Der Weg zur männlichen Nation

Von Guru zu Guru In seinem Roman "Der Mystiker oder die Kunst der Ekstase" zeigt der indische Psychoanalytiker Sudhir Kakar aus welchen Motiven der nationalistische Hinduismus wächst

Er gilt, zumindest im Westen, als der bedeutendste Psychoanalytiker Indiens: Sudhir Kakar, der auch als Sach- und Fachbuchautor zur psychologischen Dimension interkultureller und religiöser Konflikte hervortrat. Sein erster, vielbeachteter Roman trug im englischsprachigen Original den Titel Kamasutra oder Die Askese des Begehrens. Die deutsche Übersetzung, 1997 beim Münchener Beck-Verlag erschienen, machte, zumindest auf dem Schutzumschlag, aus der Askese eine Kunst und somit jene Differenz deutlich, die auch dem hier zu besprechenden Buch zu schaffen machen: Jene Differenz zwischen dem selbst bei ausgemachter Gutwilligkeit aggressiven Beharrungsvermögen westlicher Lesart und einer Denk- und Schreibweise, die im Kontext des Gegenwärtigen flüchtig irgendwo hinter Afghanistan verortet wird. Diese Differenz hat wie alle Differenz die Eigenart, mit unterschiedlichen Vorzeichen aufzuwarten - in Abhängigkeit davon, was wovon subtrahiert wird: Zieht der europäische Leser die ihm womöglich mittelalterlich anmutende Mystik hinduistischer Religiosität von seiner eigenen, modernen, hochgeschätzten Aufgeklärtheit ab, bleibt sein Ergebnis positiv und lässt ihn in einem Gefühl der Überlegenheit über die Verrückten lächeln, die Sudhir Kakar nach der Kunst der Ekstase streben lässt. Wenn er aber, zum Beispiel auf der Suche nach einer Alternative zum westlichen Lebensgefühl, sich den hinduistischen Mystikern übergibt und seiner eigenen Aufgeklärtheit einen geringen Wert beimisst, wird er an dem negativen Ergebnis zu leiden haben, das die Lektüre vermutlich hinterlässt: Entmutigung. Wenn er ein Ziel zu finden hoffte, eine sichere Wegbeschreibung gar, wird er enttäuscht sein.
In seinem zweiten Roman läßt Kakar die Lebenslinien zweier Männer (?) einander schneiden. Der ältere von ihnen, als Gopal im Dorf Deogarh unweit von Jaipur geboren und früh ohne Vater, zeigt deutlich feminine Züge, ein sanftes weiches Gesicht und eine betörende Gesangsstimme. Während der Pubertät wachsen ihm Brüste, er nimmt mehr und mehr eine Abseitsstellung unter Gleichaltrigen ein, während die Älteren, insbesondere die Frauen des Dorfes, ihn einladen, zu ihren pujas zu singen. Aufdringlichem Körperkontakt entzieht er sich durch plötzliche religiöse Gesänge, die den Zuhörern Tränen in die Augen treiben. Er vermag sich in Zustände der Entrückung hineinzusingen. Ohnehin abseits stehend, fühlt der Junge frühzeitig eine Berufung zum sadhu, dem Heiligen, der die Stadien zunehmender Vergeistigung des Körperlichen absolviert hat und dem ein Leben der Pilgerschaft zwischen heiligen Stätten und Tempeln nebenbei auch den Lebensunterhalt sichert - erbettelte oder "gestiftete" Nahrung. Nach einem Erweckungserlebnis während der Massage durch einen Tantriker, der ihn für einen Erwählten hält, wählt der Junge den Weg von Guru zu Guru, um sich in der Kunst der Ekstase zu vervollkommnen. Die Verwurzelung religiöser Überlieferung unter den Kasten der weitgehend analphabetisch lebenden indischen Dorfbevölkerung vermag Kakar dabei glaubhaft und staunenswert nachvollziehbar zu vermitteln. Dem Europäer mögliche Lesarten - jene der Flucht eines Intersexuellen vor den Zwängen einer eindeutigen Rolle etwa oder aber der Suche eines begabten, armen Dorfjungen immerhin brahmanischer Abkunft nach einer (Aus-)Bildungschance werden dabei weder bestätigt noch raffiniert unterlaufen, sondern bleiben während der Lektüre, was sie sind: möglich.
Aus dem Jungen Gopal wird schließlich der verehrte sadhu Baba Ram Das in einem Tempel von Jaipur. Kakar lässt die zweite Hauptfigur, den Philosophiestudenten Vivek, Anfang der sechziger Jahre auf den alt gewordenen Baba Ram Das treffen. Aus einer Laune heraus sucht Vivek mit drei Kommilitonen den Tempel auf, um bei dem Guru ein paar amüsante Stunden zu verbringen und sich über dessen Art von Religiosität lustig zu machen, die in seiner Familie verpönt wie gefürchtet ist: Viveks Vater Trilok Nath hält zum Beispiel die Schwäche der indischen Nation gegenüber dem britischen Kolonialismus für eine Folge des religiös motivierten Vegetarismus. Er ist ein wohlhabender Mann und Richter am Hofe des Maharadja von Jaipur. Seinem 1945 geborenen Sohn will er höchstmögliche Bildung angedeihen lassen und ihn von "religiösem Spuk" fernhalten, auch um die Wunde nicht spüren zu müssen, die sein Vater der Familie einst schlug: Er verließ seine Frau wenige Tage nach der Geburt Trilok Naths, um ein sadhu zu werden. Die Kunde von seinem weiteren Lebensweg - von zwei kurzen, haarsträubenden Begegnungen mit seiner Frau abgesehen - erreicht die Angehörigen nur sporadisch und aus großer Ferne.
Vivek verfällt Bab Ram Das auf eine ihn zunächst selbst überraschende Weise. Er gibt sogar, nach dem Tod des Vaters, sein Studium auf, um sadhu zu werden. Allerdings ist seine Motivation hierzu auch von der Idee getragen, sich damit der erdrückenden Verantwortung für seine inzwischen völlig mittellose Familie zu entziehen. Der Verzicht des jungen Vivek auf eine ihm zu Füßen liegende weltliche Karriere modernen, unter Umständen westlichen Zuschnitts kann so nicht nur als Absage an das geläufige Modell kultureller Unterwerfung gelesen werden.
Sowohl Gopal als auch Vivek haben eine innige, zärtliche Beziehung zu ihren Müttern, die mit einem nicht leicht einfühlbaren Maß an Hingabe für ihre Söhne zu leben scheinen und von diesen gleichermaßen verehrt wie verlassen werden. Die Stellung der Frauen im komplizierten indischen Familiengefüge schildert Kakar mit jenem Respekt, der nur aus genauer Kenntnis möglich ist und bei allem feministischen Furor auf seiten der Rezensentin doch jenen Eindruck bestätigt, der während eines längeren Indienaufenthaltes aufkam: Frauen setzen ihre Rechte weniger mittels radikaler Brüche und Forderungen durch als mittels einer sehr zählebigen Bereitschaft, sich beharrlich aus dem Rahmen der zugewiesenen Rolle zu lehnen, ohne ihn zu verlassen.
Als nach vielen Jahren der Entfernung Gopals Mutter Amba den Sohn im Tempel sucht und findet, stirbt sie in seinen Armen. Er folgt ihr kurze Zeit später in den Tod und bestimmt Vivek zu seinem Nachfolger.
Erst im zweiseitigen Epilog zeigt Kakar einen weltgewandten, der Welt zugewandten Vivek, der das Erbe seines Gurus ausgeschlagen und sich nicht jenem friedfertigen, liebevollen, mystischen, ekstatischen Hinduismus verschrieben hat wie Baba Ram Das. Nach zweijähriger Wanderschaft mit dessen einstigem Widersacher verfolgt er vielmehr die Schaffung einer männlichen Nation, die weder den Westen nachäfft noch jener vermeintlich irrationalen Gefühlsduselei anhängt, "die uns jahrhundertelang unsere Kraft geraubt hat". Der ausgeprägt nationalistische Hinduismus, dem sich Vivek anschließt, während er ebenso asketisch und der heiligen Sache geweiht lebt wie einst Baba Ram Das, offenbart so tragische Züge einer Synthese religiös-kultureller Tradition und der Erfahrung, dem Druck der westlich dominierten Moderne auch in postkolonialer Zeit nicht wirklich ausweichen zu können. Auf psychologischer Ebene funktioniert diese Synthese in der Figur des Vivek aber auch als familiärer Heilungsprozess: Vater und Großvater haben in Vivek gleichermaßen ihren Platz gefunden. Kakar weiß, dass solcherart psychotherapeutischer "Erfolg" einer Scheinheilung gleichkommt. Wie zum Beweis erreichen uns Bilder blutiger Auseinandersetzungen zwischen Hindus und Muslimen, aufgenommen in Indien, irgendwo hinter Afghanistan. Von uns aus gesehen.

Sudhir Kakar: Der Mystiker oder Die Kunst der Ekstase. Roman. Aus dem Englischen von Nathalie Lemmens. Beck-Verlag, München 2001, 267 S., 19,50 EUR


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