Der Coup der Poesie

Lesarten Habib Tengours Roman "Der Fisch des Moses"

Habib Tengour wurde 1947 in Mostaganem in Algerien geboren, lebt seit 1958 in Paris, unterbricht den Frankreichaufenthalt allerdings 1972, nach seinem Examen als Soziologe, um in Algerien als Leiter des neugegründeten Institutes für Sozialwissenschaften der Universität Constantine zu arbeiten - einer späteren Fundamentalistenhochburg. Just 20 Jahre später, 1992, wird in Constantine Tengours Schriftstellerkollege Abderrahmane Benlazhar von einem islamistischen Kommando getötet - der Auftakt zu einer beispiellosen Terrorwelle, die Algeriens Intelligenz in den Folgejahren dezimierte. Schicksal? Zufall? Wohl kaum.

Vom Abendlande aus gesehen erscheint ein fundamentalistischer Terrorist am ehesten als Bin-Laden-Verschnitt mit dunkler Haut, dunklen Augen, dunklem Bart und blutverdunkelter Seele, in die sich niemand einfühlen kann, der aus dem Abendlande stammt. Die Abwehr des Fremden tut ein Übriges, nicht nur dem braunen Parteigänger hierzulande die historischen, religiösen, politischen Wurzeln des Terrors sehr bedeckt zu halten. In Tengours Roman Der Fisch des Moses scheinen dessen Triebfedern in einer bildersatten, durchaus feinsinnigen Weise hinter den unzugänglichen Gebirgen des Hindukuschs, aber auch im Frankreich der achtziger Jahre auf. Man ist versucht, sie poetisch zu nennen nach der Lektüre, wohl wissend um die faktische Unvereinbarkeit von Poesie und Terror.

Das scheinbar unergründliche Zusammengehen von Gutem und Schlechtem ist es, das in Gestalt der 18. Koransure den vorliegenden Roman leitmotivisch durchzieht. Moses und sein Diener haben einen Fisch als Proviant auf ihren langen Weg zum Zusammenfluss zweier Meere mitgenommen, den der Diener allerdings unterwegs vergisst. Er gerät zurück ins Meer. Für Moses aber ist das ein Zeichen, von dieser Stelle des Zusammenflusses umzukehren. Dabei trifft er auf den Weisen al-Khidr, den er bittet, ihn in seinem Wissen vom rechten Tun zu unterweisen. Al-Khidr verlangt von Moses Stillschweigen und Geduld in dem, was er erleben wird, aber Moses kann die Gewalt des Alten, die dieser letztlich im Namen des richtigen Zieles begeht, nicht ertragen. Eine rätselhafte Sure, über deren Teil-Deutung der Protagonist dieses Romans immer wieder die Welt vergessen will - und tatsächlich vergisst.

Mourad, studierter und promovierter Physiker, der lange in Paris lebte, geriet aus Weltschmerz und weil ihn die Suche nach dem Sinn des Lebens, "der Urgemeinschaft der Muslime, ihrem brüderlichen Zusammenhalt" umtrieb, als Mudschaheddin nach Afghanistan, um gegen die Sowjets zu kämpfen. Dort, bei der Schlacht um Kabul, trifft er auf Kadhirou und Hasni, zwei alte Freunde aus dem Algerien der Kindheit und Jugend. Die drei bilden ein Trio sehr ungleicher Kameraden, die unterschiedliche Motive zu den Mudschaheddin trieben: Kadhirou ist ein arbeitsloser Klamottenverkäufer, den Frust über das Nichtstun und Wagemut nach Afghanistan verschlugen. Hasni hingegen, ein Automechaniker, ist dem islamistischen Fanatismus erlegen, mit dem er in Paris indoktriniert worden war.

Der Krieg in Afghanistan ist vorbei, als der Roman einsetzt, aber die Metzeleien unter den rivalisierenden Kämpferbanden, Rausch, Mord und Exzess nehmen breiten Raum ein auf dem Weg nach Kandahar, im ersten Teil des Romans. Kadhirou fällt dem Treiben zum Opfer, und bei einer Schmuggelaktion für viel Geld wird auch Mourad schwer verwundet und in einem afghanischen Dorf zurückgelassen, während Hasni, genannt der Afghane, mit dem ergaunerten Geld nach Paris zurückkehrt und dort angeblich auf Mourad wartet. Mit seinem Anteil will der die Überfahrt nach Australien, ins Land seiner von jeglichem Erdboden losgelösten Träume, bezahlen. Der Zwischenstopp in Paris, zweiter Teil und ein Jahr nach dem vorläufigen Abschied der beiden einsetzend, ist denn auch tatsächlich nur als Transitaufenthalt zu betrachten, allerdings auf der Fahrt in den Tod, die Hasni anzettelt und in die Mourad sich hineinziehen lässt unter unabwendbarem Zwang. In einem stetig sich hochschaukelnden Tempo geht es weiter mit Gewalt und Erpressung, wo doch nur noch Raum für Mourads Traumreise schien.

Trotz allem ist es nicht vordergründig action, die den Roman ausmacht: In einer wunderbar verschachtelten, ineinandergreifenden Erzählweise werden Fährten gelegt, Karten gemischt und Blätter aufgedeckt, die es in sich haben. Ein Telefonat wird zum Beispiel an drei verschiedenen Stellen des Romans unter scheinbar anderem Vorzeichen wiedergegeben, stellt sich schließlich jedoch als letztes Lebenszeichen Mourads heraus. Die Gespräche mit Lea, der früheren Pariser Geliebten und Freundin Mourads, jetzt verheiratet mit einem Chirurgen, werden von der Gegenwart in die Zukunft geworfen und sind am Ende Vergangenheit. Was gestern war, passiert heute noch einmal, so scheint es, und enttarnt sich als andere Lesart des Geschehenen. Nichts ist eindeutig, nichts ist festgelegt, und gäbe es die Ewigkeit nicht, gäbe es keine Konstante im Ablauf der Ereignisse. Die Handlung verlischt in einem ruhigen Schlussbild, in dem Mourad wieder über den Fisch des Moses nachdenkt in seinen letzten Augenblicken und darüber, dass er den "Punkt, an dem alles zusammenströmt", erreicht hat: Keine Umkehr, sondern ein Hinübergleiten ins Zeitlose.

"Der Maghrebiner ist immer unterwegs, und er verwirklicht sich nur dort", wie es im Manifeste du surréalisme maghrébin des Autors von 1981 geschrieben steht, könnte als Quintessenz auch dieses Romans gelten - er schildert dauerndes Unterwegssein auch in Momenten der Meditation, deren Ruhe und Bedächtigkeit nur scheinbar sind. Für Mourad ist die rätselhafteste aller Fragen bei der Beschäftigung mit seiner 18. Sure, wie ein toter Fisch zurück ins Meer kommen kann und was Gott ihm damit sagen will. Dass im Namen des Guten und Richtigen Gewalt verübt wird, berührt ihn auf seinen Seelenausflügen nicht sonderlich. Darin liegt vermutlich mehr Wahrheit über die Wurzeln islamistischen Terrors als wir zuzugeben in der Lage sind, und es tut gut, im eigenen Kopf die Metamorphose der vermeintlichen Gotteskriegerschaft in Individuen mit sehr eigenen Zügen wahrzunehmen.

Habib Tengour: Der Fisch des Moses. Roman. Aus dem Französischen von Regina Keil-Sagawe. Haymon, Wien 2004, 272 S., 19,90 EUR


Gute Argumente sind das beste Geschenk

Legen Sie einen Gutschein vom digitalen Freitag ins Osternest – für 1, 2 oder 5 Monate.

Verändern Sie mit guten Argumenten die Welt. Testen Sie den Freitag in Ihrem bevorzugten Format — kostenlos.

Print

Die wichtigsten Seiten zum Weltgeschehen auf Papier: Holen Sie sich den Freitag jede Woche nach Hause.

Jetzt kostenlos testen

Digital

Ohne Limits auf dem Gerät Ihrer Wahl: Entdecken Sie Freitag+ auf unserer Website und lesen Sie jede Ausgabe als E-Paper.

Jetzt kostenlos testen

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden