»Eine Hyazinthe im Knopfloch am Kurfürstendamm empfindet der Jüngling die Leere der Welt. Auf dem Klosett scheint es ihm deutlich: er scheißt ins Leere. Müde der Arbeit seines Vaters befleckt er die Cafés, hinter den Zeitungen lächelt er gefährlich. Er ist es, der diese Welt zertreten wird wie ein Kuhflädchen. Für 3000 Mark im Monat ist er bereit, das Elend der Massen zu inszenieren, für 100 Mark im Tag zeigt er die Ungerechtigkeit der Welt.«
Bertolt Brecht: Der Theaterkommunist
Bildbeschreibung
Die Fabulous Four aus Berlin. Gruppenbild mit Dame. Vier nicht mehr ganz junge Gesichter schauen gut ausgeleuchtet, aber merkwürdig regungslos aus dem Foto (Die Zeit, 22. April 1999) heraus und vermitteln einen Gesamteindruck von Seriosität und Erwachsensein: Wir sind uns des Ernstes der Lage bewußt und wissen um die Verantwortung, die wir auf uns genommen haben. Keine Spur von jugendlicher Verspieltheit, von wegen Spaß-Generation. Von links: Regisseur Thomas Ostermeier, Dramaturg Jens Hillje, die Choreographin Sasha Waltz und der Dramaturg Jochen Sandig. Zusammen werden sie zum Jahreswechsel die Leitung der Berliner Schaubühne übernehmen. Auf den zweiten Blick wirkt das Arrangement wie eine wohl-kalkulierte Inszenierung, die die Zusammensetzung der Gruppe sinnfällig statt zufällig erscheinen lassen soll: Ostermeier blickt entschlossen und leicht herausfordernd, den Daumen chefmäßig am Kinn abstützend in die Kamera, Sasha Waltz im Vordergrund als sinnlich-coole Diva, die durch die beschützende und gleichzeitig anschmiegsame Geste ihres Lebenspartners Sandig einen Hauch von Verletzlichkeit bekommt, und schließlich ein smarter Hillje im Schatten Ostermeiers. Ein Quartett, dessen Image, changierend zwischen männlich markant und weiblich charmant, den Duft von »denn sie wissen, was sie tun« verströmt. Getroffen haben sich die vier, so ist ihrem ersten, gemeinsam gegebenen Interview zu entnehmen, auf der Suche nach einem »realistischen Theateransatz«.
»Wie weit kommt man mit der Abspiegelung sozialer Wirklichkeit?« lautet ihre Leitfrage, und man war gespannt zu erfahren, ob sich hinter diesem Konzept mehr verbergen würde als die strategische Abgrenzung vom Castorf-geprägten Profil der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, das laut Ostermeier am »Populismus der Destruktion« und »anything goes« kranke.
Für Ostermeier selbst ist Realismus offenbar vor allem eine Frage des Stils und der Form und läuft, wenn man ihn beim Wort nimmt, geradewegs auf ein Bekenntnis zum schönen Schein hinaus, auf Versöhnung des Subjekts mit den Entfremdungs-Erscheinungen in einer auseinanderfallenden Welt des Spätkapitalismus, Theater als Märchenstunde und Eskapismus: »Gerade weil die sozialen Erfahrungen der Menschen so diskontinuierlich und vielfach gebrochen sind, wächst das Bedürfnis, etwas wie Einheit, Zusammenhang und Entwurf wenigstens zu fingieren.« Ihren Ansatz eines magischen oder surrealen Realismus in Theater und Tanz wollen sie verstanden wissen als Gegenentwurf zu einem »kapitalistischen Realismus«, dessen Ästhetik »uns hoffnungslos zurück läßt in der Fragmentierung der eigenen Individualität: Kunst, die das Subjekt den Mächten der Welt unterwirft.« Das klingt fast wie ein Recycling der Argumentation von Georg Lukacs aus der Realismus-Debatte Ende der 30er Jahre, allerdings unter völlig anderen Vorzeichen. Damals stritten deutsche Schriftsteller im Exil darüber, mit welchen literarischen Mitteln am wirksamsten gegen den Faschismus in Deutschland vorzugehen sei. Nun sieht es so aus, als wolle eine Generation junger Theatermacher den alten Streit um Geschlossenheit versus Offenheit der Form von neuem aufnehmen und sich mit »großen Erzählungen« von der Kunst der Montage verabschieden. Wo man mit einem alten Einwand von Brecht zu bedenken geben möchte, daß »die Wahrheit auf viele Arten verschwiegen und auf viele Arten gesagt« werden kann. Auch andernorts wie zum Beispiel bei der Neubesetzung der künstlerischen Leitung am Theaterhaus Jena, wo Claudia Bauer, ebenso wie Thomas Ostermeier Absolventin des Regieinstituts der Hochschule für Schauspielkunst »Ernst Busch«, die Leitung übernehmen wird, hat man sich für ein ähnliches Konzept entschieden, und damit gegen die fortschreitende Entgrenzung des Theaters in andere Medien, ein Ansatz, für den der noch amtierende künstlerische Geschäftsführer Sven Schlötcke zuletzt bei der Gesellschafterversammlung keine Unterstützung mehr fand. Auffallend ist, daß die Verfechter der Rückkehr zu den »eigentlichen« Qualitäten der Theaterkunst vor allem auf schauspielerische Virtuosität setzen. Die »Entfaltung differenzierter schauspielerischer Ausdrucksmittel« war es auch, was den zum Theatertreffen eingeladenen Produktionen in diesem Jahr das begehrte Ticket nach Berlin verschaffte.
So gesehen liegt die neue kollektive Leitung der Schaubühne voll im Trend, denn dort soll vor allem die Arbeit an der eigenen Virtuosität auf dem Programm stehen. Das Anknüpfen an das historische Mitbestimmungsmodell der Schaubühne, Einheitsgagen, Kinderzuschläge und der selbstauferlegte Verzicht auf lukrative Nebentätigkeiten bei Film, Funk und Fernsehen stehen für einen Versuch, das Rad der Geschichte in puncto fortschreitender »Kulturindustrialisierung« der Theaterbetriebe zurückzudrehen. Ob das die geeigneten Mittel sind, um dem Theater seinen Platz in der Gesellschaft zu sichern, bleibt abzuwarten. Um die großartigen Arbeitsbedingungen jedenfalls wird das Schaubühnenteam schon jetzt von vielen beneidet. Vor allem von jenen, die - wie Ostermeier und Waltz selbst noch bis vor kurzen - am Rande oder außerhalb des subventionierten Theaterbetriebs arbeiten. Von dort aus betrachtet, muß die Schaubühne wie eine Insel der Seligen erscheinen, ein luxuriöser Ausnahmefall und alles andere als ein »realistisches« Modell.
Attraktive Arbeitsplätze
»Der Arbeitsplatz Theater, der vor allem im künstlerischen Bereich häufig hohe Anforderungen an die Belastbarkeit des Personals stellt, muß attraktiv bleiben. Dies geht nur dann, wenn wir in den Theatern und Orchestern auch Vergütungen anbieten können, die junge Leute veranlassen das Risiko eines künstlerischen Berufs einzugehen.« (Jürgen Schitthelm in seiner Funktion als Präsident des Deutschen Bühnenvereins, in: Theater heute 4/99) Ohne hier auf die ganze Tragweite der über Jahre geführten Diskussion über die Strukturveränderungen der Theaterbetriebe eingehen zu wollen, und ohne die kulturpolitische Notwendigkeit dieser Forderungen des Bühnenvereins anzuzweifeln, fällt doch auf, wie wenig die Stadt- und Staatstheaterbetriebe berührt sind von den allgemeinen Veränderungen künstlerischer und kultureller Produktion unter den gegebenen sozialen und ökonomischen Bedingungen. So kann man nicht umhin, angesichts Jürgen Schitthelms Hinweis auf die Risikobereitschaft des künstlerischen Nachwuchses am Realitätsgehalt seiner Argumentation zu zweifeln. Es sei denn, sie wäre ausschließlich auf die Konkurrenz durch das einträgliche Geschäft für Schauspieler bei Film und Fernsehen bezogen. Ansonsten verkennt sie den Umstand, daß das Risiko eines künstlerischen Berufs für eine nachwachsende Generation kein spezielles mehr darstellt, sondern heutzutage mehr oder weniger für jede angestrebte Berufskarriere gilt. Es verhält sich eher umgekehrt: Gerade weil die Vorstellungen von einer krisensicheren Lebensstellung und einer bürgerlichen Existenz als kulturelle Leitbilder ausgedient haben, steigt die Attraktivität »künstlerischer« Lebensentwürfe. Insofern werden die Theater also keinerlei Nachwuchsprobleme zu befürchten haben.
Lebensästheten
Die Forderung nach Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse schlägt sich unter anderem auch in Lebensentwürfen nieder, in denen die ökonomische Grundlage der eigenen Existenz aus einer Art Gemischtwarenladen aus Tätigkeiten besteht, die kaum noch als Arbeit wiedererkennbar, sondern eher im Bereich kultureller und künstlerischer Produktion anzusiedeln sind, die auf Moden, Geschmack und Konsumgewohnheiten Einfluß nehmen oder die öffentliche Meinung bearbeiten. Diese sogenannten Patchwork-Karrieren beruhen im Grunde darauf, die »Selbstverwertung« intellektueller Fähigkeiten und Tätigkeiten (partiell) in Geschäftsideen zu überführen. Wie man aus der Not eine »Tugend der Orientierungslosigkeit« zu machen versucht, beschreiben Johannes Goebel und Christoph Clermont in ihrem gleichnamigen Buch über die »Generation der 89er« (Verlag Volk und Welt, Berlin 1997), in dem sie die soziale Unsicherheit einer flexibilisierten Arbeitswelt als Herausforderung begreifen und mit dem Entwurf eines »neuen Menschen-Typus«, dem »Lebensästheten«, beantworten.
Daß Erwerbstätigkeit zum Privileg zu werden droht, führt dazu, daß die immer schon prekäre soziale Lage einer Existenz als »freier Künstler« für immer mehr Erwerbstätige zum Normalfall wird, gekennzeichnet durch Abbau von Sozialleistungen, Ausbau des Niedriglohnsektors, Scheinselbständigkeit, Ein-Personen-Dienstleistungsbetriebe, Leiharbeit und so weiter. So nähern sich die Arbeits- und Lebensformen von Arbeitslosen und Künstlern einander weiter an.
Die einst subversive Forderung der Situationisten »Nie wieder arbeiten!« hat sich real »falsch« erfüllt. Für die eigene Lebensführung als unbrauchbar erweist sich zunehmend und für immer mehr Menschen die für die klassische Form der bürgerlichen Kultur konstitutive Trennung des Zweckmäßigen und Notwendigen vom Schönen und vom Genuß.
Immaterielle Arbeit
Worin sich Kapitalismus und Sozialismus im Grunde immer einig waren, ist die Ideologie der Arbeit in Form von Lohnarbeit. Andere Formen von Arbeit, sei es im Bereich der Erziehung und Bildung, reproduktive Tätigkeiten im Haushalt, soziale Kommunikation oder eben auch Kunst, wurden und werden nicht als Arbeit anerkannt, obwohl sie selbst gesellschaftlichen Reichtum produzieren. So gesehen haben wir es weniger mit einem Verteilungsproblem der Arbeit, sondern mit einem Verteilungsproblem von Reichtum zu tun.
Um die Anerkennung der Fähigkeit, soziale Werte zu produzieren, als Arbeit geht es bei dem Konzept der »immateriellen Arbeit«: »Diese immaterielle Arbeit konstituiert sich unmittelbar kollektiv, ja man könnte sogar davon sprechen, daß sie nicht anders als in der Form von Netzwerken oder Strömen existiert. ... Hier finden sich kleine und kleinste produktive Einheiten, häufig nur eine Person, die sich zu Ad-hoc-Projekten organisieren und gegebenenfalls nur für die Dauer eines bestimmten Vorhabens existieren. Der Produktionszyklus selbst ist dabei abhängig von der kapitalistischen Initiative; sobald der ÂJob erledigt ist, löst sich der Zusammenhang auf in jene Netzwerke und Ströme, die den produktiven Vermögen die Reproduktion und soziale Ausdehnung ermöglichen. Prekäre Beschäftigung, Hyperausbeutung, hohe Mobilität und hierarchische Abhängigkeiten kennzeichnen diese metropolitane immaterielle Arbeit. Unter dem Etikett Ânicht abhängiger oder gar Âselbstbestimmter Arbeit verbirgt sich tatsächlich ein intellektuelles Proletariat, das aber als solches höchstens von den Kapitalisten (an-)erkannt wird, die es ausbeuten. Bemerkenswert ist noch, daß es unter den skizzierten Bedingungen zunehmend schwierig wird, freie Zeit von Arbeitszeit zu unterscheiden - in gewissem Sinn fällt das Leben mit der Arbeit in eins.« (Maurizio Lazzarato: »Immaterielle Arbeit. Gesellschaftliche Tätigkeit unter den Bedingungen des Postfordismus«, in: Toni Negri, Maurizio Lazzarato, Paolo Virno: Umherschweifende Produzenten, ID Verlag, Berlin 1998, S. 46 f.)
Immaterielle Arbeit umfaßt in erster Linie die Fähigkeit, neue Formen der gesellschaftlichen Kommunikation herzustellen, neue Bedürfnisse, Moden und Lebensstile. Eine Form sozialer Produktivität, die am Ende zweifellos - man denke daran, welchen Beitrag die sozialen und kulturellen Bewegungen nach '68, der Feminismus etwa und die Ökologie-Bewegung - immer auch zum Reichtum von Unternehmen oder einzelner Personen beigetragen haben.
Kultur des Kapitalismus
Wie weitreichend die Folgen wären, würde soziale Kommunikation als Arbeit anerkannt und entlohnt werden, liegt auf der Hand. Der sich als Folge globaler und technologischer Umbruchprozesse und speziell in unserem Kulturraum sich durch die Überwindung der politischen Nachkriegsordnung, die Integration des europäischen Wirtschaftsraumes und die Resultate der deutschen Wiedervereinigung vollziehenden gesellschaftliche Strukturwandel bringt zwangsläufig neue Parameter für kulturelle Praktiken mit sich. Privatisierung, Mediatisierung, Ästhetisierung, Individualisierung, elektronische Netzwerke - all das sind nur Stichworte einer Neuordnung gesellschaftlicher Zusammenhänge. Im Verhältnis dazu nehmen sich die staatlich subventionierten Theater trotz Sparverordnungen immer noch aus wie ökonomische Schutzzonen.
Für manch einen ist es offenbar schon so sehr Mode geworden, sich über den allgegenwärtigen »Terror der Ökonomie« zu beklagen, daß es inzwischen interessanter erscheint, den adornitischen Zusammenhang beziehungsweise den Gegensatz von Kultur und Kapitalismus aufzuheben. Dann läßt sich auch behaupten, »Aufklärung, Emanzipation, Kultur und Kapitalismus« wären strukturell und ideologisch dasselbe, wie es unlängst der Soziologe und Luhmann-Schüler Dirk Baecker in einem Vortrag über Theater (anläßlich des Rosenkriege-Projekts an der Berliner Volksbühne) getan hat.
Die Interaktion zwischen Publikum und Bühne, »die Beobachtung der Beobachter« sei »nichts anderes als Kapital auf der Suche nach Profitchancen. Umgekehrt also macht die Sache Sinn: Wir haben es nicht mit einem universellen Entfremdungszusammenhang zu tun. Sondern dieses ÂKapital auf der Suche nach Profitchancen ist der Modus der gesellschaftlichen Koordination, den die Moderne zu ihrem eigenen gemacht hat, seit ihr alle externen Referenzen auf die Götter, das Schicksal und die Natur abhanden gekommen sind.« (die tageszeitung, 10. Februar 1999, S.16) Theater mitten im Herzen der Kultur des Kapitalismus, wie Baecker es nennt. Vielleicht sollten Ostermeier Co. ihr Realismuskonzept unter diesem Aspekt noch einmal überprüfen.
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