Gerade erst hat Michael Schindhelm es abgelehnt, den Berlinern zu ihrer lang ersehnten und kulturpolitisch längst vermasselten Opernreform zu verhelfen. Dem Baseler Intendanten eilt der Ruf des Experten fürs Theaterkrisenmanagement voraus. Anfang der Neunziger führte er erfolgreich die Fusion der Theater in Gera und Altenburg durch. Damals ließ sich eine Theaterzusammenlegung noch gestalten. Heute ist der Kulturabbau so weit fortgeschritten, dass mit einem solchen Job kein Blumentopf mehr zu gewinnen wäre. So war Schindhelm denn auch weitsichtig genug, dem Berliner Himmelfahrtskommando einer Opernfusion die Erfüllung seines Vertrags in Basel vorzuziehen. Zauber des Westens, so der Titel des zweiten Buchs des schreibenden Intendanten, legt allerdings nahe, dass ihn in der Alpenrepublik anderes hält als nur Arbeitsvertrag und ein Stempel im Pass.
Die Schweiz macht das Deutschsein einigermaßen erträglich, besser gesagt, sie verfremdet es auf eine Weise, die für Schindhelm offenbar zum Schreibanlass wurde und seine, von einem bekenntnishaften Pathos durchdrungenen Reflexionen gleichzeitig so unzeitgemäß - weil ohne erkennbaren Adressaten - erscheinen lassen. Wiederum geht es um Fremdsein und um Identitätskonstruktion, Themen, die Schindhelm bereits in seinem Roman Roberts Reise bearbeitet hat. Zauber des Westens ist im Grunde ein etwas lang geratener kulturkritischer Essay, in dem Schindhelm seine Erfahrungen mit der westdeutschen Gesellschaft nach dem Mauerfall auswertet. (Wer übrigens weitere Enthüllungen des Autors zum Thema Stasi-Kontakte erwartet hat, kann sich die Lektüre des Buches ersparen.) In der DDR aufgewachsen, fühlte er sich nach einem Auslandstudium in der Sowjetunion, wo er durch seine Kommilitonen aus Afrika, Asien und Lateinamerika die "große weite Welt" kennen gelernt hatte, schon nicht mehr als "Ostdeutscher" und im westdeutschen "Paradies" sozusagen mehrfach fremd. Alle irgendwie virulenten Zeiterscheinungen der vergangenen zehn Jahre von der fortschreitenden Virtualisierung und Beschleunigung der Wirklichkeit durch neue Medientechnologien bis zur Flexibilisierung und Globalisierung der Arbeitswelt nimmt der Autor ins Visier. Hätte sich er sich bei der Wahl des Genres eindeutig für die Erzählung entschieden, statt für einen Mix aus Erinnerung und Metadiskurs, dann hätte das Buch vielleicht ein Entwicklungsroman werden können. Immerhin gelangt der Held der Erzählung - Schindhelm weigert sich, "Ich" zu sagen, und spricht von sich nur in der dritten Person - nach anfänglicher Faszination für die Verführungskraft des Westens über Stufen einer fortschreitenden Desillusionierung am Schluss zu der Einsicht, dass sein Identitätsverlust in einen Zustand dauerhafter Nicht-Identität beziehungsweise permanenter Verwandlung übergegangen ist, mit dem er sich den Anforderungen der Wirklichkeit, so wie er sie wahrnimmt, nicht nur gewachsen, sondern auf dem Weg ins gelobte Land weiß.
"Alles fließt", heißt es am Anfang noch recht beschaulich, als der Erzähler bei Basel über den Rhein gleitet. Fluss- und Wellenmetaphern durchziehen das ganze Buch, bis am Ende alles apokalyptisch zusammengeflossen ist - das Elend des Familienvaters in einer westdeutschen Fußgängerzone mit der neuen Volkskrankheit Bulimie, Rostock und Mölln mit Transsexualität, Gentechnologie und der Ersetzung des Menschen durch die Maschine. Wenn Schindhelm zum zivilisationskritischen Rundumschlag ansetzt, wird der Text auf unerträgliche Weise selbstgefällig. Mal werden die philosophischen, medientheoretischen und soziologischen Stichwortgeber in Klammern namentlich erwähnt, mal tauchen sie abfällig als "Spezialisten" auf. Der von Slavoy Z?iz?ek geprägte Begriff der "Interpassivität" beispielsweise - Kehrseite zur allgemein überbewerteten Interaktivität - wird von Schindhelm beispielsweise kurz zitiert, aber mit einem die Quelle völlig verzerrenden Bild gedeutet: Es geht bei Z?iz?ek gerade nicht um zwei sich gegenüberstehende Monitore, die sich gegenseitig "ohne Mensch ihr Programm präsentieren", wie Schindhelm darlegt, sondern um eine Kommunikationssituation, die für das Tauschgeschäft zwischen Bühne und Publikum im Theater typisch ist. Die einen lachen und weinen und entheben dadurch die anderen der Über-Ich-Pflicht, sich zu amüsieren oder sonst wie emotional zu beteiligen. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, Schindhelms Medienverständnis hätte sich auf der Flucht vor den "Eroten der Elektronenstrahlröhren" im "Bilderdickicht" verirrt, wo er vor lauter Wald die Bäume nicht mehr sieht. Der Zauber im Titel meint auch: zu DDR-Zeiten war Westfernsehen verboten und verführerisch, jetzt ist es nur noch "Mattscheibe" und Hauptverdächtigter im Kulturverfallsprozess.
Schindhelms Interesse gilt letztlich auch nicht der Medienwirklichkeit an sich als vielmehr der Rolle des Theaters in ihr. Das Theater als Seismograph für gesellschaftliche Prozesse - dazu hat der Theaterdirektor zumal vor dem Hintergrund seiner Intendanz in Basel noch die konkretesten Erfahrungen mitzuteilen. Seine Frage, wie sich Kunst, verstanden als Interpretation von Welt, verteidigen ließe gegen Unterhaltungs- und Ablenkungsbedürfnisse, beschäftigt derzeit wohl fast jeden Theatermacher. Hier wird Schindhelms Perspektive plötzlich bescheiden. Seine Sehnsucht heißt Schmerz: "Der Mensch sei keine schmerzfreie Zone" und in der großen menschlichen Tragödie das Theater dem Menschen ein Ort der Katharsis.
Fortgetragen von den großen Fragen zur Lage der Welt und des Theaters wäre die Frage nach der Heimat fast ganz aus dem Blick geraten. Schindhelm beschreibt eingangs sein Verhältnis zu Deutschland als ein "Abwesend angehörig"-Sein. Verlust der alten Heimat DDR, Kulturschock durch den hereinbrechenden westdeutschen Kapitalismus, Fremdsein im eigenen Land, das alles lässt sich nur aus der Position eines Fremden in der Schweiz noch einmal rekapitulieren und als besonders besondere Erfahrung stilisieren. Dass "der Westen" für einen intellektuellen DDR-Bürger wie Schindhelm jemals "das Paradies" verkörpert haben soll, mag man natürlich nicht glauben. Hat er selber überhaupt die Enttäuschungen erfahren, über das nicht eingelöste - und von wem eigentlich gemachte - Versprechen von "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit", auf das er mehrfach pocht? Oder dient sein Erfahrungsbericht vielmehr der Aufklärung über den vermeintlichen Widerspruch, dass jemand, der die Kaputtheiten der kapitalistischen Gesellschaft zutiefst verachtet, dennoch in diesem System erfolgreich sein kann? Mitzumachen ohne je dazuzugehören, das ist sozusagen das Erfolgsgeheimnis einer beispiellosen Karriere vom Quantenchemiker zum Intendanten. Nicht ohne Eitelkeit verweist Schindhelm darauf, dass er "der einzige und vorläufig letzte Theaterleitungsdilettant aus dem Osten Deutschlands" sei, "der ein größeres Haus im Westen Deutschlands, der Schweiz oder Österreich führt". "Die anderen aus der kleinen, untergegangenen Heimat sind weg." Hier spricht einer, der es geschafft hat. Eine Gewissheit, die ihn von vielen "seiner Landsleute" unterscheidet. Was ihm vermutlich niemand zum Vorwurf macht, nicht einmal er selbst.
Michael Schindhelm: Zauber des Westens. Eine Erfahrung. Deutsche Verlags-Anstalt. Stuttgart 2001. 205 S., 39,80 DM
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