An den inneren Ufern Indiens zu verweilen, ist ein asiatisch-aufstörendes, kein europäisch-idyllisches Unterfangen. Das weiß Ilija Trojanow, ehe er auf die Ganges-Reise geht, lebt der 1965 in Bulgarien geborene Autor doch seit einigen Jahren in Bombay, spricht Hindi - zu den vielen Sprachen, die er ohnehin schon kennt und kann - und ist ein umtriebiger Mensch, wovon ich eine Ahnung bekam, als ich im November des Jahres 2000 mit ihm in Bombay Thali essen ging.
Umtriebigen Menschen kann es als das Größte und Schönste erscheinen, den Ganges hinabzufahren, vom Quellpunkt zum Delta, von Shivas Lockenpracht, die den Aufprall der Ganga, einst am Himmel als Milchstraße sich tummelnd, abbremste, zum Ort, wo Ganga sich entspannt und zum Meer wird. Gangaji wird der Fluß respektvoll, zärtlich zugewandt Ganga Mataji genannt. Das heißt Mutter Ganges, und wie eine Mutter mag der Fluß den Indern vorkommen, mag den Sadhus und Pujaris Sohnesgefühle entlocken - Ilija Trojanow bewahrt sich eine staunende, an keiner Stelle distanzlose Unschuld ihm gegenüber.
Gemeinsam mit Pac, der Fotografin, macht er dem Strom seine Aufwartung. Er benutzt klassische indische Texte, um den deutschen, von Indien aus gesehen sicher sehr sonderbaren Leser einzuführen in das, was er sieht und nicht sieht, aber inzwischen weiß von seinem Gastland. Auch Alexander der Große muss herhalten, Virgil, Ovid, Dante mit seiner Göttlichen Komödie oder Christopher Marlowe mit Doktor Faustus, wenn es darum geht, den Ganges als Weltende zu beschreiben. Erst nach Kolumbus streifte die Kartografie der Neuzeit dem Fluss solche Mythen ab. Und so hat Trojanow heute genaue Karten, die ihm sagen, wo es langgeht, auch wenn die Ganga, wir lesen es mit Erstaunen, ihr Bett von Zeit zu Zeit verschiebt, an andere Stellen rückt wie wir in unseren Schlafzimmern.
Trojanow bricht in Gangotri/Gaumukh auf, von wo aus er den Ganges aus dem Eis brechen sehen will, was ihm aber nicht gelingt. Weiter mit dem Bus: Über Rishikesh, wo der Monsun hernieder bricht und die Stadt alsbald unter Wasser setzt, nach Haridwar, wo das Boot wartet, das die beiden Reisenden bei ihrer Anreise deponiert hatten. Das Boot, ein tschechisches (!) Modell, wird beladen, und los geht´s - ohne die vielbeschworene offizielle Erlaubnis des Bundesstaates Uttar Pradesh und ohne den zuvor ebenso heiß empfohlenen Polizeischutz. Sich treiben lassend, gelegentlich paddelnd gelangen sie nach Garhmuktesar - eine Route, die sie sechs, sieben Tage kostet. Von da nehmen sie den Zug bis Lucknow, ziehen per Auto über Bithur nach Kanpur. Wiederum mit der Eisenbahn fahren sie bis nach Allahabad, wo alle zwölf Jahre das hinduistische Kumbh-Mela-Fest gefeiert wird - der deutsche Leser wird sich zumindest daran noch erinnern, es fand im Jahre 2001 statt und flimmerte kurz durch hiesige Nachrichten als größte Menschenansammlung der Welt.
Trojanow hat das Fest besucht, er erzählt nach- und eindrücklich von seinen Begegnungen mit Asketen und Sadhus oder mit dem indischen Psychiater, der seit 24 Jahren in Kentucky lebt und in hinduistischen Konzepten von Geist und Bewusstsein den Hintergrund seiner Therapiemöglichkeiten sieht. Mit ihm amüsiert sich Trojanow "über die verkrampfte Ernsthaftigkeit der amerikanischen Neu-Hindus, die in großen Gruppen anreisen und sich für einige straff organisierte Tage dem heiligen Fest hingeben". Dieses Kapitel ist eingeschoben, hat doch die Begegnung mit Kumbh Mela einige Monate vor der Flussreise Trojanows stattgefunden - eben im Januar 2001, zu einer Zeit, da der Autor noch ohne Bedenken ins Gangeswasser ging, was ihm nun, im Frühherbst desselben Jahres, verleidet ist durch die Erinnerung an die "Abwässer und Kloaken", die er auf seiner Reise hat kennen lernen müssen.
Zu Fuß geht es nun weiter, bis Mirzapur soll die Kraft reichen, doch fahren die beiden die letzten Kilometer dorthin mit dem Bus. Wie sie von da nach Varanasi kommen, wird nicht erzählt. Eines Tages sind sie da und rammen eine aufgedunsene, stinkende, grünlichblaue Leiche mit ihrem Boot - Anlass für Trojanow, seine Sicherheit im Begreifen des Todes zu hinterfragen: Hatte er geglaubt, das Leben dominiere den Tod in Varanasi auf allen Ebenen, ernährt doch die Pilger- und Tourismusindustrie zwei Drittel der Bevölkerung, so gerät diese Gewissheit durch diese Art Konfrontation mit dem Tod doch arg ins Wanken, noch dazu muss er bemerken, wie er in den engen Gassen der Altstadt immer wieder Leichenträgern mit ihren Totenbahren ausweicht.
Der Zug bringt sie nun nach Patna in Bihar, Laloo-Land genannt nach dem ehemaligen Ministerpräsidenten und Ehemann der jetzigen Ministerpräsidentin, Laloo Prasad Yadav, und das nicht gerade freundlich. Aber was Patna zu bieten hat, nämlich Professor Sinha und die Susas, ein Kapitelchen von vier Seiten Länge, gehört zum Aufregendsten, was mir in dem Büchlein begegnet ist: Professor Sinha ist Delphinspezialist. Die Tatsache, dass im Gangeswasser Delphine leben, und das nicht etwa erst an der Stelle, an der sich Fluss mit dem Meer vermengt, ist mir neu, und ich bedaure, nicht darauf geachtet zu haben während meiner eigenen Inaugenscheinnahme des Ganges.
Für die beiden ist nun Taxi-Zeit. Drei Stunden brauchen sie für 90 Kilometer, verspäten sich mit der Ankunft in Bodh Gaya eines platten Reifens wegen bis nach Einbruch der Dunkelheit und sehen, durch das glaslose Fenster einer Teestube, in der der Taxifahrer erschöpft innehält, wie zwei Flugzeuge ins World Trade Center rasen. An diesem Ereignis, von den Gästen der Teestube ausdruckslos und unter mechanischem Weiterkauen wahrgenommen, wird deutlich, was es auf sich hat mit Terror und Tod: Das, was in der westlichen der Welten geschieht, bleibt "fürs Volk" bedeutungslos und von nebensächlichem Interesse - wie das, was in der indischen Welt geschieht, das Zusammenschießen Dutzender Arbeiter bei einem Streik etwa oder das Ertrinken Hunderter Menschen bei einer Überschwemmung.
Über Monghyr geht es weiter nach Kahalgaon, von dort per Zug nach Sahibganj, nach Baharampur, wo sie lange und vergeblich auf den angeheuerten Bootsmann warten, und schließlich nach Kalkutta, dorthin, wo vom Hooghly-River, einem Teil des hier wieder Baghirati wie an der Quelle genannten Ganges, die Wasserversorgung der Millionenstadt abhängt. Am Diamond Harbour verabschieden sie sich von Ganga, der großen Alten, die ihnen die letzten Wochen geschenkt hat, ehe sie nun aufgeht in weiterem Unermesslichen: Dem Ozean, mit dem sie sich mischt und vermengt und eine eigenartige Flora und Fauna zwischen Süß- und Salzwasser gebiert.
Trojanow hat viel gesehen und erzählt. Sein Widerspruchsgeist lässt nicht nach, das indische Gehabe um Zuständigkeiten, Autoritätshierarchien oder Politgeplänkel zu hinterfragen. Das tut er amüsiert oder genervt, je nachdem, und political correctness ist ihm fremd genug, um sie nicht zur Fata Morgana machen zu müssen, die in der Ferne lockt. Natürlich sieht er in der Teppichknüpferei kleine, schmächtige Kinder an großen Knüpfstühlen, was ihm die Sprache verschlägt. Aber er weiß auch, dass die freie Marktwirtschaft die Kinderarbeit fleißig fördert, weil die Preise für die Teppiche angesichts der billigen chinesischen Maschinenfabrikate nur auf Kosten des Lohnes konkurrenzfähig gehalten werden können. Indische, pakistanische oder iranische Werkstätten können sich eine Mechanisierung nicht leisten.
Wer Zeit hat, sich mit Trojanow auf Indien einzulassen, wird mit diesem Buch ganz gewiß Gewinn machen. Seine polyglotte Art des Welt-Erfahrens ist untypisch für Reiseliteratur - das macht ihren großen Reiz aus. In hiesigen Lokalitäten wird meist verdeutscht gekocht, was Trojanow dem deutschen Leser im Original liefert: Ein Stück Asien als wirklich fremdländisches Gericht.
Ilija Trojanow: An den inneren Ufern Indiens. Eine Reise entlang des Ganges. Hanser, München 2003, 197 S., 14,90 EUR
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