Lieber nicht aus dem Flugzeug schauen. Der Anflug auf Calcutta machte die Ohren schmerzen, trotz des Bonbons, das sie dagegen zu lutschen begonnen hatte. Aus Bangalore kam sie, wo sie vorgestern Abend aus einem ihrer Romane gelesen hatte. Das heißt, eigentlich hatte sie nur ein kleines Stückchen in ihrer Muttersprache ins Fremdvaterland Indien hineingenuschelt, ehe eine Frau die vorgesehene Passage in Kannada, der Landessprache Karnatakas, regelrecht zu deklamieren begonnen hatte. Ein junger Mann war ihr ins Wort gefallen: Er sei Bengale und nur aus Calcutta nach Bangalore gekommen, um die Autorin zu hören, sagte er in erstaunlich akzentarmem Englisch. Kannada verstünde er nicht. Daraufhin hatte ihm jemand einen englischsprachigen Ausdruck überreicht, und er war still geworden. Sie jedoch hatte verstohlen zu ihm hinübergeschaut, wie er sich in die auf seinen Knien liegenden Seiten versenkte, und glaubte ihrem Englisch nicht trauen zu können. War in seinen Augen nicht Fieber auszumachen gewesen? Hatten sie nicht ungesund geglänzt? Jetzt, da sie daran dachte, kam ihr auch seine prompte Frage nach der Lesung wie im Fieberwahn gestellt vor: Was hätte sie veranlasst, die vier Veden für ganz Europa salonfähig zu machen? Zwar wusste sie, dass es vier Veden gab, aber man sollte den Indern lassen, was den Indern gehört, hatte sie vor ihrer Reise gedacht und die Lektüre verweigert. Für ganz Europa salonfähig gemacht? Jetzt lächelte sie, wusste nicht genau, ob über den jungen Mann oder ganz Europa, auf keinen Fall aber über die vier Veden. Die standen ihrem Lachen fern, irgendwo hinter golddurchwirkter Seide. Aus der Jackentasche zog sie das Kärtchen hervor, das ihr der Junge gereicht hatte: R. Gangopadhyay, las sie, 68 Broad Street, 5th floor, Kalkutta 700019. Eine E-Mail-Adresse. Wer weiß, wessen Kärtchen das war. Der Junge war verrückt.
Im Hindustan International, einem Hotel in zentraler Lage Calcuttas, wollte sie erst einmal nichts als schlafen. Die Nacht verging. Zunächst klang das Klopfen wie die Balgereien von Ratten. Das Geräusch erreichte sie im Traum verwehte im Halbschlaf. Dann wurde es stärker, mischte sich mit dem Geschrei der Männer, die sich am Hydranten auf der anderen Straßenseite wuschen. Ja, jemand wummerte an ihre Tür. Unwillig erhob sie sich. Schlurfte. Öffnete einen Spalt und schlug die Tür im selben Augenblick wieder zu. Draußen stand er. Der verrückte Bengale. Tatsächlich. Woher wusste er, in welchem Hotel sie abgestiegen war? Wie hatte er sich die Zimmernummer beschaffen können?
Sie straffte sich und riss die Tür wieder auf. Hinter dem Jungen stand der Hotelboy mit verschreckt unsicherem Gesichtsausdruck. Sicher war Bakschisch geflossen, dachte sie, ehe er die Zimmernummer herausgerückt hatte. Zur Hysterie wollte sie Zuflucht nehmen, hatte sie eben noch gedacht, aber im Anblick der beiden Männer verflog sie. Sie seufzte. Sagte dem einen, dass sie den anderen nicht kenne und nicht sehen wolle, und den anderen fragte sie, was er dem einen gezahlt habe. Der andere lächelte nur, schickte mit den Augen den Hotelboy fort. Sie fertigte ihn dennoch an der Tür ab, indem sie weiteren Kontakt verweigerte und mit der Polizei drohte, falls er sich nicht verzöge. Auch darauf lächelte er und bat um eine Uhrzeit, zu der sie einander sprechen könnten, in der Hotelhalle zum Beispiel. Es war acht Uhr morgens. Am Abend würde sie hoffentlich genügend Leute getroffen haben, die ihr im Falle des Falles behilflich sein könnten, dachte sie und gewährte Audienz: Gegen 17 Uhr?
Er nickte, verschwand.
Ihr war nicht nach Frühstück. Ebenso wenig war ihr danach, die Sahitya Academi aufzusuchen, aber sie war gehalten, das zu tun. Diese nationale indische Literaturakademie hatte natürlich auch in Westbengalen eine Dependance, die ihren Aufenthalt bezahlte und sich um die Reiselogistik kümmerte. Zum Beispiel um den Chauffeur, der ihr an jedem ihrer Etappenziele zur Verfügung stand. Mit dem hiesigen war sie für 9 Uhr verabredet, er würde sie zur Akademie bringen. Sie duschte, zog das dünne graue Kleid mit den Streublümchen an.
Als sie im Auto saß, spürte sie den Magen. Nicht, dass er schmerzte, aber er zog sich rhythmisch zusammen und gab Geräusche von sich, für die sie sich geschämt hätte, wenn das Knattern des Ambassadors nicht lauter gewesen wäre. Sie stutzte: Hammer, Sichel und roten Stern hatte sie in Indien bislang nicht gesehen, und hier waren ganze Häuserzeilen mit diesen Symbolen bemalt. Ihr fiel ein, dass Calcutta seit 1977 eine Links-Front-Regierung hatte mit der Communist Party of India (Marxist) als wichtigstem Partner. Irgendwie flößte ihr das inmitten der Fremdheit hier ein eigenartiges Vertrautsein ein: Kommunistische Parteien hatten ihr in der Kindheit versprochen, sich um sie zu kümmern, und in diesem Glauben war sie groß geworden. Dieses Vertrautsein hielt auch in der Sahitya Academi an. Sie fühlte sich zwanzig Jahre rückversetzt ins kirgisische Frunse, wo sie Tschingis Aitmatov hatte aufsuchen sollen mit einer Sendung vom Kinderbuchverlag der DDR. Aitmatov war natürlich nicht da gewesen, sondern nach Moskau zum Allunionskongress unterwegs, aber die Funktionäre des kirgisischen Schriftstellerverbandes hatten sie damals empfangen. Sie hatten genauso ausgesehen wie die der Sahitya Academi, und dass sie sie ernst genommen hätten, wäre das Letzte gewesen, was sie hätte empfinden können. Altmännergilden mit Tee servierenden Hilfsfrauen. Hatte sie damals schon das geltende Schönheitsideal meilenweit verfehlt, so kam hier auch noch die Alterung um zwanzig Jahre hinzu. Beide Tatsachen machten sie zu einem Objekt des Desinteresses. Sie war froh, rasch wieder entlassen zu werden, aber man hatte ihr einen jungen Mann namens Raja beigeordnet, der fortan die Führung übernehmen sollte. Nach einem schweren halben Tag war sie satter als zu erwarten gewesen wäre und zog sich mit angeblichem Kopfschmerz zurück. Durch die Gardine des Hotelzimmerfensters spähte sie hinaus, und tatsächlich entfernte sich der junge Mann, hatte ihr aber die Versicherung abgenommen, morgen nicht etwa alleine loszuziehen, sondern auf seinen Anruf zu warten.
Erleichtert sank sie in den Sessel.
Im Fernsehen Bollywood-Filme. Sie hatte begonnen, sie als Hintergrund regelrecht zu lieben, vor dem sie nun darüber nachdachte, wie der Beobachtung durch die Sahithya Academi zu entkommen sei. Was hatte Raja gesagt? Morgen in die Dwarakanath Tagore Lane, ins Geburts- und Sterbehaus des alten Rabindranath? Museum of Fine Arts? Kalighat-Tempel? Segull Bookstore? Und hatte er nicht gar von einer Fahrt nach Belur Math gesprochen, im Norden von Kolkatas benachbartem Howrah, zum Sitz der Ramakrishna-Mission? Das alles interessierte sie. Es wäre zum ersten schwierig gewesen, sich durch das Verkehrsgewühle mit dem Fahrer allein hindurchzufizzeln, und zum zweiten war jemand, der für raschen Eintritt sorgen konnte, in Indien einfach Gold wert... Wieder seufzte sie. Es war sinnlos, ihn abschütteln zu wollen, weil es sinnreich war, seine Ortskenntnis auszunutzen.
Bis 17 Uhr war nicht mehr viel Zeit. Sie hatte dem jungen Sahithya-Mann nichts von jenem anderen erzählt, der ihr vorgestern in Bangalore und heute hier in Calcutta begegnet war, und sie wunderte sich nicht einmal darüber, sich darüber nicht zu wundern. Wenn er verrückt war, war er eben verrückt. Sie traute sich auf einmal zu, mit ihm umzugehen. Blieb sie mit ihm unter Menschen, konnte wohl nichts passieren, und unter Menschen zu bleiben, war in Calcutta alles andere als eine Kunst. Sie schminkte sich die Lippen in dunklem Braunrot. Wenn schon nicht dem geltenden Ideal, so wollte sie doch ihrem persönlichen Schönheitsoptimum nahe kommen. Ein wenig Mascara noch und das russische Parfüm, das Kleid behielt sie an. Lief die Treppen hinunter in die Hotelhalle, wo er bereits saß und sich erhob, sie zu begrüßen. Er wollte aber über nichts mehr reden, sondern zog sie am Arm aus dem Hotel. Sie liefen auf den Maidan zu, Calcuttas größten Park mitten in der Stadt. Um diese Jahreszeit glich er eher einer Sprenkelgrünfläche. Hier, so zeigte er mit vor Begeisterung rudernden Armen, wird jedes Jahr am Übergang vom Januar zum Februar die Calcutta Book Fair veranstaltet, you know? Sie wusste natürlich nicht und hörte ihm zu, wie er das weitläufige Gelände mit Wortschnüren abzirkelte, an nationale und internationale Verlage verteilte, Buden erbaute, an denen es zu essen und zu trinken gab und an jede erdenkliche Ecke einen Poeten setzte, der seine eigenen Verse vortrug, die man dann gleich kaufen konnte, handgeschrieben oder in Kleinstauflagen selbst verlegt. Frankfurt fiel ihr ein im regennassen Oktober. Eine Freiluftmesse? Es schüttelte sie unmerklich, als tatsächlich ein Schauerregen einsetzte, der sich zum Glück schnell wieder verzog.
Dass er sie lenkte, merkte sie erst, als sie vor einem großen, modernen Kino ankamen und er die Eintrittskarten aus dem Ärmel zog. Ein bengalischer, brandneuer Film über die Zeit der 70er Jahre. Charu Mazumdar, der Vorsitzende der Communist Party of India (Marxist-Leninist), war 1972 festgenommen worden. Er hatte sich in maoistischer Manier die Vernichtung des Klassenfeindes auf die Fahnen geschrieben und starb zwei Wochen nach seiner Festnahme im Gefängnis. Weitergehende Revolten seiner Anhänger wurden von Polizei und Militär zurückgeschlagen, bis sie Ende der 70er Jahre verstummten. Der Film verhandelte die Geschichte einer jungen Lehrerin, die als Naxalitin in Haft geriet, wieder freikam, ihren ebenfalls haftentlassenen Geliebten heiratete und nicht mehr glücklich wurde, weil er die fürchterlichen Narben, die die Haft auf ihrem Rücken hinterlassen hatte, zu hässlich fand, als dass er ihr hätte zu nahe kommen wollen. Über weite Strecken des Films sang seltsamerweise Ernst Busch, sprach Salvador Allende und dazwischen Otto Mellies vom Deutschen Theater Berlin: Die 1973 in der DDR edierte Schallplatte "Es lebe Chile! Es lebe das Volk!" mit Allendes letzter Rede gehörte im Film dem Freund der jungen Lehrerin und wurde, im westbengalischen Calcutta, in geheimer Runde aufgelegt, ehe sie sich zum Hintergrundrauschen des Films mauserte. Zu Hause in Berlin stand diese Platte in ihrem alten Schrank, es war vielleicht 25 Jahre her, dass sie sie zum letzten Mal gehört hatte. Das klickende Bengali der Schauspieler rankte sich in losen Schnörkeln um die deutsche Plattensprache, die sie als weiteres unvermutetes Zeichen aus ferner Vergangenheit empfing ...
Das Publikum beklatschte den Film. Sie stand auf und sah sich nach ihrem Begleiter um. Er war verschwunden. Seltsamerweise hatte sie damit gerechnet.
Als sie Wochen später wieder in Deutschland war, wurde ihr klar, dass sie die letzten Tage von Calcutta miterlebt hatte. Seit Januar 2001 gab es nur noch Kolkata. Die Calcutta Book Fair hieß nun Kolkata Boi Mela, und wenn sie die Augen schloss, kam manchmal ein junger Bengale vorbei und behauptete, nur ihretwegen den weiten Weg gemacht zu haben.
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