekretärin hat die Fertigstellung meines Passes immens beschleunigt. Ich bleibe meinem Versprechen treu und mache mich noch am selben Tag auf den Weg zum Landeseinwohneramt Berlin, Abteilung Ausländerangelegenheiten. Leider ist es ausgerechnet der einzige Tag in der Woche, an dem das Amt geschlossen hat. Mein Weg in die Legalität und zum gleichberechtigten EU-Bürger wird mir also nicht leicht gemacht.
Die Ausländerbehörde ist, soweit ich das am nächsten Tag, gewappnet mit neuem Pass und allen Dokumenten meines Lebens, feststellen kann, dreigeteilt: Es gibt einen eigenen Gebäudeabschnitt für Asylbewerber, der größere Teil des Hauses ist aber für Aufenthaltsangelegenheiten für EU- bzw. Nicht-EU Ausländer reserviert. Ich verirre mich sofort in dem weitläufigen Gebäude und gelange auf lange Flure mit überfüllten Gängen. Ein babylonisches Stimmengewirr herrscht, und ganze Familien warten auf die elektronische Anzeige ihrer zugeteilten Nummern auf den digitalen Tafeln. Offensichtlich bin ich in den Trakt der Nicht-EU-Ausländer geraten, das erkennt man schon an der Einrichtung der Aufenthaltsräume. Überfüllte Aschenbecher, billige Plastikstühle und verdreckte Böden. Hier sind also die »schlechten Ausländer« versammelt und dass ich zu den »Guten« zähle, wird mir in diesem Gebäude ganz deutlich bewusst. Denn Bürger von EU-Auslandsstaaten - ich finde die Abteilung nach längerem Suchen - dürfen etwas mehr Komfort und Sauberkeit genießen. Helle Warteräume, Holzbänke, weniger Menschen, polierte Fußböden.
Meine Nummer, 814, wird überraschend schnell aufgerufen, und ich habe wieder etwas vergessen. »Sie brauchen noch drei Lichtbilder, im ersten Stock steht ein Automat.« Also hoch und in die Schlange vor den Automaten mit Geldwechselmaschine eingereiht. Ein Pakistani kommt mit dem Automaten nicht zurecht, und schon reden zehn Leute in 15 Sprachen auf ihn ein, die es offensichtlich besser wissen. Still und leise, denn ich kenne mich bei Automaten nicht aus, schwöre ich mir, diese ganze Prozedur in Zukunft zu vermeiden. Ergo muß ich eine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung erlangen. Nachdem ich die fertigen Photos abgegeben habe, warte ich wiederum in der Abteilung EU-Ausländer und lege mir mein Sprüchlein zurecht. Vor allem beschäftigt mich die Antwort auf die erwartete Frage: »Wovon leben Sie denn?« Aber viel Zeit bleibt mir nicht, denn schon werde ich aufgerufen. Bevor ich ein Wort herausbringe, höre ich den Beamten am Tisch in militärischem Ton sagen: »Sie kriegen unbefristet!«, und es klingt wie ein Urteil auf lebenslänglich. Nach dem ersten Schreck drückt er mir die unbefristete Aufenthaltserlaubnis in die Hand. Da steht es schwarz auf blau: »Laut Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 des Rates der Europäischen Gemeinschaften vom 16. Oktober 1968 hat der Inhaber dieser Aufenthaltserlaubnis unter denselben Bedingungen wie die deutschen Arbeitnehmer das Recht auf Zugang zur Beschäftigung im Lohn- und Gehaltsverhältnis und auf deren Ausübung im Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland.«
Gottseidank, endlich die Gleichschaltung! Und das auch noch ohne weiteres Nachfragen oder zeitliche Begrenzung. Als ich das Büro verlasse, ist mein Leben EU-konform registriert, verwaltet und geordnet: Einkommensnachweis akzeptiert, neuer Pass, Aufenthaltserlaubnis erteilt, Umzug genehmigt. Europa kann kommen, ich bin bereit!
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