Wer schon einmal im Sommer auf dem Weg nach Italien einen der Alpenpässe mit dem Auto überquert hat, kennt das Phänomen: Während die PKW-Lawinen von einer Serpentine zur nächsten kriechen, rauschen die Motorräder mit waghalsigen Überholmanövern zwischen den Autoschlangen hindurch. Als einen solchen, dem Rausch der Geschwindigkeit und dem Spiel mit dem Tod verfallenen Fahrer muss man sich den Schauspieler Joseph Bierbichler vorstellen: einen Mann in den sogenannten besten Jahren, die extra zu diesem Anlass gekaufte schwarze Yamaha unter dem Arsch - und eben ausdrücklich keine weiße BMW - auf dem Weg zu einem Rendezvous, genauer auf der Suche nach seiner "Ursprungsliebe".
Wenn ein Schauspieler ein Buch schreibt, dass keine Autobiographie ist, dann ist das an sich schon ungewöhnlich. Gemeinhin verbreiten sich Schauspieler und zumal Schauspielerinnen im Genre der Lebenserinnerung. Auf Anhieb fallen einem Therese Giehse (Ich habe nichts zum Sagen), Lilli Palmer (Dicke Lilli, gutes Kind), Hildegard Knef (Der geschenkte Gaul) und Elisabeth Flickenschild (Mädchen mit roten Haaren) ein. Was ihre Lebensgeschichten erzählenswert macht, ist zumeist die einfache Tatsache, dass Schauspieler und Schauspielerinnen als Menschen des öffentlichen Lebens mehr oder weniger berühmten Zeitgenossen, am häufigsten natürlich anderen Theaterleuten, begegnen. Solche Bücher lesen sich wie gut abgehangene, feuilletonistische Klatschspalten, im besten Falle leisten sie einen Beitrag zur Zeit- oder Theatergeschichte. Die Auseinandersetzung mit Künstlerkollegen wie Juliette Binoch, Peter Zadek, Michael Haneke, Christoph Schlingensief, Ulrich Wildgruber und Herbert Achternbusch finden sich auch in Bierbichlers Buch Verfluchtes Fleisch und trotzdem passt es nicht in dieses Genre: Sein Buch ist in erster Linie das Plädoyer eines Nonkonformisten, eine Selbstanalyse und daher auch ein "Männerbuch", zeitkritischer Essay, Kritik am Theater und literarischer Entwurf - alles in einem - und deshalb durchaus schwer genießbar. Strukturell hat Bierbichlers Text mit dem Theater nicht viel zu tun. Eher ist es der Traktat eines Schauspielers über das, was er auf der Bühne eben nicht sagen kann. Was er schreibt, ist respektlos, sexistisch, anmaßend und provozierend. Wie er schreibt, hat Sprach- und Wortwitz und den Rhythmus seiner Muttersprache, des Bayrischen.
Bierbichler wählt den Gestus der Selbstaufklärung, es geht ihm um nichts Geringeres als um die Wahrheit. Dass diese allerorten relativiert und verschleiert wird, bringt ihn auf. Geradezu rasend macht ihn jedoch, dass die allermeisten Menschen die eigene Unmündigkeit, ihre Unterwerfung unter Macht und Ordnung klaglos zu akzeptieren scheinen. Er spürt sozusagen in seinen Beobachtungen und Beschreibungen von Alltagsszenen und Begegnungen mit anderen Menschen einen "Verblendungszusammenhang" nach dem anderen auf. Gerade weil er die Regeln der Macht durchschaut, hat er keine Lust nach diesen Regeln mitzuspielen: "Und trotzdem kotzen mich die an, die wissen, wie es geht und es auch tun. Die, die an den Windmühlen vorbeireiten oder mit ihrem besseren Wissen noch nie einen Stein den Berg hinaufgerollt haben. Mich reizt es immer noch viel mehr, zu wissen, wie es ginge, es aber trotzdem nicht zu tun. Aus dem einen Grund: Dass ja nie die Gefahr aufkommt, von den anderen wirklich geachtet oder gar geliebt zu werden. Ich will sie als meine Feinde!"
Zu Bierbichlers liebsten Feinden gehören zweifellos die Regisseure. Was seinen Grund hat im Herr/Knecht-Verhältnis, als das der Autor die Arbeitsbeziehung zwischen Regisseur und Schauspieler darstellt. Deshalb schlägt Bierbichler vor, "dass sämtliche Regisseure und Regisseurinnen des deutschsprachigen Theaters, am letzten Tag des nächsten Berliner Theatertreffens in einer groß ausgerichteten Feier öffentlich den kollektiven Selbstmord begehen - zur Rettung des deutschen Theater." Die Kollegen "Darstellungskünstler", von denen ob der neu gewonnenen Freiheit nur "Selbstdarstellungssucht" und "enthemmter Spieltrieb" zu erwarten seien, wären zu "liquidieren", während es "den wenigen verbliebenen Könnern des Theater" zukäme, ein neues Theater zu begründen. Soweit Bierbichlers Theaterutopie. Mit solchen Ideen macht man sich wahrlich keine Freunde in Theaterkreisen, wo öffentliche Nestbeschmutzung so verpönt ist wie in kaum einer anderen Branche. Aber es geht Bierbichler, dem eigenen Bekunden nach, ja gerade darum, sich Feinde zu machen. Ein aussichtsloses Unterfangen, denn natürlich wird einer wie Bierbichler gerade in Theaterkreisen eben wegen seiner unbequemen, anarchischen Haltung geliebt. Das mag paradox klingen, entspricht aber genau jener Verlogenheit der Verhältnisse, die Bierbichler anprangert. So wirkt der rebellische Gestus des Autors Bierbichler auf Dauer einerseits kokett aber auch verzweifelt angesichts der außer Frage stehenden allgemeinen Anerkennung des Schauspielers Bierbichler. Da rennt er sozusagen offene Türen ein und die Narrenfreiheit, die man einem Künstler wie ihm zugesteht, erstickt jede Provokation schon im Keim. So gesehen, diente die ganze Übung in letzter Konsequenz nur dem "ICH", auf das Bierbichler sich immer wieder zurückzieht. Von diesem "ICH" zeigt Bierbichler viele Seiten: die des Bauernsohns, des Liebhabers, des Vaters, des Schauspieler und seine dunkelste, ein alter ego namens Kaspar, dessen todessehnsüchtige Geschichte die anderen Textfragmente durchzieht und ihnen einen Rahmen gibt. Dieses Wesen durchläuft in völliger Einsamkeit eine phantastische Mutation zu einem mit Obstler gepäppelten Monster, mit dem das Autor-Ich schließlich in einem brutalen Akt der Selbst-Hinrichtung verschmilzt, um als Baum-geborener Riese wieder aufzuerstehen.
Der vielleicht entscheidendste Impuls für die Bierbichlersche Selbstdekonstruktion, ist die Erfahrung des Alterns und das allmähliche oder auch jähe Nachlassen der sexuellen Attraktivität für das andere Geschlecht. In einer peinlich detaillierten Erzählung vom betrogenen Mann, der von seiner Freundin wegen eines Jüngeren verlassen wird, gewährt Bierbichler seinen Lesern und Leserinnen Einblick in die tiefsten Niederungen männlicher Eifersucht. Die eigene Niederlage verbrämt er nur notdürftig mit einer grundsätzlichen, im Vergleich zu seinen sonstigen Überlegungen geradezu reaktionären Reflexion über das Geschlechterverhältnis, das sich ihm als archaischer Geschlechterkampf darstellt, in dem Frauen auf Triebbefriedigung und Arterhaltung reduziert werden. Auch wenn sich im Ausblick auf die Zukunft der Reproduktionsmedizin die Position des Mannseins zu relativieren scheint, summiert sich alles, was Bierbichler über die weibliche Hälfte der Menschheit zu sagen hat, zu einem abgrundtiefen Frauenhass. Die Motorradfahrt über die Alpen findet so gesehen doch noch ein Happy End in einer märchenhaft-pathetischen Ersetzung des eigenen Herzens durch einen Stein. So findet das "ICH" allmählich Ruhe vor der Liebe und vor den Anwandlungen des "verfluchten Fleisches".
Sepp Bierbichler: Verfluchtes Fleisch. Roman. Verlag der Autoren, Frankfurt am Main 2001, 276 S., 19 EUR
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