Sommer in der Stadt: Am südlichen Ende der Bochumer Fußgängerzone, wo die Kneipen-, Café- und Eisdielendichte am höchsten ist, bietet sich nach einem heißen Tag ein Anblick, wie man ihn ansonsten eher aus südländischen Städten kennt, wo die Menschen massenhaft all abendlich nach Einbruch der Dunkelheit durch die Innenstädte flanieren. Die Bochumer haben allerdings keine Piazza, sondern versinken bei steigendem Alkoholpegel im »Bermuda-Dreieck«, wie die Ausgehmeile im Volksmund heißt. Hierher führen die Studenten aus dem Bühnenbild und Lichtdesign-Kurs ihre Akademie-Kollegen. Allerdings nicht, um Bier- oder Eiscremeforschung zu betreiben, sondern um ihnen einige Schaufenster zu zeigen, deren Beleuchtung sie im Rahmen ihres Kurses mit einfachen Mitteln - und so weit es ihnen die Ladenbesitzer gestatteten - verändert haben: Allgemeine Begeisterung, weniger für das Licht als für die Arrangements selbst, die mit grünen Äpfeln in Fischernetzen auf Plateauschuhe oder mit Pinguinen auf Hörgeräte in Liegestühlen aufmerksam machen sollen - das Licht war hier »nur« das Mittel, um den Blick auf diese gefundenen, grotesken Inszenierungen zu lenken, an denen man tagsüber schon mehrmals achtlos vorbeigelaufen war. Ist es das vielleicht schon, was sich Hannah Hurtzig, die künstlerische Leiterin der Akademie, unter »Erprobung einer eigenwilligen Kombination von Gesellschaftstheorie und Theaterpraxis« vorgestellt hat, als sie das Programm für die Internationale Theater-Akademie Ruhr entwarf?
Die Welt als Kulisse
»Die Welt wird immer gelber!« - mit dieser These zur »allgemeinen Lichtverschmutzung« in Städten hatte Ulrich Schneider, Beleuchtungschef der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, seinen Kurs außerdem auf nächtliche Exkursion ins Ruhrgebiet geführt. Ziel war die genaue Analyse vorgefundener Lichtverhältnisse an einem Autobahnkreuz, dessen Umgebung sich nachts in eine gelb ausgeleuchtete Kulisse verwandelt. Dabei fanden die Akademieteilnehmer in Inter views mit den Anwohnern heraus, daß diese sich an die nächtliche Bestrahlung nicht nur gewöhnt haben, sondern sie sogar der Dunkelheit vorziehen.
»Imitation of Life« hatte Frank Castorfs Chef-Bühnenbildner Bert Neumann seinen Kurs betitelt und damit gleichzeitig das Kulissenhafte der städtischen Innenräume treffend beschrieben. Dieses Phänomen ließe sich freilich überall beobachten, das Ruhrgebiet jedoch bietet darüberhinaus für die meistens kulturpessimistisch beklagte »Theatralisierung der Wirklichkeit« in einem umfassenderen Sinne ein geradezu ideales Forschungsfeld.
Industriedenkmäler
Der in diesem Jahr mit zahlreichen »Special Events« ihren Abschluß feiernden Internationalen Bauausstellung Emscher Park ist es in zehn Jahren mit mehr als 100 Bauwerken und Entwicklungsprojekten unter Mitwirkung zahlreicher Künstler gelungen, der ganzen Region »ein neues Gesicht« zu geben: Von der Industriebrache zum Landschaftspark, in dem Touristen, geführt von ehemaligen Bergarbeitern, stillgelegte Zechen als Industriedenkmäler besichtigen oder sich, wie derzeit in der Kokerei Zollverein in Essen, »Das Märchen von der Kohle« in einer Ausstellung für die ganze Familie erzählen lassen können. Schon der verklärende Titel »Sonne, Mond und Sterne. Kultur und Natur der Energie« suggeriert, daß die Welt hier wieder in Ordnung gebracht wurde. Musealisierung, Märchen und Mythenpflege sind die Mittel, mit denen der Mensch sich in einer Umwelt einzurichten versucht, in der die Spuren der Erinnerung an die »industrielle Revolution« im Sinne der Ausbeutung von fossilen Rohstoffen und menschlicher Arbeitskraft bald gar keine Rolle mehr spielen werden.
Neben Anschauungsunterricht im postindustriellen Revier gab's für die Akademieteilnehmer auch einen auf zwei Sonntage verteilten Crash-Kurs zum Thema »Die Zukunft der Arbeit«. Dirk Baecker, Professor an der Fakultät für Wirtschaftswissenschaften der Universität Witten/Herdecke, betätigte sich bei der Zusammenstellung der Referenten ganz bewußt als »Ratlosigkeitsforscher«. Er habe nur Diskurse präsentieren wollen, die keine Lösungen anbieten, »weil solche Ansätze eher die Probleme der Leute lösen, die Lösungen suchen, als das Problem der Arbeitslosigkeit.« Politik, die im allgemeinen für das Problem der Massenarbeitslosigkeit »Lösungen« im Rhythmus von Legislaturperioden zu finden versucht, kam bei der Vortragsreihe folglich nicht zum Zuge. Vielmehr ging es Baecker darum, ein Bewußtsein dafür zu schaffen, was es heißt, in einer »Gesellschaft des Übergangs« zu leben.
Insbesondere die universalhistorische Relativierung, die Professor Rolf Peter Sieferle von der Universität Heidelberg der Dramatik gegenwärtig wahrnehmbarer Veränderungen, gemessen an den sich über Jahrtausende erstreckenden Übergängen von der Gesellschaft der Jäger und Sammler zur Agrargesellschaft, angedeihen ließ, legte den Schluß nahe, daß wir derzeit Akteure und Zuschauer in einem globalen Transformationstheater sind, das seit 200 Jahren mit dem Übergang von der agrarischen Zivilisation zu »etwas anderem« beschäftigt ist, ohne daß absehbar wäre, wie eine stabile, in diesem Sinne post-agrarisch zu nennende Gesellschaft strukturiert sein könnte, vor allem, weil es bisher nicht gelungen ist, Alternativen zur Ausbeutung fossiler Energien zu finden. Sieferles Ausblick, daß wir es in Zukunft mit Energieknappheit bei gleichzeitigem Informationsüberfluß zu tun bekommen werden, schien am Ende naheliegend. Der Rest ist Science Fiction.
Oder eben das Experimentierfeld für einfallsreiche Unternehmer, zu denen sich neben der Berliner Initiative »Die Glücklichen Arbeitslosen« die »Erfinder« der Love Parade ebenso zählen dürfen wie die »Men in Sportswear«, wie der Experte für »Berliner Ökonomien«, Helmut Höge, die postproletarischen, an ihrer »Arbeitskleidung« zu erkennenden Männerhorden nennt, die jenseits von Staat und Kapital selbstorganisierte, dem bürgerlichen Gesetzbuch nach als kriminell zu bezeichnende Ökonomien errichten.
Für die mehr zum Gedankenexperiment neigenden postproletarischen Intellektuellen wartete Dirk Baecker abschließend mit einem Vortrag zur »Form« der Arbeit auf, basierend auf einem selbstreferentiellen, logischen Kalkül von George Spencer-Brown. Obwohl sich die »Natur« der Arbeit am ehesten noch als Religion oder Droge beschreiben ließe und sich derzeit alles um diesen Begriff zu drehen scheine, sei »Arbeit« gleichzeitig der blinde Fleck unserer Gesellschaft. Es fällt demjenigen schwer zu sagen, was er tut, wenn er arbeitet, weil sich erst sagen läßt, was die Arbeit ist, die man getan hat, wenn man sie getan hat. Alles kann Arbeit werden, wenn es als solche von einem »Beobachter zweiter Ordnung« von etwas anderem unterschieden wird. Also, Schluß mit der Rede vom Ende der Arbeit!
Aber das war sowieso nicht das Problem der Akademieteilnehmer in Bochum, denn die Veranstaltung hatte sich längst als Gesellschaft auf Zeit schon ganz im Sinne Dirk Baeckers um ihre eigenen Definitionen von Arbeit herum konstituiert: Alles, was sich innerhalb der Wände des Schauspielhauses Bochum, das Leander Haußmann für die Zeit der Theaterferien der Akademie überlassen hat, und in den anderen über die Stadt verteilten Arbeitsräumen abspielt, ist Arbeit. Und wenn nicht gearbeitet wird, dann redet man über Projekte, die man sich für die verbleibende Zeit der Akademie vorgenommen hat. Am meisten litt unter dieser Arbeitsauffassung der von dem Performer-Kollektiv Showcase Beat Le Mot im Theater-Keller-Café betriebene Akademie-Club, denn er versprach in diesem speziellen Kontext nicht »Freizeit«, sondern nur weitere Arbeit. Aber auch hier erzielte die Forschung nach neuen Formen des Genusses im Showcase-Koch studio mit »Heuschrecken in Couvertüre« überraschende Erfolge.
Helden der Arbeit
Vielleicht ist diese Akademie selbst schon ein Modell für die Zukunft der Arbeit: Man nimmt sich »frei« von seiner »eigentlichen« Arbeit und ist sogar bereit, dafür Geld auszugeben, daß man an einem anderen Ort mit Menschen, die man vorher nicht kannte, anders als sonst arbeiten kann.
Ganz praktisch verlängert die Teilnahme an der Akademie für einen erwerbslosen Performer aus Cardiff sogar den Anspruch auf Arbeitslosenunterstützung, weil sie offiziell als Fortbildungsmaßnahme anerkannt wird - was sicher nicht der schlechteste Beitrag zum Thema Theater und Zukunft der Arbeit gewesen sein dürfte.
Wie sich die 112 Studenten und Studentinnen aus insgesamt 33 Nationen, die circa 20 Dozentinnen aus unterschiedlichen Theaterberufen und Ländern, die die Kurse in Schauspiel, Regie, Szenisches Schreiben, Bühnenbild und Lichtdesign, Theatermusik und Tanz leiten, dazu noch die Mitarbeiter im Organisationsteam, wie sie alle zusammen diesen gutgelaunten Akademiebetrieb gemeinsam erzeugen und selbst noch nach einer spontan organisierten, nächtlichen Lesung der ersten Episode aus dem Drehbuch zu Star Wars, nach wenigen Stunden Schlaf wieder arbeitseifrig in ihren Kursen erscheinen, ist fast etwas unheimlich.
Die Teilnehmer des Kurses Szenisches Schreiben bemerkten als erste, daß da noch etwas fehlte, und veranstalteten ein Fußballturnier: Schauspieler gegen Dramatiker. Im Hinspiel gewannen die Schauspieler. Doch die wahre Heldin der Arbeit war ganz klar die Autorin Phyllis Nagy, Dozentin für szenisches Schreiben, die bei einer Exkursion auf die Trapprennbahn in Gelsenkirchen eine dramatische Aufbesserung ihres Budgets von annähernd 1.000 Mark erzielte: ein weiterer interessanter Zugang zum Thema Arbeit. Der schottische Autor David Harrower, der die selbe Klasse als Gast ebenfalls unterrichtet, wollte von den Teilnehmern wissen, wer von ihnen überhaupt vom Schreiben leben könne. Eine einzige Autorin bestreitet ihren Lebensunterhalt aus ihren Tantiemen: Sie kommt aus Deutschland. Ihr Kollege aus Bulgarien erklärt, daß er selbst für ein sehr erfolgreiches Stück so wenig Geld bekommt, daß sich das für ihn nie würde realisieren lassen. Er arbeitet hauptberuflich als Universitäts-Dozent. Sarah Khan aus Hamburg hat für sich eine Art Selfsponsoring entwickelt: Geldverdienen, bis es reicht, um die Zeit zu finanzieren, die sie sich zurückziehen muß, um den nächsten größeren Text zu schreiben. Klingt ein bißchen hart, fand David Harrower, diese selbstgewählte Askese und Rückzug in die Schreibtisch-Einsamkeit...
Es muß wohl auch mit dem derzeit gestörten Verhältnis von Arbeit zu ihrem Preis zu tun haben, daß Ute Canaris, Geschäftsführerin der Akademie und ehemalige Kulturdezernentin der Stadt Bochum die Höhe des Budgets für die Akademie lieber nicht in der Zeitung gedruckt sehen möchte, dafür aber nicht müde wird, eine schier endlose Liste von Sachmittel-Sponsoren zu nennen und die umfangreiche Vernetzungsarbeit in den Vordergrund zu stellen, die sie und Hannah Hurtzig sowie ihr kleines Mitarbeiterteam im Vorfeld der Akademie geleistet haben. Als sei zu befürchten, daß in der Öffentlichkeit nicht genügend Akzeptanz für dieses spannende, in Deutschland einmalige, von Ritsaert ten Cates »De Amsterdamse School Advanced Research in Theatre and Dans Studies« (DasArts) angeregte Unternehmen zu finden ist?
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