Die Lust am Vorurteil

BERLINER ABEND Die Rückkehr vom Dorf in die Hauptstadt geriet zu einer kleinen Niederlage. Ich nahm wieder einmal die falsche Autobahnauffahrt. Es handelte sich ...

Die Rückkehr vom Dorf in die Hauptstadt geriet zu einer kleinen Niederlage. Ich nahm wieder einmal die falsche Autobahnauffahrt. Es handelte sich zwar um den Berliner Ring, aber was sagt das schon. Ich war auf dem Weg nach Rostock oder Hamburg, ein wirklich fataler Richtungsentscheid also, und alle Autoinsassen mussten dringend pinkeln. Es war nur geschehen, weil ich an Günter Jauch dachte und daran, dass fortschreitendes Alter sich auch beweist, wenn nur noch die vierzehnjährigen Söhne einen Receiver programmieren können. Der Receiver war ebenso Gegenstand einer Niederlage, denn das Dorf ist abends ein Hort der Einsamkeit. Also hatten wir uns den Namen der Satellitenschüssel an der Scheune notiert, waren vierzehn Kilometer gefahren und hatten einen Receiver gekauft.

Der letzte Abend auf dem Land - das mitgebrachte Therapiespiel war ausgelotet bis auf die Frage "Sage mir mein Sohn, wer in dieser Runde würde am ehesten einen Fehler zugeben?" - geriet also zum Fernsehabend und Günther Jauch machte das Rennen. Wir sechs hatten schon eine ganze Menge Geld zusammengeraten und waren bereits dabei, es rein theoretisch wieder auszugeben, als diese Frau ins Rennen geschickt wurde. (Es muss für den Fortgang der Geschichte an dieser Stelle erwähnt werden, dass die Frau aus Westdeutschland kam. Integrative Charaktere haben ja Schwierigkeiten damit, hier Gründe für auch nur irgendwas zu suchen, aber dies ist ein Notfall.)

Wenn auf dem Dorf im Fernsehen nichts mehr gesagt wird, spürt man das sofort. Die Stille ist unerträglich. In unserem Fall lag das an der Frage: "Wie heißt der in der DDR lange Zeit verbotene Film, in dem Manfred Krug die Hauptrolle spielte? A - Spur der Steine, B - Spur des Falken, C - Spurlos verschwunden oder D - Spuren im Sand." Die Frau tippte auf "Spur des Falken", war sich aber nicht sicher und wünschte, das Publikum befragen zu dürfen. Das Publikum! Selbst Jauch mit seinem Pokerface, das er sich extra für die Sendung Wer wird Millionär? hat anfertigen lassen, bekam das Flattern. "Wir sind hier in Köln", gab er zu bedenken und "Wenn wir in Chemnitz wären ...", stellte er in den Raum. Aber die Frau blieb bei ihrem Vorhaben und das Publikum entschied mit überwältigender Mehrheit, dass die DDR sich anheischig gemacht hatte, einen Film namens "Spur des Falken" zu verbieten. Da hätte der Jauch auch sagen können, Goijko Mitic sei der Hauptdarsteller gewesen. Diese Frau jedenfalls verließ mit recht wenig Geld das Millionenspiel und wir Großen auf der Dorfcouch gönnten ihr das von Herzen.

An diese Peinlichkeiten erinnerte ich mich also auf der Rückfahrt nach Berlin, dachte darüber nach, mit welcher Frage man mich als ostdeutsch und ignorant im Spiel outen könnte und nahm die falsche Auffahrt. Trotzdem saß ich pünktlich zur Tagesschau auf der Berliner Couch, bekam den aktuellen Golfkrieg ins Haus und danach Günther Jauch bei Thomas Gottschalk.

Später aber, nachdem wir uns en famille mit der Auswertung der "Spur des Falken" noch mal richtig den Kick gegeben hatten, rutschten wir beim Zappen in einen Schwarz-Weiß-Film und mitten hinein in den Satz "Pippst du oder pipp ich? Ich pippe." Ich war die Einzige, die mehr als einen blassen Schimmer hatte. Nackt unter Wölfen - nein wirklich - auf B1, 1963 in der DDR aufgeführt, 1967 in der BRD. Ich war zu Tränen gerührt und plapperte während des Films andauernd eins von früher, was zur Folge hatte, dass die Familie sich das Ganze bis zum Ende anschauen musste. Mir zu gefallen, meiner Erinnerung zu Liebe und für den Frieden. (Im Therapiespiel wird übrigens auf einer Karte gefragt, welchen Wunsch Senioren heutzutage am meisten hegen: Im Lotto zu gewinnen, gesund zu bleiben, oder den Weltfrieden erhalten zu sehen. Die Lösung ist zu deprimierend als dass man sie nennen mag.)

Später am Abend, um 0.45 Uhr, als die Regionalliga Nord übertragen wurde, überlegte ich noch einen kurzen Augenblick, ob man Jauch nicht den Tipp geben sollte, den gerade gesehenen Film in seiner Sendung zu erfragen. "In welchem 1962 gedrehten DDR-Film, der fünf Jahre später in der BRD aufgeführt wurde und Ereignisse im Konzentrationslager Buchenwald zum Thema hatte, spielte Arnim Mueller-Stahl eine Hauptrolle? A - Nackt unter Kannibalen (eine Journalistin entgeht bei einer Expedition zu den Kannibalen im Amazonas nur knapp dem Tod), B - Nackt unter Affen (ein ehemaliger Söldnerarzt macht im Dschungel Riesengorillas durch eine Operation zu gefügigen Sklaven), C - Nackt unter Wölfen (kennen wir) oder D - Nackt über Leichen (Ein Arzt in San Francisco wird des Mordes an seiner Frau beschuldigt, am Ende aber vor der Todesstrafe gerettet). Und das Ganze wieder in Köln. Und der Kandidat weiß nicht weiter. Und dann befragt er das Publikum. Und das Publikum entscheidet sich für A oder B. Und ich find's toll. Weil mich manchmal nichts so aufbaut, wie ein bestätigtes Vorurteil.

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