Stille Post tut weh wie Schweigen

Feinnervig Christina von Braun und Alexandra Senfft haben zwei bemerkenswerte Familiengeschichten vorgelegt

Es scheint nicht erst seit Frank Schirrmacher Konsens zu sein, dass die Familie ebenso schrumpft wie unsere sozialen Netze, aus denen sich gar noch Vater Mutterstaat zurückzieht und die Löcher zum Hindurchfallen immer größer macht. So ist es "modern", sich auf Familie zu besinnen und dem nachzuspüren, was mit ihr verloren geht. Das kann eine Chance sein, wenn Familiengeschichte ernst genommen wird als Brechungsort politischer und sozialer Wellen, die uns allen geläufig scheinen, aber bis in die Verästelungen des eigenen Lebens nur selten verfolgt werden. Diese Chance droht aber auf der anderen Seite gleich wieder gekappt zu werden, wenn sie nur durch Abkömmlinge "prominenter" Familien ergriffen wird, die ihren Namen zum Raushängeschild machen.

Ein bisschen beschleicht einen diese Befürchtung, wenn man Christina von Brauns Stille Post zur Hand nimmt. Doch schon im Prolog zu ihrem Buch stellt sie auf völlig uneitle Weise klar, vor allem weibliche Fäden nachziehen zu wollen. Ihre Familie, deren Männer einiges an Gewicht in die deutsche Waagschale geworfen haben, von weiblicher Seite aus zu betrachten, heißt, zum Beispiel Wernher und Magnus von Braun, die deutschen Physiker und V2-Konstrukteure, auf deren Können die USA nach dem II. Weltkrieg keinesfalls verzichten wollten, außen vor zu lassen. Bereits hier wird sichtbar, was den Anlass gegeben haben mag, dieses Buch zu schreiben: Das Bewusstsein, "in der Nachfolge einer schwer zu ertragenden deutschen Geschichte" zu stehen, ist zwar früh im Denken der Autorin verankert, verschafft sich aber nur langsam, auf Umwegen, Zutritt zur eigenen Familiengeschichte.

Es benutzt dabei vor allem die Kanäle der "Stillen Post", wie Christina von Braun die Weitergabe familiärer Botschaften über das Verschweigen, die Körpersprache, das Psychosoma, das selektive Erinnern oder ausmusternde Räsonieren vorrangig der Frauen in der Familie bezeichnet. Die Großmutter mütterlicherseits zum Beispiel hat sie nie kennen gelernt, aber über das Schweigen der Mutter ist ihr Interesse an dieser Frau geweckt worden, die mit Tatkraft und Elan seit den zwanziger Jahren für ein neues Frauenbild stand. Gut ausgebildet, brachte sie es von einem kleinen Geschäft der Hausfrauen- und Verbraucherberatung zu einem von Siemens, der AEG und den Berliner Gasbetrieben hofierten Unternehmen, das sich der Propagierung der technischen Fortschritte jener Zeit in moderner Haushaltsführung verschrieben hatte. Hildegard Margis gehörte Ende der zwanziger Jahre zu den bestverdienenden Frauen Deutschlands.

Und: Sie war Tochter einer Jüdin, was niemand außer ihr selbst wusste. Das Dritte Reich brachte sie mit kommunistischem Widerstand in Berührung, sie starb 1944 im Gefängnis an Herzversagen. Ihre Tochter, die Mutter der Autorin, fühlte sich offenbar neben der starken Mutter in emotionaler Labilität befangen und wollte ihr Leben durch eine günstige Heirat absichern. Diese Absicht brachte sie mit Sigismund von Braun, einem Bruder Wernhers, zusammen, den sie auf abenteuerliche Weise in Äthiopien heiratete, wo er zur Belegschaft der deutschen Gesandtschaft gehörte. Über eine Internierung in Kenia gelangten sie 1943 wieder nach Deutschland, von wo aus Sigismund von Braun eine Versetzung als Legationssekretär in den Vatikan erfuhr.

Im Rom wurde auch die Autorin geboren, und sie erlebte die ersten Lebensjahre bis 1949 sozusagen in den vatikanischen Gärten und damit in paradiesischen Zuständen, wenn man es mit den Lebensbedingungen in Deutschland vergleicht. Wenngleich interniert, ist die Familie doch froh, dort zu sein. Die Schilderung dieser Jahre ist es, auf die Christina von Braun immer wieder zurückkommt, wenn es um frühere oder spätere familiäre Ereignisse geht. Ihre zum Teil jüdische Herkunft hatte ihre Mutter (immerhin Ehefrau eines deutschen Legationssekretärs!), komplett ausgeblendet und leugnete sie noch Jahrzehnte später, wohingegen sie für ihren Bruder eine Tatsache war. Er heiratete trotz seines Atheismus in Australien eine gläubige jüdische Frau. Durch ihn kommt es bei einem Besuch in Melbourne zum die Autorin überwältigenden Erlebnis, dass die eigene Familie den Sabbat feiert ...

Auch die väterliche Linie der von Brauns kommt dem Leser über die Großmutter der Autorin nahe: Dem ostelbischen Landadel entstammend, gehörten sie nach dem Zweiten Weltkrieg zu den Vertriebenen aus Schlesien. Die Autorin hatte es stets instinktiv abgelehnt, sich mit der Geschichte der Vertreibung zu befassen, weil ihr Großvater Magnus Freiherr von Braun in den fünfziger Jahren eine Schilderung der Ereignisse unter dem Titel Von Ostpreußen nach Texas publiziert hatte, in dem er das Unrecht der Vertreibung ohne Bezug auf deutsche Kriegsverbrechen brandmarkte. Als ihr aber die Tagebücher ihrer Großmutter Emmy von Braun in die Hände fielen, wurden Schmerz und Aufregung nachvollziehbar, weil sie einen Blick von unten auf diese Ereignisse gestatteten.

Es ist ein äußerst spannendes Unterfangen, Christina von Braun in die Abgründe ihrer Familie zu folgen, die sie an keiner Stelle diffamiert, sondern versucht, den eigenen Platz in diesem von Generation zu Generation weitergegebenen und sich verändernden System zu bestimmen. Der Tonfall ist unangestrengt, klar und umstandslos, was die Rezensentin einige Male dazu bringen kann, beinahe ungläubig das Geburtsjahr der Autorin nachzuschlagen. Solch schlankes, schlackenloses Erzählen steht einer Kulturwissenschaftlerin gut.

Christina von Braun ist deutlich älter als die Autorin des zweiten Buches. Braun könnte fast schon der Muttergeneration Alexandra Senffts angehören. Die 1961 geborene Enkelin von Hanns Elard Ludin, Hitlers Gesandtem in der Slowakei, beschreibt feinnervig die Gespinste von Lügen, die in der Familie nach der Hinrichtung Ludins als Kriegsverbrecher über allem und allen herabhängen und die Mitglieder daran hindern, miteinander zu kommunizieren. Die Großmutter und Witwe Hanns Elard Ludins setzt zunächst nur ihre älteste Tochter Erika, Alexandra Senffts Mutter, von der Hinrichtung des Vaters in Kenntnis, während die anderen vier Kinder glauben, er sei "auf dem Felde der Ehre" gefallen.

Einst Vaters Liebling, geht Erika fortan über Jahrzehnte sowohl der Einsicht, dass ihr Vater Verbrechen begangen hat, als auch dem Eingeständnis, ihn geliebt zu haben, aus dem Wege. Alkohol- und Drogensucht prägen ihr Leben, das von Alexandra Senfft allerdings zuweilen mit nur angelesenem psychologischem Vokabular zu charakterisieren versucht wird. Wie sie jedoch den Ausbruch ihrer Mutter aus der süddeutschen Enge in die Hamburger Großbürgerlichkeit schildert, teilt in sehr differenzierter Weise mit, dass es neben dem Mief der Fünfziger und frühen Sechziger in der Bundesrepublik eben auch das wilde, respektlose Frauendasein gegeben haben muss, in dem die Männer wechselten, weil die Ansprüche ans Leben nicht kleiner wurden. Das war eine Überraschung für die ostdeutsche Rezensentin, die sie begierig aufnahm.

In diesem Zusammenhang störten zuweilen nichtssagende Verweise auf "große" Bekanntschaften der Autorin, die für das Buch keine Bedeutung haben. Ob sie beispielsweise als Kind einmal auf einem Platz neben Inge Meysel im Theater gesessen hat, tut nichts zur Sache. Alles in allem bleibt es aber eine ernsthafte, bewegende Auseinandersetzung mit einer Familie, die not- und zeitgedrungen von Frauen dominiert wurde, denen das Verbrechen der Männer buchstäblich den Atem nahm, sich davon zu distanzieren. Erst die Enkelin schafft es, um die Opfer des Holocausts zu trauern, und es wird klar, warum Mutter und Großmutter trotz sehr unterschiedlicher Lebensentwürfe dazu nicht kamen ...

Zwei Familiengeschichten, die sich ums Verschwiegene ranken, daran emporklettern, es zu durchdringen versuchen wie Triebspitzen ein morsches Holz, um es endlich, endlich zu verdauen - diese Assoziation wird so manchen Leser befallen. Mit unzähligen Briefen, heute eher Relikte der Nachrichtenübermittlung, haben die Altvorderen sich unüberhörbar gemacht. Sie bieten Raum für Interpretationen und Mutmaßungen, die unsere Nachfahren anderswo ansiedeln müssen. Aber wo?

Beide Bücher halten es mit den Frauen der Familien, und in beiden Büchern nimmt die Auseinandersetzung der Autorinnen mit der Mutterfigur ebenso wie die bedingungslose Sehnsucht nach den Großmüttern einen breiten Raum ein. Gut, dass Töchter es heutzutage wagen, sich ihre Mütter vom Leibe zu schreiben. Dass es beiden Frauen allerdings erst gelang, als diese schon tot waren, spricht Bände, die dicker sind als diese beiden Bücher zusammen. Es wäre ein anderes Thema.

Christina von Braun: Stille Post. Eine andere Familiengeschichte. Propyläen, Berlin 2006, 416 S., 22 EUR

Alexandra Senfft: Schweigen tut weh, v. Claassen, Berlin 2006, 320 S., 19,95 EUR


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