Die Einsamkeit der angefangenen Sätze

Berliner Abende Als Bewohnerin dieser Stadt hält man sich eigentlich von der Oranienburger Straße fern. Um bei der Wahrheit zu bleiben, man meidet so ziemlich alle ...

Als Bewohnerin dieser Stadt hält man sich eigentlich von der Oranienburger Straße fern. Um bei der Wahrheit zu bleiben, man meidet so ziemlich alle touristischen Zentren. Das muss nicht erklärt werden. Oder doch, weil - diese persönliche Handlungsanweisung sich nicht gegen Potsdamer-Platz-Touristen richtet (wir sind weltoffene Menschen in einer weltoffenen Stadt) und nicht gegen Pariser-Platz-Beamte (wir haben die Fähigkeit mitzuleiden nicht verloren), sondern gegen einen selbst. Man schaute schon hin und wieder gern, wie es jetzt an diesen Orten so ist, aber man tut es nicht. Ich überquere zwei mal am Tag den Alexanderplatz und das genügt. Obwohl der Alexanderplatz die absolut proletarischste Variante eines touristischen Zentrums ist. Proletarischer als der Prater und das Marzahner Kultur- und Freizeitforum. Vor allem in Zeiten des Sommerschlussverkaufs.

Nun war ich doch auf der Oranienburger. Mit einer Kollegin. An einem Donnerstagabend. Bei drückender Hitze. Nach einem langen Arbeitstag. Vor einem Freitag, für den Abkühlung und Gewitter versprochen waren.

Jenseits des gemeinsamen Beschlusses, an diesem Abend essen und trinken zu gehen, war unser Kopf wie leergefegt. Wir hatten erst das Leihauto der Kollegin gegen die tausend Mark teure »große Durchsicht« getauscht und uns dann - im wieder eigenen und mit neuen Bremsbelägen versehenen Auto der Kollegin - einen Kneipennamen nach dem anderen vorgesagt. Aber wir konnten uns nicht entscheiden. Es gab in jeder Suppe mindestens ein Haar. Keine Parkplätze am Helmholzplatz, unbequeme Stühle vor dem S-Bahnhof Hackescher Markt, nervige Verkehrsströme vor dem »Al dente« und verbrannte Erde im Gugelhupf, weil Clinton da war. Vor langer Zeit.

Wir kreisten die Oranienburger Straße ein mit Sätzen wie: »In der Auguststraße soll es einen wirklich netten Italiener geben. Das Zosch ist irgendwie immer noch Untergrund. Hast du gesehen, was die aus der Krausnickstraße gemacht haben? Und dann waren wir auch schon da. Und fanden einen Parkplatz ohne Strafandrohung. Das nennt man Schicksal.

Der Italiener war wirklich nett. Vielleicht, weil es gar kein richtiger Italiener war, aber die Antizipation funktionierte: Italiener, Essen, lecker, nett. Daran änderten auch die recht überschaubaren Portionen nichts. Es war ja warm und eine kleine Mahlzeit für 28 Mark konnte nur die richtige Entscheidung sein.

Wir redeten über die Welt und nicht über Gott, während sich der bestaussehendste Kellner rührend um eine dralle junge Dame kümmerte, die ein fliederfarbenes Top trug, das vermutlich die Konfektionsgröße 36 hatte. Es gibt ein T-Shirt zu kaufen, auf dem sich vorn über den Brüsten der Schriftzug »I wish, this where brains« rekelt. Es gibt so viele schreckliche Dinge für blonde Frauen.

Um von den Acht-Mark-Weinschoppen wegzukommen, beschlossen wir, in eine der vielen Bars zu wechseln und auf Gimlet umzusteigen. Wir nahmen den langen Weg durch die Oranienburger Straße, kämpften uns durch die auf dem Bürgersteig stehenden Tische, Stühle und Bänke, wichen gehetzten und verschwitzten Kellnerinnen und Kellnern aus, vertieften uns in den Anblick zahlreicher Speisen, guckten in Ausschnitte und bis zum Bauchnabel geöffnete Männerhemden, verglichen die Qualität verschiedenster Haartönungen und ihre farbliche Kompatibilität mit der nachwachsenden Echtfarbe.

Die Welt saß uns zu Füßen und redete ununterbrochen. Sie redete über sich und jeder aufgeschnappte Satz ergänzte das vorher Gehörte, wie bei diesem Kinderspiel, wo man auf einem gefalteten Blatt ein Prädikat aufschreibt, ohne das Subjekt des Vorgängers zu kennen:

»Ich habe gestern Bewerbungsfotos machen lassen. Fehlt bei dir auch Salz? Thomas hat sich zwei Wochen nicht gemeldet. 19,90 Mark im Sommerschlussverkauf. Ich fang nicht wieder an. Mir fehlt wirklich ... oh Gott eine Wespe. Jonny Depp finden doch alle gut. Die Eins fährt durch die Prenzlauer Allee, aber da wird gebaut. Das ist mir echt zu blöd. Was ich gewartet habe. Früher haben die Nutten bis hier ... Mit Reis kannst du mich jagen.«

Wir landeten in einer absolut leeren Bar und hatten daran eigentlich nicht mehr geglaubt. Uns fehlte der Mut zur Erkenntnis. Eine ruhige Seitenstraße wäre besser gewesen. All die angefangenen Geschichten, und man ist völlig draußen. Wir blieben lange und blieben die Einzigen in der ambitionierten Trinkhalle. Vor der Tür tobte das unverständliche Leben. Und mir fiel wieder ein, warum ich touristische Hochburgen so gern meide. Jetzt kommt der Mut zum Kitsch: Ich fühl mich da allein.

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