Ich bin lange von Zivilisationskrankheiten verschont geblieben. Obwohl ich als Hauptstädterin zugleich Nutznießerin aller möglichen zivilisatorischen Errungenschaften sein kann, ging der Kelch an mir vorüber, dafür den Preis eines jährlichen Heuschnupfens zahlen zu müssen oder gar an Übergewicht zu leiden, das sich einzig und allein aus Big Macs und Marshmallows nährt.
Schlaflosigkeit, endogene Ekzeme, chronische Bronchitis, Bluthochdruck, erhöhte Cholesterinwerte, Ticks und Psychosen - nichts von allem hat bislang meinen ungestählten Körper heimgesucht.
Umso mehr verblüffte mich ein Kopfgeräusch, das sich nicht aus dem Lärm der Stadt rekrutierte, sondern geradezu in meinem Fronthirn zu entstehen schien, um sich beim Ton einer Handkreissäge einzuspielen. Damit gehörte ich nun zur Gemeinde und konnte überlegen, ob ich jetzt abends zum Einschlafen immer laut Musik hören will oder lieber zum Arzt gehe. Die Sache mit dem Arzt erschien mir erfolgversprechender, zumal mir viele, denen ich von der plötzlichen Wendung in meinem Leben erzählte, versicherten, ein Tinnitus sei wie ein guter Freund: Er verließe eine niemals.
Ich suchte im Telefonbuch nach der nächstgelegenen Praxis, die sich für Hälse, Nasen und Ohren zuständig erklärte. Es war eine Praxis der fröhlicheren Art, zwei Ärzte und eine Ärztin, die sich offensichtlich noch aus Zeiten des staatlichen Gesundheitswesens der DDR kannten, zwei burschikose Schwestern, von denen sich eine meiner annahm, nachdem entschieden war, dass ich an einen Tropf gehöre. Da lag ich dann, hörte mir von meiner älteren Tropfnachbarin launige Geschichten an, guckte aus dem Fenster und ließ mich in den Abend hinein volltröpfeln mit einer Substanz, die meiner kleinen Handkreissäge im Hirn den Garaus machen sollte.
Das ging dann auch ein paar Tage gut, bis sich langsam aber stetig, der Tinnitus wieder zu Wort meldete und ich mich mit dem Gedanken anfreunden musste, dass dies nun vielleicht einfach zu mir gehöre, wie mein sonntägliches Stimmungstief und die montäglichen Fluchtgedanken. Das Anfreunden fiel mir nicht so schwer, wie ich befürchtete, bietet doch die Stadt eine Geräuschkulisse, die so eine kleine Handkreissäge mühelos übertönt. Ich musste mich am Tage schon sehr konzentrieren, um das eigen produzierte Geräusch zu substituieren und dankte allen guten Geistern, die bislang dafür Sorge getragen hatten, dass mich nie eine Sehnsucht nach einem Leben auf den Land befallen hatte.
Die Abende allerdings, die vielen Berliner Abende, bedürfen nun mehr als bislang meiner besonderen Aufmerksamkeit, denn auch in der Metropole kann es einer passieren, dass sie am Abend in ein Tonloch gerät und zurückgeworfen ist aufs Hausgemachte, zu dem der missliebige Ton gehört, den abzuschalten niemand so einfach in der Lage ist.
Alle Vergnügungen, die diese Stadt bietet, mit Ausnahme eines Pantomimeabends, haben ausreichend Geräuschkulisse. Kino eignet sich natürlich besonders gut, aber auch jede Kneipe und fast alle Restaurants genügen meinen derzeitigen Ansprüchen an Beschallung, ebenso Theater, Lesungen, Kaufhäuser und Empfänge. Bioläden und Reformhäuser sind eher schlecht, da herrscht zwischen Johanniskrautpräparaten und Dinkelbrot tödliche Stille. Bahnhöfe sind ideal, Spaziergänge in der Nähe der Magistralen ebenso, Parks müssen gemieden werden, Sauna und Yogakurse verbieten sich von selbst.
Ich spüre, wie ich ein ganz neues und bislang nicht bekanntes Verhältnis zu dieser Stadt aufbaue. Meine Klagen über Lärm und mangelnde Ruhepunkte sind verstummt, ich rege mich nicht mehr über Baulärm, Technobeschallung aus tiefgelegten Autos, Kaufhausfunk - "Hören ohne zu stören, kommen sie in unsere Audioabteilung" - und lauthals angepriesene Probeabos auf.
Mein Verhältnis zu bohrenden, musikhörenden, fernsehguckenden, dreiradfahrenden Nachbarn und Nachbarskindern ist entspannt, ich bin ausgesöhnt mit den Computerspielen meines Sohnes und den Pro 7-Exzessen der Tochter, ich freue mich über den Aushang der Firma Antik am schwarzen Brett des Hauses, der mir eine weitere Badsanierung im sechsten Stock ankündigt.
Es gibt nur einen wirklich heiklen Moment an jedem Tag in meinem Leben. Einschlafen hat seine spielerische Leichtigkeit verloren. Nachts, wenn die braven Nachbarn längst im Bett liegen, verschwört sich die ganze riesige Stadt gegen mich und hält, ich kann es nicht anders beschreiben, den Atem an. Dann bin ich zurückgeworfen auf mich, den Himmel über mir und die kleine Handkreissäge in meinem Kopf.
Ich bin auf der Suche nach Tricks. Einen habe ich kürzlich durch Zufall gefunden, weil ich vergessen hatte, den Drucker auszuschalten. Meinem Personal Laser Writer sei Dank, schlief ich so ganz gut ein. Das sind doch schöne Aussichten.
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