Datenaskese wird uns nicht retten

Überwachung Statt politisch neue Weichen zu stellen, wird Nutzern empfohlen, weniger Daten im Netz zu hinterlassen. Das ist der falsche Weg, findet Piratin Katharina Nocun
Datenaskese wird uns nicht retten

Foto: Josep Lago/ AFP/ Getty Images

Das Internet war ihnen schon immer suspekt. Die digitale Demenz haben sie bereits seit Jahren kommen sehen. Und statt des Smartphones schwören sie noch immer auf ihr Nokia-Handy im handlichen Backstein-Format. Es gibt diese Menschen, bei denen eine gehörige Portion Genugtuung mitschwingt, wenn sie über Überwachung sprechen. Sind diejenigen ohne Facebook-Zölibat selbst schuld, wie es aus der Ecke der Daten-Asketen tönt? Ersticken wir zu Recht an unserem eigenen Datenmüll?

Auf Öko-Strom umzusteigen ist etwas ganz anderes als Datenaskese zu leben. Der Vergleich zur Umweltbewegung hinkt: Das Netz ist nicht voll und muss auch nicht wegen Übermüllung schließen. Die Entscheidung, 2014 als Digital Native aufzuwachsen, ist ungefähr genauso frei wie die Entscheidung, 1990 einen Fernmeldeanschluss bei der Deutschen Bundespost zu beantragen. Einige wenige können sich den Luxus leisten auf den vernetzten Alltag verzichten zu können. Auf alle anderen wirkt es in weiten Teilen überheblich.

Technikpessimisten stilisieren die Geheimdienst-Überwachung fast zu einer Art Strafe Gottes für den kollektiven Exhibitionismus einer ganzen Generation. Mitschuld durch Datenfreizügigkeit? Das erinnert mich an eine Ohrfeige, die ich in jungen Jahren mit folgenden Worten austeilte: "Den Minirock habe ich nicht für dich angezogen, elender Grabscher." Es macht eben doch einen Unterschied, ob man dem eigenen Partner Nacktbilder von sich schickt, oder der britische Geheimdienst sich in die Schreibtisch-Webcam von Millionen Nutzern einklinken kann. Das zu vermischen ist klassisches Victim-Blaming.

Ein Realitätscheck würde nicht wenigen sonntäglichen Moralpredigern der digitalen Abstinenz neue Perspektiven eröffnen. Klar müssen Jugendliche nicht bei Facebook sein. Auf Partyeinladungen des weiteren Freundeskreises hätten die besorgten Eltern mit 14 bestimmt auch schulterzuckend verzichten können. Altklausuren und Hausaufgaben werden heute in Facebook-Gruppen getauscht. Wird man älter, ändern sich die Zwänge. Doch es bleiben Zwänge. Wer hier bei der Wahl des sozialen Netzwerks oder des Betriebssystems freie Entscheidungen herbeifantasiert, redet den Interessen der Monopolisten das Wort. Als Wissenselite hat man leicht reden.

Wer die Gruppe der Otto-Normal-Nutzer als debile Masse von Klicktivisten skizziert, die weder über Technik- noch Politikkompetenz verfügen, täuscht sich gewaltig. Es sind gerade die jungen Nutzer, die besonders stark die Privatsphäre-Einstellungen in Sozialen Netzwerken nutzen. Die neue Öffentlichkeit ist ihr Alltag. Wer nicht weiß, ob die Eltern mitlesen, der hat eben Fake-Identitäten und tauscht sich über Freundeskreis-Insider und Codes aus, die selbst der britische Geheimdienst nicht entschlüsseln könnte. Die digitale Pubertät haben die meisten im Alter von 14 schon hinter sich. Ein Internetführerschein ist nicht das, was sie brauchen. Aber manchmal wünscht man sich doch einen für diejenigen Bundestags-Mitglieder und ihre Wähler, die "das Internet schon vor der NSA verdächtig" fanden und hinter jeder Ecke Cyberterrorismus wittern und „Killer-Spiele“ schon seit "Duke Nukem 1" verbieten wollen.

Es geht ein Riss durch die Gesellschaft. Zu glauben, die digitale und analoge Welt könnten weiter getrennt betrachtet werden, ist naiv. Wir gehen nicht ins Internet, das Internet geht mit uns – abrufbereit in unserer Hosentasche. Vorratsdatenspeicherung ist in erster Linie eine elektronische Fußfessel für die Gegner der Datenaskese. Alle paar Minuten wird "nach Hause" gefunkt, wo wir uns digital und analog befinden. Wir sind nicht von zu Hause ausgezogen, damit Vater Staat nun weiß, wie lange wir freitags mit Freunden unterwegs sind. Wem wir unser Herz ausschütten und wo wir uns melden, wenn es ernst wird. Bei Netzpolitik – darin liegt der große Irrglaube – geht es nicht ums Internet: Netzpolitk ist Gesellschaftspolitik.

Wo hilft Datenaskese, wenn die Große Koalition die Vorratsdatenspeicherung doch wieder ausrollen will? Statt Politiker davon zu überzeugen, Internet-Monopolisten und Geheimdienst-Machenschaften einen Riegel vorzuschieben, erscheint selbst verordnete Technik-Abstinenz eher wie die ultimative Kapitulation. Natürlich kann man Alternativen zu Facebook und Google nutzen. Doch wenn sich die intellektuelle Avantgarde auf die überwachungsresistente Neuordnung der eigenen Festplatte und den erhobenen Zeigefinder beschränkt, stiehlt sie sich aus der Verantwortung. "Wer nicht verschlüsselt muss damit leben, dass nichts mehr privat ist." Wer will schon in so einer entsolidarisierten Welt leben?

Computer und Netzwerke sind die neuen Werkzeuge zur Überwindung der eigenen Unvollkommenheit. Wer keine geschlossene Gesellschaft will, in der wenige digitale Monopole das Sagen haben, muss politisch Weichen stellen. Und daher sollten wir weiter an Werkzeugen feilen. In dreißig Jahren, will ich 57-jährig über die digitalen Faustkeile von heute lachen können. Und ich will dann Google-Glass ohne Überwachungsschnittstelle von Google oder des Staates als Lesehilfe nutzen.

Natürlich ist es bequemer, sich zurückzulehnen und zu stöhnen, das Internet sei kaputtgespielt worden. Natürlich ist es einfacher, über den Atlantik zu zeigen als bei den eigenen Geheimdiensten anzufangen. Und selbstverständlich ist es am bequemsten, den Nutzern die Schuld zu geben. Ohnmachtsfantasien und Selbstmitleid werden den Karren nicht aus dem Dreck ziehen. Während Politik und Wirtschaft sich in philosophischen Abhandlungen über den digitalen Wandel und seine Gefahren suhlen, sind andere schon einige Level weiter. Tausende Programmierer der Freien-Software-Bewegung entwickeln preiswerte Computer-Hardware und freie Betriebssysteme ohne Hintertüren für Geheimdienste. An ihren Verschlüsselungsalgorithmen scheitern NSA und Co.. Die 500 Millionen Euro Steuergelder, die in Projekte für flugunfähige Drohnen versenkt wurden, würden in der Forschung für Technikalternativen einen echten Unterschied machen. Nicht nur in Deutschland, sondern weltweit.

Auf den ACTA-Demos waren die Aktivisten dank der Mobilisierung im Netz im Schnitt extrem jung – und alles andere als politikverdrossen. Als Konsequenz auf Snowden die totale Datenaskese zu fordern, bedeutet so ziemlich jeder neuen sozialen Bewegung das Wasser abzugraben. Nur weil Protest anno '68 ach so gut mit Sitzkreis statt Internet funktioniert hat, bedeutet das doch nicht, dass man sich freiwillig der mächtigsten Waffe entledigt, die man als Zivilgesellschaft hat. Datenaskese spielt denjenigen in die Hände, denen die neue Macht der Zivilgesellschaft ein Dorn im Auge ist.

Snowden hat das Tschernobyl der Netzgemeinde eingeläutet. Wir können nun alle in technischer Askese leben. Aber der Atomausstieg wurde nicht durch den massenhaften Verzicht auf Strom erzwungen, sondern durch politischen Druck und neu entwickelte Alternativen bei der Energieerzeugung. Das Ziel eines Protests sollte nicht darin bestehen, auf Technik zu verzichten. Insbesondere dann nicht, wenn wir eigentlich Technik wollen, die für uns statt gegen uns arbeitet. In der Türkei posten währenddessen Jugendliche Selfies mit Polizeiaufgeboten im Hintergrund. Das ist keine Dummheit, das ist ein Statement: Wir haben keine Angst. Wir haben vielleicht keine Chance. Aber wir werden uns das mächtigste Werkzeug, das wir jemals hatten, nicht von ein paar alten Männern mit Allmachtsphantasien wegnehmen lassen.

Katharina Nocun war bis November 2013 politische Geschäftsführerin der Piratenpartei Deutschland

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