Die Klavierlehrerin Erika Kohut kennt nur wenige Freuden. Aber auch die sind zwanghaft, Ersatzhandlungen, und bereiten ihr kein wirkliches Vergnügen. Ab und zu kauft sie sich ein schickes Kleid oder Kostüm, um es zu Hause in den Kleiderschrank zu hängen. Der müsste eigentlich schon überquellen vor lauter Fetischen, würde Mutter Kohut die Sammlung nicht in regelmäßigen Säuberungsaktionen immer wieder kräftig dezimieren. Einen Gebrauchswert im eigentlichen Sinne hat die Mode für Erika jedoch nicht. Sie trägt immer das selbe unauffällige, reizlose Ensemble aus Rock und Bluse in gedeckten Farben, passend zum ungeschminkten Gesicht, den altjüngferlich hochgesteckten Haaren und den Schuhen mit flachen Absätzen. Die so ges
gesehen sinnlosen Einkäufe sind also höchstens dazu gut, einen Streit mit der Mutter zu provozieren, deren ganzer Lebensinhalt darin besteht, ihre Tochter rund um die Uhr zu kontrollieren bis unter die Decke des Ehebetts, das sich Mutter und Tochter teilen.Das hoch neurotische und dabei kleinbürgerlich spießige Gefängnis, das diese Mutter-Tochter-Symbiose darstellt, setzt Michael Haneke schon in den ersten zehn Minuten seines Films eindringlich in Szene: Erika kommt ein bisschen später als erwartet nach Hause. Sie war wieder einmal shoppen und versucht, unbemerkt in ihr Zimmer zu schleichen. Doch die Mutter lag schon auf der Lauer, entreißt Erikas Handtasche mit einem Griff das soeben erworbene Sommerkleidchen und überhäuft die Tochter mit Beschimpfungen, als würde dieser Einkauf sie auf dem Weg zum angestrebten Erwerb einer Eigentumswohnung um Jahre zurückwerfen. Es kommt zu heftigen Handgreiflichkeiten zwischen den beiden Frauen, bei denen die Mutter Haare lassen muss, Tränen fließen, gefolgt von einer Tasse Kaffee zur Versöhnung. Die beiden Frauen sind ein eingespieltes Team und wissen, was sie aneinander haben. Sie nennen ihre perfekte Verbindung, in der für niemand anderen Platz ist, Liebe, aber im Grunde ist es eine undurchdringliche Verstrickung aus gegenseitigen Schuldzuweisungen und Bestrafungen für die einander und im Dienste einer vermeintlich höheren Sache, der Musik, erbrachten Opfer.Elfriede Jelineks Roman Die Klavierspielerin, war bis zum Erscheinen von Lust der Bestseller der österreichischen Autorin. Er konstruiert das Drama der phallischen Frau oder, um in der psychoanalytischen Terminologie zu bleiben, des weiblichen Ödipus: Das Begehren der Mutter richtet sich ganz auf die Tochter, die den Phallus des Mannes ersetzen soll, was auf Grund ihres Geschlechts aber ein Ding der Unmöglichkeit ist. Der Vatermord hat schon stattgefunden - Erikas Vater lebte und starb in der Psychiatrie - zum Muttermord wird es nie kommen. Emotional befindet sich die Tochter mit Ende dreißig im Stadium eines Kleinkindes. Nichts gelingt ihr, ständig versagt sie, im Leben wie in der Kunst. Konzertpianistin hätte sie werden sollen, aber dazu hat es nicht gereicht. Darunter haben ihre Schüler am Wiener Konservatorium zu leiden, wo die "Frau Professor" ein strenges Regiment führt. Außer Verachtung kann sie kein Gefühl für ihre Zöglinge aufbringen. Der Erfolg, der ihr versagt blieb, steht auch sonst niemandem zu. Das ist es, was die Mutter ihr noch bis in den Schlaf eintrichtert: Sie werde doch nicht so ungeschickt sein, zuzulassen, dass eine ihrer Schülerinnen in ihre Domäne der Schubert-Interpretation einbreche? Eine heimlich von Erika in der Manteltasche ihrer Lieblingsschülerin deponierte Portion Glassplitter kann das aufstrebende, ungehörig ehrgeizige Talent stoppen, vielleicht aber auch vor einer Karriere wie der ihren bewahren.Am eklatantesten ist Erikas Versagen allerdings in der Beziehung zum anderen Geschlecht. Jede ihrer Perversionen, ihre Selbstverstümmelungen wie ihr Voyeurismus, scheinen immer nur auf das eine zu verweisen: die Unvollkommenheit des weiblichen Geschlechts. Erika Kohut glaubt, ihrem Schüler Walter Klemmer, der sich in den Kopf gesetzt hat, seine Lehrerin zu erobern, die Spielregeln ihrer Lust diktieren zu können. Die zahllosen Szenen der Selbsterniedrigung, in die sie sich dadurch bringt, steigert Jelinek so ins Groteske, dass man beim Lesen fast lachen möchte, wären sie nicht so schonungslos brutal und beispielhaft für die Unumkehrbarkeit der Machtverhältnisse zwischen Mann und Frau.Haneke hält sich weitgehend an den Roman, verzichtet auf jegliche Rückblenden in die Kindheit der Protagonistin, bündelt und verstärkt Motive und aktualisiert auch an manchen Stellen den mittlerweile bald zwanzig Jahre alten Text. So besucht Erika Kohut anders als im Roman, nicht eine Peepshow (die es heute kaum noch gibt), sondern eine Video-Kabine mit Splitscreen, befriedigt ihre Schaulust nicht im Wienerwald, wo es ein Paar unter freiem Himmel treibt, sondern in einem Autokino. Dass Walter Klemmer in seiner Freizeit nicht Wildwasserpaddeln geht, sondern Eishockey spielt, erlaubt Haneke, für einen kurzen Moment zwei Eiskunstläuferinnen ins Bild zu setzen, die ebenso wie die Klavierschülerinnen das Modell weiblicher Disziplinierung repräsentieren, auf das es Jelinek ankommt. Gelungen ist vor allem die Besetzung der beiden Hauptdarsteller: Walter Klemmer (Benoît Magimel) verkörpert in jeder Hinsicht eine Provokation für Erika Kohut (Isabelle Huppert): Alles, was sie sich hart erkämpfen muss, ohne es je erreichen zu können, fällt dem charmanten Sunnyboy einfach zu. Was er tut, gelingt ihm, weil es ihm Spaß macht. (Einziger Schönheitsfehler in der deutschen Fassung: Die Synchronstimme von Isabelle Huppert stammt von Corinna Harfouch, die einen so spezifischen Duktus hat, dass er die hoch sensible Spielweise der Huppert auf störende Weise übertönt.)Haneke vermeidet den pornografischen Blick, den Jelinek mit sprachlichen Mitteln drastisch evoziert: Das Obszöne bleibt dem Blick des Kinozuschauers verborgen, liegt auf geradezu demonstrative Weise außerhalb des Bildausschnitts beziehungsweise oberhalb der Gürtellinie. Gezeigt werden hingegen die Gesichter, in denen sich der Vollzug der jeweiligen sexuellen Handlung spiegelt. Wie konsequent und differenziert Haneke seine filmischen Mittel einsetzt, zeigt sich am deutlichsten in den zwei kontrapunktisch gesetzten Vergewaltigungsszenen auf der Damentoilette beziehungsweise im Flur der Kohutschen Behausung: Erikas unbeholfener Versuch, das Geschlecht des Mannes ihrem Willen zu unterwerfen, und Walters, exakt nach Erikas Wünschen ausgeführte, schwere körperliche Misshandlung. Obwohl die Situationen ähnlich konstruiert sind, lässt Haneke doch keinen Zweifel an der Unvergleichbarkeit der Vorgänge. Absolut quälend wird im zweiten Falle mit starrer Kameraeinstellung jede minimale Veränderung im Gesicht des Opfers registriert. Diese Szenen kann man als die Gravitationszentren in einer Arie aus mehr oder weniger raffiniert sublimierter Gewalttätigkeit, die den ganzen Film durchzieht, auffassen. Wobei der Musikunterricht am Wiener Konservatorium keine Ausnahme macht, sondern eher wie eine Fortsetzung des Kriegs mit anderen Mitteln erscheint. Etwa wenn ein Gesangsstudent Schuberts Winterreise interpretiert, ohne auch nur einen Augenblick zu empfinden, was er da von sich gibt."Ich freu mich schon auf ihr Spiel, Frau Professor", sind die letzten Worte im Film. Walter Klemmer wirft sie Erika Kohut über die Schulter zu, während er in einer Horde anderer fröhlicher, junger Menschen die Treppe hinauf stürmt in den Konzertsaal, wo Erika die von ihr verletzte Schülerin am Klavier vertreten soll. Er klingt wie ein höhnisches Echo auf die Niederlage der Frau: Freude am Spiel, genau das ist es, was Erika Kohut nie wird empfinden können.
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