Er habe sich vor einiger Zeit einen Kloster-Guide gekauft und seither einige Klöster ausprobiert, erzählt Herr Deuss*. In dieses fahre er nun bereits zum dritten Mal. Die Schönheit und Spiritualität des Ortes seien unübertroffen.
Der Wagen summt über die Autobahn. Herr Deuss spricht über seine geistige Suche. Er beschäftige sich weniger mit der christlichen Religion, Buddhismus interessiere ihn ebenso wie die Quantenphysik und moderne, wissenschaftliche Interpretationen von Gott. Zwar sei er als Student schon einmal in einem Kloster gewesen, doch habe ihn das nicht berührt, keinen tiefen Eindruck hinterlassen. Erst als er, 40-jährig und das erste Mal völlig ausgebrannt, in ein Kloster gefahren sei, um die Batterien wieder aufzuladen, habe er die Stille für sich entdecken können und die Zuwendung der Mönche schätzen gelernt.
Herr Deuss spricht über seine Familie. Von dem ersten Flug mit dem Baby nach Washington D.C., wo er damals arbeitete. Von dem Jahr in Jena, wo nicht jedes Kind Klavierunterricht nehmen könne und wie gut es für seine Mädchen gewesen sei, mal zu erleben, dass nicht jedes Ding selbstverständlich ist. Vom letzten gemeinsamen Winterurlaub in Garmisch, weil dort die besten Schneeverhältnisse herrschen.
Das Auto fliegt über die Landstraßen, nach einer Kurve rückt die Klosterkirche plötzlich ins Visier des Sterns auf der Kühlerhaube. Bald darauf sagt die Dame im Navigationssystem mit weicher Stimme: "Sie haben Ihr Ziel erreicht."
Herr Deuss manövriert durch das Holztor in den mittelalterlichen Hof. Es sei dieser Moment, auf den er sich die ganze Fahrt lang gefreut habe. Hier trete man aus der Moderne in eine andere, längst vergangene Welt. Obwohl er evangelisch sei, werde er von den Mönchen herzlich empfangen. Jeder werde hier herzlich empfangen. Egal, welchen Glauben er hat.
Die Gänge des Klosters liegen verlassen. In der Ecke gegenüber dem Sekretariat plätschert ein Springbrunnen vor einem Fenster aus gelben Glas. Herr Deuss klopft an und lässt sich von dem diensthabenden Mönch die Zimmerschlüssel aushändigen. Das Gästehaus wurde in den dreißiger Jahren angebaut. Die Zimmertüren verschwinden in den starken Ausläufern der hohen Gewölbe.
Bis zum Vesper-Gottesdienst ist noch eine Stunde Zeit. Es regnet. Es ist kühl. Leute spazieren unter Schirmen gemächlich durch den Ort. Ein Weg führt hinauf zu der kleinen Kapelle. Von hier aus betrachtet Herr Deuss am liebsten die geometrische Struktur der Kirche. Dahinter der See. Er rudere gern da hinaus. Es gebe eine Stelle auf dem See, da seien nur das Kloster und der Wald zu sehen. Keine Antenne. Kein Hochspannungsmast. Nicht einmal die Straße. Als entfliehe man der Zeit.
Der Parcours um das Zentrum des Ortes, Klosteranlagen und Kirche, führt vorbei an der den von den Mönchen bewirtschafteten Gärtnerei und einem Blumenladen, einer Buchhandlung und der großen Schauvitrine, in der die Möbel ausgestellt sind, die von den Benediktinern in der Schreinerwerkstatt getischlert werden.
Herr Deuss betritt die Buchhandlung. Es gehöre zu seinen Ritualen, Lektüre für den Abend zu kaufen. Er kauft das neueste Buch des Benediktiner-Mönches Anselm Grün, das sich mit den zehn Geboten beschäftigt, ein Bändchen mit dem Titel Mein Lieblingspsychologe, Aufsätze über die verschiedenen Lehren der großen Psychologen seit Freud, sowie ein blau gebundenes Geschenkbüchlein mit dem Titel Warum du an dich glauben sollst für seine jüngste Tochter, die am nächsten Tag 20 Jahre alt wird.
Er stehe der Kirche als Organisation eher skeptisch gegenüber, sagt er, aber er liebe die Stille der Kapelle, den disziplinierten Rhythmus des Klosteralltags. Im Sommer seien die vielen Touristen, die mit Bussen zu der berühmten Kirche gekarrt würden, natürlich ein Störfaktor. Sie verhinderten seine Meditation während der gregorianischen Gesänge, jenen "Alpha-Zustand", den er so liebe.
Es ist kalt in der Kirche, sie ist das kühle Herz eines ernsten, auf seine Wirkung bedachten Ortes. Ein Ort, an dem jede Poesie gefriert. Kein Winkel entzieht sich der Kontrolle durch aufgeklärte Bürger, Reinigungs - und Reparaturkolonnen.
Gottesdienste. Hin und wieder ein philosophischer Vortrag. Mit gefühlloser Beflissenheit, notfalls unter Einsatz des Ellenbogens, hasten die Bürger danach, den besseren Platz zu bekommen. Der Fisch im See dient dazu, gegessen zu werden, die Bücher, um mitreden zu können. Das Kloster hilft, sich als guter Mensch zu fühlen. Der Service funktioniert ausgezeichnet.
Die Benediktinermönche singen in allen Gottesdiensten Psalmen. Die meisten stammen aus der Feder Davids. David, politisch verfolgter Krieger und später König, ein Dichter und Musiker, schrie seine Bedrängnis und Angst, das Gefühl tiefer Verlassenheit, Reue und Rachegedanken in den Psalmen heraus. Sie handeln von Krieg und Vergeltung, leidenschaftlicher Liebe und der unermüdlichen Hoffnung auf Gott.
"Die Psalmen", sagt Herr Deuss. "Ich verstehe einige nicht. Oder anders gesagt: Sie sind mir fremd, wie das Alte Testament im Allgemeinen. Den Gedanken der Rache beispielsweise kann ich einfach nicht nachvollziehen." - "Mir geht es ähnlich", sagt der Padre. Sie sitzen sich in einem kleinen Gesprächszimmer gegenüber. "Man darf da nicht alles nehmen. Man muss berücksichtigen, dass die Psalmen aus einem anderen Kulturkreis stammen."- "Es tröstet mich, dass es ihnen genauso geht", sagt Herr Deuss. "Sie sprechen mir aus der Seele."
Das weitere Gespräch dreht sich um die Aktualität der Lehren des Heiligen Benedikt, wie sie in Seminaren zur Unternehmensführung an vielen Klöstern vermittelt werden. Seit das Christentum an der Börse der Religionen wieder zugelegt hat, ist der Heilige Benedikt zu einer Art spirituellem McKinsey avanciert. "Ein Kloster ist ja auch ein Unternehmen", sagt Herr Deuss. "Im Grunde kämpfen Sie mit den gleichen Problemen wie wir draußen."
Der Padre nickt. Als wäre es nicht gerade der Unterschied zwischen einer Klostergemeinschaft und einem weltlichen Unternehmen, der draußen die großen gesellschaftlichen Probleme verursacht. Denn während die einen für ihren Lebensunterhalt arbeiten und den Gewinn untereinander aufteilen, geht es draußen um Gewinnmaximierung.
Ob ihn dieser Unterschied nicht manchmal quält? Herr Deuss schreckt auf. Er lacht. Errötet, als hätte man ihn nach seinen Sado-Maso-Erfahrungen gefragt. "Quält! - Also quälen tut mich überhaupt nichts. Ich bin ein zufriedener Mensch." Er schüttelt den Kopf über dieses Wort: Qual. Lacht wieder. Wie abwegig, ihm die Niederlage eines Schmerzes zu unterstellen.
Dass ihn nichts quäle, bedeute ja nicht, dass er sich keine Gedanken über die Probleme der Zeit mache. Und nun spricht er von Menschen, Freunden, Bekannten eher, die in wirtschaftliche Schieflage geraten seien, das Architekten-Ehepaar beispielsweise. Sie hätten sich nach der Wende dumm und dämlich verdient im Osten und dann teure Wagen und Häuser gekauft, man kenne das ja, bis die Aufträge ausgeblieben und die Jobs weggebrochen seien und nun, ja, eine Menge unbezahlter Kredite am Hals. Aus der Traum. "Manche können den Hals nicht voll kriegen", sagt Herr Deuss. Dabei brauche man doch nur einmal die Bergpredigt lesen. Sein Herz nicht an die Dinge hängen, die Rost und Motte verzehren.
Er habe seine Agentur schon mindestens dreimal neu erfunden, um nicht hinter dem Markt zurück zu bleiben. Mehr als eine schlaflose Nacht habe ihn das gekostet. Er wisse um seine Verantwortung: Arbeitsplätze. Die Existenz vieler Menschen. Natürlich gäbe es Mitarbeiter, die glauben, man brauche nichts mehr lernen, wenn man über 40 ist. Von denen müsse man sich eben trennen.
Bis an die Wurzeln der Gesellschaft gedacht, könnten die Lehren des Heiligen Benedikt revolutionär sein. Es geht darum, seinen Platz im Leben zu finden und in Harmonie mit der Gesellschaft auszufüllen. Es geht um Gehorsam im wahrsten Wortsinne, ums genaue Zuhören nämlich. Die Benediktiner lehren feste Rituale und Strukturen, damit keine Energie vergeudet wird.
Die Mahlzeiten sind einfach. Die Schwestern blicken streng. Eine Lehrerin, Freundin des Klosters und häufiger Gast, beschwert sich bei Tisch über die Delegation der Jungen Union. Die Mädchen und Jungen hätten in der vergangenen Nacht die Türen geschlagen. Sie habe kein Auge zumachen können. Ob sie denn nicht wüssten, dass dies ein Kloster sei und keine Jugendherberge?
In der kommenden Nacht knallen wieder die Türen. Die Lehrerin seufzt erleichtert. Sie hat so angestrengt gelauscht, dass sie wieder nicht schlafen konnte.
Am nächsten Tag scheint die Sonne. Herr Deuss bedauert, jetzt schon aufbrechen zu müssen. Familiäre Pflichten. Der Geburtstag seiner Tochter. Er verabschiedet sich bis zum nächsten Mal und nimmt noch die Empfehlung mit, sich rechtzeitig anzumelden. Das Gästehaus sei im Sommer so gut wie ausgebucht.
Langsam steuert Herr Deuss den Wagen durch den mittelalterlichen Hof wieder hinaus in die Moderne. Schade nur, dass das Wetter diesmal nicht danach war, auf den See zu rudern.
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