Die Nahaufnahme eines Auges. Ein runzeliger Tränensack. Eine struppige Augenbraue. Ein Lidreflex. Ein wacher Blick. So beginnt Mit Haut und Haar von Martina Döcker und Crescentia Dünßer. Ursprünglich hatten sie ein gemeinsames Theaterprojekt geplant, in dem es um Erinnerungen an das gerade zu Ende gehende Jahrhundert gehen sollte. Heraus kam dabei ein Dokumentarfilm über sechs Frauen im Alter zwischen 74 und 96. Aber nicht auf die Erinnerung an sogenannte große historischen Ereignisse, Epochenbrüche und Katastrophen zielt das Interesse der Filmemacherinnen, sondern auf die Bedingungen des Frauwerdens, auf das Gedächtnis des Körpers und auf das zur Sprache bringen von Gefühlen.
In mehrstündigen Interviews wanderten Döcker und D
n Döcker und Dünßer mit den alten Frauen ihren Lebensweg ab. Von der Geburt bis zum nahenden Ende anhand von Fragen hauptsächlich nach sehr intimen Dingen wie dem ersten Kuß, der ersten Liebesnacht, nach sexueller Aufklärung, nach Traumprinzen und Schönheitsidealen. Fragen, wie sie wohl fast jedes Mädchen, jede Frau gerne der eigenen Großmutter und Mutter gestellt hätte. Fragen, die jedoch in der Regel für in der ersten Hälfte des Jahrhunderts geborene Frauen an ein Tabu rühren: "Darüber spricht man nicht." Vor diesem Hintergrund ist Mit Haut und Haar eine kleine Sensation. Man merkt den alten Frauen an, dass sie teilweise zum ersten Mal in ihrem Leben über diese höchst intimen Dinge reden, nach Worten suchen müssen und so einen dezenten, schamhaften Diskurs über das Körperliche und Sexuelle führen. Genau das Gegenteil der "Tyrannei der Intimität" wie sie einem in jedem x-beliebigen Fernseh-Peep-Talk entgegenschlägt.Diesem "Willen zum Wissen", dem sich die alten Frauen vor der Kamera unterwerfen, in dem sie den Fragenden, in den meisten Fällen sichtlich um Wahrhaftigkeit bemüht, Rede und Antwort stehen, stellt der Film die Stummheit des Fleisches gegenüber. Die Kamera rückt den Frauen im wörtlichen Sinne auf den Leib. Sie fährt mit extremen Nahaufnahmen eine Schulter- oder Nackenpartie entlang, verharrt auf einem Brustbein, gleitet durchs Haar, ruht auf einer Stirn oder einem Paar Hände. Die Landschaftlichkeit des Körpers nennt Crescentia Dünßer diese stark verfremdende und ins Abstrakte gehende Inszenierung der Kamerafrau Sophie Maintigneux. Die Strukturen der Hautoberfläche erinnern an die Materialität des Körpers, seine Verletzlichkeit und Vergänglichkeit. Die Entscheidung, den Film nicht in Farbe, sondern in schwaz-weiß zu drehen, verstärkt die ästhetische Distanz zum Gegenstand. Die Sehnsucht nach einem Blick, der unter die Haut geht, wird spürbar, ohne dass sie sich je erfüllen ließe. Diese stummen Bilder der nackten Haut erzählen mehr vom Leben, als die Worte sagen. Zwischen die Erzählsequenzen geschnitten öffnen sie aber auch einen Raum, in dem die Geschichten der Frauen nachhallen und die ZuschauerInnen eigenen Erinnerungen nachgehen können. Der Film ist insofern nicht nur eine Reise in das kollektive Körpergedächtnis einer spezifischen Frauengeneration, sondern dehnt es im Dialog mit dem Publikum aus auf die Gegenwart. Man ist überrascht, wie sehr sich die Erfahrungen über die Generationen hinweg ähneln.Mit Haut und Haar ist aber auch einfach sehr unterhaltsam, weil die alten Frauen spannende, lustige und tragische Geschichten zu erzählen haben. Kindheitserinnerungen an Sonntagspaziergänge, bei denen regelmäßig in einem Gartenlokal eingekehrt wurde, wo es, "das war das höchste der Gefühle", eine Sinalco zu trinken gab. Ein Würstchen hätte die sparsame Mutter nie gestattet. Von Karl-May-Lektüre unter der Bettdecke und der Liebe zu der schönen blonden Mitschülerin, die so aufregend war, dass die Mädchen dachten, sie hätten die Sache "erfunden" und darüber ein Buch schreiben wollten.Die unterschiedlichen Lebenswege der sechs Frauen sind geprägt durch ihre Herkunft und ihre berufliche Karriere. Ausgewählt wurden sie aber vor allem aufgrund ihres persönlichen Temperaments und nicht zuletzt, weil sie von sich erzählen wollten und konnten. Die Filmemacherinnen hätten sehr gerne auch eine Frau dabei gehabt, die von den Erfahrungen eines Lebens auf dem Lande hätte berichten können. Aber bezeichnenderweise fanden sie keine, die sich getraut hätte, vor der Kamera zu sprechen. So lernen wir die Keramikerin Hedwig Bollhagen kennen, die Skilehrerin Christel Cranz-Borchers, die 1936 Olympiasiegerin im Abfahrtslauf wurde, die Theaterwissenschaftlerin und Kommunalpolitikerin Gertraude Ils, die Hausfrau und gelernte Erzieherin Ursula Kage, die gelernte Schneiderin Emma Macho und die Schauspielerin Tana Schanzara.Eine glückliche Ehe geführt zu haben, behauptet übrigens nur eine der Frauen von sich. Eine andere hinterließ der Krieg als junge Witwe mit drei kleinen Kindern. Einer dritten scheint der Krieg den Mann in ein sadistisches Monster verwandelt zu haben, für die anderen stand die Führung des eigenen Unternehmens im Vordergrund beziehungsweise die künstlerische oder sportliche Karriere. Das Verhältnis dieser "modernen" Frauen zum anderen Geschlecht, auch das eine überraschende Beobachtung, lässt sich als nüchtern und sachlich beschreiben. Den Herren der Schöpfung kommt allenfalls eine Nebenrolle zu.Eine bemerkenswerte Gemeinsamkeit haben alle sechs Frauen außerdem in Bezug auf die Frage nach "dem ersten Mal". Darüber möchte nämlich keine von ihnen sprechen. Dass es ein eher unangenehmes, enttäuschendes Erlebnis war, wird aber doch deutlich. Ähnlich war's mit dem ersten Kuss. Hinreißend komisch können die Damen werden, wenn sie mit großer Ernsthaftigkeit gestehen, dass die Sache zu ihrem Bedauern leider gar nicht aufregend verlief.Es scheint, als würde die Auseinandersetzung mit dem Tod diesen hochbetagten Frauen eine geradezu beneidenswerte Gelassenheit, Souveränität und Freiheit verleihen. Frau Ils zum Beispiel erzählt einen Witz von einem Engländer, der jeden Morgen im Bett die Zeitung liest: "Dann gucke ich die Todesanzeigen an, und wenn ich meinen Namen nicht in der Zeitung finde, stehe ich auf." Dieser Witz habe sie nachhaltig amüsiert. Und Hedwig Bollhagen lächelt verschmitzt: "Das Altern habe ich gar nicht bemerkt bis zu einem gewissen Alter."Mit Haut und Haar läuft ab 9.12. im Filmtheater Hackesche Höfe, Berlin-Mitte, in der Reihe "nochzuhaben".
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