Das Projekt der Täuschung

Schule des Schwarzsehens Aleksandar Tis?mas Erzählungsband "Ohne einen Schrei"

Wieder gibt es ein Buch Aleksandar Tis?mas auff deutschen Büchertischen: Der Erzählungsband Ohne einen Schrei, im Jahre 1980 erstmals bei Nolit in Belgrad erschienen, reicht der außerhalb seines Sprachkreises so verspäteten Publizität des Autors aus Novi Sad wiederum ein Stück ihres Fundamentes nach. Nachdem Tis?ma mit dem 1991 erschienenen Roman Der Gebrauch des Menschen auch in Deutschland bekannt geworden und bald mit verschiedenen europäischen Buchpreisen bedacht worden war, wurde nach und nach sein Romanwerk zugänglich gemacht, obwohl seine Bücher nach den Gegebenheiten des Buchmarktes längst "alte Hüte" sein mussten - ihre Entstehung lag zuweilen Jahrzehnte zurück. Dass sie für den sich zivilisiert dünkenden Mitteleuropäer den Schein der Hoffnung transportierten, die anscheinend ethnisch motivierten Auseinandersetzungen auf dem Territorium der verblichenen Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien des Josip Broz Tito erklären zu helfen, ihre in unbekannten Vergangenheiten ruhenden Wurzeln freizulegen, mag sie zusätzlich befördert haben. Was es hingegen zu entdecken galt, war ein im besten Sinne des Wortes unpolitischer Autor, der sich zudem offen dazu bekennt, kein Mann der Tat zu sein. Ein Feigling geradezu, wie er sich selbst einmal in einem Interview mit der Schweizer WoZ nannte. Einer, dessen Romane und Erzählungen politischer Analyse nicht einmal als Hilfsmedium dienen können.

Seine Art der Querwahrnehmung, die Abgründe von Terror, Mord und Gewalt im vergangenen Jahrhundert einer hoffnungslos dunklen Natur des Menschen zuzuschreiben, ja, den Menschen als ein sich auf ewig durch die "Schule der Gottlosigkeit" quälendes Kind-Monstrum anzusehen, lässt den Atem stocken. Gerade diese Art des Schwarzsehens aber eröffnet Räume, die hinter den törichten Konstruktionen eines falsch verstandenen Fortschrittsglaubens verborgen bleiben müssten - gäbe es nicht Autoren wie Aleksandar Tis?ma.

Ohne einen Schrei versammelt neun Geschichten, die allesamt aus dem historischen Nichts des Nachkriegsjahrzehnts erzählt werden. In einem ruhig dahinlaufenden Einerlei alltäglicher Verrichtungen in ärmlichen Haushalten der jugoslawischen Provinz, auf staubig verdämmernden Dorfstraßen, im nächtlichen Dunkel von Uferböschungen entstehen durch zunächst unmerkliche Verrückungen des Gewohnten, des Sichtbaren kleine Wirbel, die zu unbarmherzigen Strudeln elementarer Gewalt aufschwellen. Die Erzählung Sein ganzes Ich, in der ein als verkanntes Genie an einem imaginären Buch werkelnder Sprachlehrer seine ihm treu ergebene, sich aufopfernde Ehefrau und hernach sich selbst mordet, wird in einem ruhigen Ton der Beiläufigkeit erzählt, gewissermaßen von der Figur des Erzählers, dem Neffen des Mörders, sanft hin- und her diskutiert, um einer seltsamen Gerechtigkeit willen. Aus Barmherzigkeit habe der Onkel gemordet, beschließt der Erzähler nach eingehender Abwägung. Immerhin hatte die Frau einmal, vor vielen Jahren, versucht, sich das Leben zu nehmen, als ihre Eltern einer Verbindung mit dem erfolglosen Autor nicht hatten zustimmen wollen. Durch diesen Akt war die Ehe letztlich doch zustande gekommen, die Zustimmung den Eltern abgepresst worden, wenn auch die ewig kränkelnde Frau sich von der Tat nie hatte gänzlich erholen können. Der Mord ereignete sich schließlich kurz nachdem der Mörder eine negative Begutachtung seines Manuskriptes hatte erfahren müssen. Um seiner Frau das Eingeständnis zu ersparen, "daß ihr schönes aufopferungsvolles Zusammenleben ein Trug gewesen war", brachte er zunächst sie, dann sich selbst um und schloss damit jene Klammer, in die seine Ehe gefasst war: Er vollendete, was seine Frau vor fünfzehn Jahren mit ihrem Suizidversuch begonnen hatte, er beseitigte unwiderruflich dieses große Projekt der Täuschung zwischen zwei Menschen.

Andere Geschichten, Rückkehr zum Frieden zum Beispiel, führen ihre Titel ad absurdum, indem die Figuren aus Kriegszeiten eben nicht zurückkehren können in einen wirklichen Frieden, weil der Krieg in ihnen selbst zu Hause ist, sie ihn nicht aufgeben können aus alter Gewohnheit oder aus der Unfähigkeit, sich außerhalb ihres inneren Krieges neu zu orientieren. Der Mörder Susnjar, schreibt Tis?ma, "verstand es nicht, nach dem Krieg die Fäden seines schon dreimal begonnenen Lebens zu sammeln und zu etwas Normalem zu bündeln, das ihm zukam." Zucht und Fortsetzung der Zucht, sei es im Militär, bei den Partisanen oder im Gefängnis, wo er unter anderem bereits einen Mord abgesessen hat, gebieten seinen Kräften Einhalt mit festen Grenzen, denen er sich lieber unterwirft als den Fährnissen ungewisser Freiheit. Er begeht neuerlich einen Mord, erschlägt den Bruder jener Nachbarin, die sein sexuelles Begehren abgewiesen hatte, und der so sinnbildlich zum Opfer einer Kraft wird, für die es keine Verwendung zu geben scheint. Der klägliche Erfolg des Opfers, nämlich mit der unansehnlichen Ehefrau eines anderen durchgebrannt zu sein, macht ihn zum Feind, erhöht ihn in Susnjars Augen zum Unwertesten unter denen, derer er habhaft werden kann.

Die historischen Ereignisse des Jahrhunderts, das in etwa so alt ist wie der Mörder selbst, lässt Tis?ma dabei keineswegs außen vor, sie geben allerdings nur die Kulisse für eine Handlung ab, die sich unabhängig vom jeweiligen Bühnenbild auf ihr fest stehendes Ende zu bewegt. Susnjar etwa, dessen "proletarisch-revolutionäres Bewußtsein" gegen die Sittenlosigkeit seiner Nachbarinnen rebelliert, die "auf Staatskosten Kinder machten", scheint hierin auf der Höhe der gegebenen Zeit und verleibt seinem Handlungsimpuls ein dumpfes Rechtsbewusstsein ein.

Die genaue, kenntnisreiche Verankerung allen Geschehens in den konkreten Lebensverhältnissen seiner nordserbischen Heimatregion lassen die Geschichten zuweilen wie poetische Nachrichten von großer Glaubhaftigkeit erscheinen. Aber sie entfremdet hiesige und dortige Realitäten nicht voneinander, sondern fragt nach der Klammer. Dass die das Buch durchziehende Motivkette der Verquicktheit von Liebe und Hass, Treue und Verrat, Kränkung und Gewalt die Erzählungen nämlich aus ihrer geografischen und historischen Verankerung zu reißen scheint, sie sozusagen blind macht für den eigenen Ursprung, indem sie uns, die LeserInnen, genau darauf hinweist, macht das Format dieses höchst politischen Unpolitischen aus.

Eine solche Schreibhaltung lässt sich nicht durchdeklinieren wie ein beliebiger Gegenstand. Selbst das weiß Tis?ma genau: Er habe alles gesagt.

Schön also doch, dass es Bücher gibt, die viel Zeit zwischen sich und ihre möglichen Leser bringen. Es bleibt Hoffnung auf einen gewissen Vorrat im Serbischen.

Aleksandar Tis?ma: Ohne einen Schrei. Erzählungen. Aus dem Serbischen von Barbara Antkowiak. Carl Hanser Verlag, München 2001, 224 S., 39, 80 DM

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