Meine Freundin ist noch keine 35 und hat bereits den ersten Kreis ihres Lebens geschlossen. Vor einigen Tagen zog sie um. In das Haus ihrer Kindheit, das soviel Menschen beherbergt, wie ein kleines Dorf. Nun wohnt sie in der zehnten Etage und hat einen grandiosen Blick auf die Welt. Wenn er nicht am Friedhof kleben bleibt, der gleich am Haus beginnt, kann meine Freundin bei gutem Wetter wahrscheinlich bis in den Oderbruch sehen. Sie wäre als Frühwarnsystem für Hochwasser zu gebrauchen. Oder sie könnte Ausschau nach polnischen Schwarzarbeitern halten, die, wie mir kürzlich ein Volkshochschullehrer erklärte, der Kurse für Existenzgründer gibt, bevorzugt nach Deutschland kommen, um Briefkastenfirmen zu gründen, mit deren Hilfe sie deutsches Geld abzocken. Der Volkshochschullehrer, diese Abschweifung sei gestattet, hatte mich sehr an den Bundeskanzler erinnert, der mit dem Satz "Es gibt kein Recht auf Faulheit" in Kombination mit dem Lehrer bei mir die Frage entstehen ließ, wie es eigentlich um das Recht auf Dummheit bestellt sei.
Nun wohnt meine Freundin also wieder da, wo sie schon mal war, und ihre Wohnung ist klein genug, um nach zwei Tagen Arbeit den Eindruck zu erwecken, jetzt sei alles perfekt. Demzufolge konnte man am dritten Abend bereits feiern. Am Morgen vor diesem Abend hatte ich noch bei IKEA vorbeigeschaut, ob sich nicht doch ein hübsches Einweihungsgeschenk im Tempel der "Preiswert aber nicht billig-Kultur" fände. Aber alles schien mir für die kleine Wohnung zu groß. Selbst die schlichten Glasvasen für neun Mark das Stück muteten zu wuchtig an, um wirklich als ein überlegtes Geschenk durchzugehen. Ich entschied mich für die persönliche Variante und schenkte meiner Freundin alle alleinstehenden Ohrringe, die sich im Laufe der vergangenen zehn Jahre bei mir gesammelt hatten - ich verliere Ohrringe in etwa so oft, wie die Fassung. Das war ein schönes Geschenk, denn meine Freundin kann immer nur einen Ohrring tragen. Das zweite Ohrläppchen hat sie sich im Selbstversuch verstümmelt.
Wir verteilten die Ohrringe auf dem selbstgebauten Tisch meiner Freundin, der die einst innen liegende Küche, der man mit einer Durchreiche zu Licht verholfen hatte, mit dem Wohnzimmer verbindet. Könnte also auch eine Bar sein, der Tisch, obwohl diese Plattenwohnungen einem das Wort "Bar" immer wieder in den Hals zurück stopfen, wenn man es aussprechen will. Und wie das so mit Ohrringen ist, es gibt fast immer eine Geschichte dazu: Den hab ich in Florenz gekauft, den hat mir der Liebste geschenkt und der hier, weißt du noch, dass ich dazu immer dieses Pepita-Kleid ...
Ab und zu ging jemand aufs Klo und schon beim zweiten Mal verharrte die Runde dann andächtig einige Sekunden und lauschte dem Nachhall der Spülung, die am Schluss immer noch einen "lauten Furz" ließ, wie meine Freundin es nannte. Aber so sind Klospülungen und Hochhäuser auch. Sie geben Geräusche von sich, die man noch nie zuvor gehört hat. Fahrstuhl, Lüftung, Tauben auf dem Balkon - alles muss erst seinen Platz im Kopf bekommen. Bis es soweit ist, hat man andauernd kurze und heftige Angstgefühle. Wir tranken uns also an diesem Abend langsam und kontinuierlich ein bisschen duselig und redeten über Hochhäuser und Alleinsein und leere Flure und Frauen und Männer, die den ganzen Tag aus dem Fenster schauen.
"Die haben mich hier wiedererkannt", sagte meine Freundin irgendwann. "Ich hab als Kind hier gewohnt und jetzt erkennen die mich immer noch wieder, die Nachbarn. Sind die ganze Zeit nicht weggekommen aus dem Haus."
"Will man auch nicht immer - wiedererkannt werden", murmelte der Liebste, stand auf und stopfte eine zusammengelegte Zeitung unter den Kühlschrank. Sofort waren wir um ein Geräusch ärmer in der Wohnung. "Freuen die sich denn dann, dich hier wieder zu sehen?", fragte ich meine Freundin. So schlimm sei es auch wieder nicht, gab sie zu. "Sie fragen mich einfach, ob ich hier nicht schon mal gewohnt habe." Wir schlugen ihr vor, sich prophylaktisch eine gute Begründung auszudenken, warum sie wieder in dieses Haus gezogen sei. Nur keine nostalgische dürfe es sein, einigten wir uns. Im Angesicht eines Hochhauses könne man schlecht sagen, es hätte einen wieder zurückgezogen in die alte Heimat. "Sag, du bist auf der Durchreise", schlug ich vor. "Färb dir die Haare und mach auf Verwechslung", empfahl mein Sohn. Wir steigerten uns ein wenig in den Gedanken hinein, wie meine Freundin inkognito bleiben könnte in dem Haus. Bis es uns irgendwann ein bisschen komisch vorkam, dass dies nun der Wunsch aller Wünsche sein sollte. Besser wäre doch, sich zu wünschen, dass jemand die Klospülung zum Schweigen bringt oder die Tauben vergiftet oder das Getriebe vom Fahrstuhl schmiert.
Denn wann wird man in Berlin schon mal wiedererkannt?
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