Seher und Handlungsreisender

Rimbaud I Zum 150. Geburtstag eines Dichters von unbedingter Modernität

Der 20. Oktober 2004 ist der 150. Geburtstag von Jean-Nicolas-Arthur Rimbaud, den die Literaturgeschichte gemeinsam mit Lautréamont und Mallarmé als den Initiator einer kopernikanischen Wende im System der poetischen Sprache Frankreichs nennt. Weltweit wurde er zu einer legendären Figur stilisiert, zum Partisanen des Geistes, der die Absage an die Literatur mit dem Satz quittierte: "Ich weiß jetzt, daß die Kunst eine Dummheit ist." Von Mythen verklärt, wurde er weniger gelesen als mit seiner Biografie zum Inbegriff des Rebellen stilisiert: Rimbaud = Rambo oder Rimbaud le voyou, Rimbaud der Strolch.

Mit diesem Nimbus versehen hat ihn früh der junge Surrealist Louis Aragon 1918, 27 Jahre nach Rimbauds Krebstod am 10. November 1891, als Doppel-Rimbaud zu einem literarischen Nachleben verholfen. Als alter ego des Protagonisten in dem surrealistischen Text Anicet oder das Panorama, Roman stellt sich in Aragons Portrait Arthur seinem Gegenüber in einem längeren Bericht vor, in dem ironisierend alle Merkmale des Rimbaud-Mythos eingeschrieben sind, der über ein Jahrhundert das poetische Werk Rimbauds vernebelt hat. "Ich heiße Arthur und wurde in den Ardennen geboren, wie man mir sagte, aber nichts erlaubt mir dies zu bestätigen, um so weniger als ich, wie Sie bereits erraten haben, die Zerlegung des Universums in verschiedene und voneinander getrennte Orte keineswegs gelten lasse. Ich würde mich mit der Feststellung begnügen: ich wurde geboren, wenn nicht selbst diese Aussage die Unstimmigkeit aufwiese, die Tatsache, die sie ausdrückt, als eine vergangene Handlung anstatt als einen von der Zeit unabhängigen Zustand darzustellen. Das Verb ist so beschaffen, daß alle seine Formen Funktionen der Zeit sind, und ich bin sicher, daß nur die Syntax den Menschen zum Sklaven des Zeitbegriffs macht, denn nur mittels ihrer begreift er, und sein Gehirn ist im Grunde nur eine Grammatik. ... Einige Wortwechsel mit L, (gemeint ist Lelian, der Künstlername Paul Verlaines, mit dem Rimbaud eine homoerotische Beziehung hatte, KHB) die in Streitigkeiten ausarteten, eine Reise, auf der ich zu sterben glaubte, die im Laufe meiner letzten Bindung erlangte Gewißheit, daß die Kunst nicht der Zweck dieses Lebens ist, ein Skandal, der zur gleichen Zeit im Zusammenhang mit meinem Namen ausbrach, die Publizität, die man ihm gab, und die Verleumdung, die sich seiner bemächtigte, kurz, tausenderlei Ursachen, eine beleidigender als die andere, veranlaßten mich, meine Existenz zu ändern. Ich beschloß, meinen Lebenstagen ein anderes Ziel zu geben und meine Aktivität dem Handel und dem Erwerb von Reichtümern zuzuwenden. Nachdem ich ausgelöscht hatte, was von meiner Vergangenheit geblieben war, versah ich mich mit einem Paket Glasperlen und fuhr nach Ostafrika, um dort Sklavenhandel zu treiben."

Der Mythos vom absoluten Gegensatz zweier Leben und Existenzweisen, Rimbaud als eine gespaltene Persönlichkeit, Rimbaud voyant, der Seher und Rimbaud négociant, der Handlungsreisende wurde bis in die jüngste Zeit als Abschied des genialen Poeten von der Literatur und als Beweis für die Inkommensurabilität von Kunst und Leben ausgelegt, als emblematischer Fall der Entlassung des Künstlers aus öffentlichem Auftrag durch die bürgerliche Gesellschaft. Die Erfahrung der Pariser Commune zwischen Hoffnung - au grand soleil d´amour chargé (in der liebesbewaffneten großen Sonne in Die Hände der Jeanne-Marie) - und Verzweiflung, wie sie Rimbauds wohl bekanntestes, von Paul Celan übertragenes Gedicht Das trunkene Schiff in der Kühnheit seiner Sprache festhält, wird zur Quelle neuer Energien.

Inzwischen haben französische Forscher dem Rimbaud-Mythos den Boden entzogen. Sie konnten anhand der umfangreichen Korrespondenz Rimbauds mit seiner Familie und Freunden während seines zehnjährigen Aufenthalts in Abessinien am Roten Meer und anhand der Analyse von Rimbauds umfangreichen Studien, Feldforschungen und Vorarbeiten für ein ethnographisches Photoalbum zeigen, dass Rimbaud nie aufgehört hat zu schreiben, dass er die Impulse seines poetischen Werkes im Bereich der Ethnographie und Geographie mit den Mitteln der modernen Fotografie fortsetzte. An den Freund Ernest Delahaye in Paris schreibt er darüber im Januar 1882: "Ich bereite ein Buch für die Pariser Société de géographie vor mit Karten und Grafiken über den Harar und die Gebiete der Gallas. Dazu habe ich mir aus Lyon einen Fotoapparat kommen lassen, den ich nach Harar bringen werde, um Aufnahmen von diesen ganz unbekannten Regionen zu machen". Die Ergebnisse dieser Forschungen wurden im März 1990 auf einem Rimbaud-Kolloquium in Aden diskutiert und in dem Manifest von Aden mit der Demontage der Rimbaud-Mythen veröffentlicht.

Rimbaud hat nie aufgehört zu schreiben und man wird in Kenntnis der zehn afrikanischen Jahre das poetische Œuvre neu lesen müssen. Das in nur fünf Jahren zwischen 1870 und 1875 entstandene poetische Oeuvre - die frühen Gedichte und neuen Verse, die zwischen April und August 1873 geschriebene satanische Autobiografie Une Saison en enfer (Ein Aufenthalt in der Hölle), das einzige von Rimbaud selbst zum Druck gebrachte Buch und die zwischen 1873 und 1875 entstandenen Prosagedichte Illuminationen - zeigt uns in dieser Perspektive den erst noch zu entdeckenden Rimbaud als den Begründer einer Konjunktion von poetischen Visionen und einer poetisierten Wissenschaft, mit der die chinesischen Mauern zwischen Poesie und Wissenschaft untergraben werden. Rimbaud als ein Erbe von Novalis und dessen Konzept einer Poetisierung des Wissens! Die Poesie geht der Wissenschaft voran: "Ach! die Wissenschaft geht mir nicht schnell genug!, sie hinkt." Die Erfindung einer neuen poetischen Sprache, die er sich zum Ziel setzte - "ich erklärte meine magischen Sophismen mit der Halluzination der Worte! ... Ich hab versucht, neue Blumen zu erfinden, neue Sterne, neue Sinnlichkeiten, neue Sprachen" - war seine Verpflichtung auf unbedingte Modernität. Daran erinnerten die Autoren des Manifest von Aden mit einer Adresse an den (noch) unerkannten Rimbaud. "Hättest Du die Beinamputation und Deinen Tod mit 37 Jahren verhindern können, hättest Du bis in die dreißiger Jahre leben können. 1934 wärst Du Michel Leiris begegnet, dem Dichter von ›Haut-Mal‹, Du hättest sein ethnologisches Journal ›L´Afrique fantôme‹ gelesen, das Deine afrikanischen Erfahrungen aufgreift! Auch hättest Du Antonin Artaud treffen können, der auf Deinen Spuren bis nach Mexiko reiste, zu den Tarahumaras, auch ein Dichter, der sich von der Versdichtung schnell verabschiedete, um die verborgensten Kontinente des Denkens zu erkunden. ... Wir wissen jetzt, daß der Arthur-Zyklus, seine Poesie und seine Wissenschaft nicht länger einander entgegengesetzt werden können, ohne daß aus diesem Gegensatz eine Amputation von Rimbauds Denkens würde."

So liegt das Vermächtnis Rimbauds jenseits aller Mythen in unserer Hand, als das eines Poeten, der sich als Dieb des Feuers und nomadischer Mann mit den Windsohlen verstand, der die westlichen Sümpfe des alten Europa hinter sich ließ und an der Vision arbeitete, mit dégagement rêvé, mit dem Traum von Befreiung in der Morgenröte mit brennender Geduld gewappnet, die glänzenden Städte zu betreten.

Karlheinz Barck ist Ko-Direktor des Berliner Zentrum für Literaturforschung. Zuletzt gab er 2003 den Band: Arthur Rimbaud: Mein traurig Herz voll Tabaksaft. Gedichte heraus.


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