Seit ich gelernt habe, dass die Welt sich verändert, während die Philosophen sie interpretieren, und es im Zweifelsfall eher darauf ankommt, sich mit den Veränderungen zu arrangieren, anstatt die Interpretationen zu kennen, ist manches einfacher und vieles langweiliger geworden. Ich lese noch immer die Wissenschaftsbeilagen und Feuilletons, aber nur selten findet das Gelesene Eingang in abendliche Streitgespräche.
Trotzdem war ich nachhaltig beeindruckt von der Tatsache, dass Craig Venter, der Entzifferer des menschlichen Erbgutes, vor zwei Jahren auf die Zahl 34.000 gekommen war. Der Mensch, so die sich daraus ableitende Erkenntnis, verfügt nur über doppelt so viel Gene wie ein Fadenwurm. Es hat nichts mit Enttäuschung zu tun, aber als ich mir dann beim Abendessen meine Kinder anschaute, kam mir schon der Gedanke, dass ich vielleicht auf diesen Wissenszuwachs gern verzichtet hätte. Ich selbst habe mich als Doppelfadenwurm ganz gut durchs Leben geschlagen, aber das ist ja möglicherweise nur dem Glück der Unwissenden geschuldet. Meine Kinder werden sich jetzt vielleicht einbilden, ein Fadenwurm hätte auch das Zeug zum Regelschulabschluss, und ihre eigene Leistung unter den Scheffel stellen.
Erst durch die späteren Folgetexte in den Wissenschaftsbeilagen der Tageszeitungen ist mir klar geworden, dass die gemeinsamen Abendessen mit der Craig´schen Erkenntnis eine ganz neue Bedeutung erlangen. Sie waren zwar schon immer dazu da, miteinander zu reden und wenn es sein muss, zu streiten, aber bislang konnte die Erfüllung schon darin liegen, dass ich erfahren habe, wie meine Tochter an die Handynummer von Marco gekommen ist und was sie jetzt damit zu tun gedenkt. Es machte mich grundlos glücklich, in die Geheimnisse einer Partyvorbereitung eingeweiht zu werden, oder mich darüber aufklären zu lassen, dass Johnny Depp der weltbeste Schauspieler ist - besser noch als Tom Felton, den ich nicht kenne.
Nun hat die Fadenwurmerkenntnis aber zu der Schlussfolgerung geführt, dass nicht die Gene, sondern die Umwelt und - Gott sei´s geklagt - die Erziehung entscheidend für unser Handeln sind. "Wir sind freier, als uns klar war", titelte eine Zeitung. Übersetzt: Wir können viel mehr Scheiße bauen als bislang angenommen. Damit rückte die persönliche Verantwortung von Erziehungsberechtigten für die Nachkommenschaft wieder in den Mittelpunkt des Denkens und der gemeinsamen Abendessen. Was muss man in der einzigen Stunde des Tages, die der Kommunikation von Angesicht zu Angesicht zur Verfügung steht, alles leisten, um zu verhindern, dass ein doppelter, aber schlecht erzogener Fadenwurm in vier Jahren versucht, eine Lehrstelle zu bekommen? Und sind die besten Gelegenheiten nicht schon längst verpasst?
Weit war ich noch nicht gekommen mit diesen Überlegungen, als in den gleichen Wissenschaftsbeilagen und Feuilletons die Hirnforscher Wolf Singer und Gerhard Roth zu Wort kamen: Nichts da mit freier Entscheidung, neuronale Prozesse bestimmen unser Denken und Handeln, Freiheit und Verantwortung gibt es gar nicht, sagen die beiden, nachdem sie jahrelang auf die Suche nach dem freien Willen gegangen waren. Und ihn offensichtlich nicht fanden.
Mit dieser Behauptung machten die Männer meine Rolle beim Abendessen mit Kind und Kegel obsolet, nachdem ich gerade versucht hatte, sie neu zu bestimmen. Schluss mit Erziehung und abwarten, was der Zeugungsakt, offensichtlich einem Urknall ähnlich, da so zusammengewürfelt hat, schien die Botschaft zu sein.
Nun habe ich mir eine Mappe angelegt, in der die Texte zum Thema freier Doppelfadenwurm oder unfreier Determinator aus Wissenschaftsbeilagen und Feuilletons gesammelt werden. Auch dieser Streit wird ein Ende haben und die Waagschale wird sich neigen, dessen bin ich gewiss.
Neigt sie sich zu den frei handelnden Doppelfadenwürmern, kann ich noch einmal durchstarten und thematische Abendessen veranstalten. Das wäre anstrengend, aber sicher auch befriedigend. Zumindest für mich. Und für den Liebsten sowieso.
Neigt sie sich in Richtung unmöglicher Willensbildung, schadet es nichts, eine halbe Stunde über den Schlampenscheitel von Shakira zu reden. In diesem Falle haben die neuronalen Prozesse im Hirn meiner Tochter sowieso schon längst festgelegt, ob sie eine Nachahmerin von schlampenscheiteltragenden, hüfteschwingenden Schönheiten ist oder Kurzhaarschnitte und die Lektüre moderner Prosa bevorzugt.
Der Liebste und ich können dann auf der Basis der bei Geburt festgelegten Vorlieben und Neigungen vorwurfsfrei über die Semantik im Zeitalter der Popliteraten reden oder über den möglichen Rücktritt von Huub Stevens philosophieren. Ich halte uns für fähig, in beiden Fällen das Richtige tun zu können. Obwohl das nun wieder für den doppelten Fadenwurm mit freiem Willen spräche. Oder?
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