Als vor 60 Jahren der Zweite Weltkrieg zu Ende ging, mussten viele Soldaten der Roten Armee, die im Kampf um Berlin gefallen waren, namenlos in Massengräbern bestattet werden. Um an sie zu erinnern, entstanden bald nach 1945 Gedenkstätten wie die Ehrenmale im Treptower Park, im Tiergarten oder in der Schönholzer Heide. Dabei gab es für die in Treptow aufgestellte, überlebensgroße Skulptur zwei Sowjetsoldaten, die Modell standen. Einer davon war Nikolai Iwanowitsch Mossalow, am Ende seines Lebens ein verarmter Rentner in einem Städtchen unweit der sibirischen Stadt Kemerowo.
Ufer am Landwehrkanal
Die verknorpelten Hände mit den violett hervortretenden Adern tasten sich an der Wand entlang - der alte Mann in der kleinen Holzhütte aus verwitterten Rundbalken besitzt weder Rollstuhl noch Krücken. Um in das winzige Schlafzimmer zu gelangen, wo unter dem Stahlgestellbett die Kiste mit den alten Schwarzweißfotos steht, dient ihm die rohverputzte Stubenwand als Gehhilfe. Ächzend, einen Arm in die nachgebende Bettstatt gestützt, lässt sich Nikolai Iwanowitsch auf die Matratze sinken, beugt sich tief nach unten und zieht den großen Pappkarton hervor.
Auf einem der ersten Bilder in diesem Album mit den schwarzen Seiten sieht man einen jungen Mann, dekoriert mit Orden und Medaillen, wie er sich ergeben von einer offenbar wichtigen Persönlichkeit die Hand schütteln lässt. Der junge Mann ist Nikolai Mossalow 1949 in Berlin, die wichtige Persönlichkeit der Bildhauer Juri Wutschetitsch, der ein Gesicht gesucht hat - das Gesicht eines Helden für eine Gedenkstätte von wahrhaft sowjetischen Ausmaßen in Deutschland. Nur der Mamajew-Hügel in Stalingrad sollte das geplante Mahnmal in Berlin-Treptow an Größe übertreffen. Stalin persönlich hatte aus den Fotos in Frage kommender Soldaten das des damals 26-jährigen Mossalow ausgewählt - für die passende Heldengeschichte hatte der junge Mann selbst gesorgt.
Während der letzten Kriegstage trug er ein deutsches Mädchen von einer noch umkämpften Straße im Zentrum der Reichshauptstadt. Es war für ihn, so erzählt er, nicht mehr und nicht weniger als "die ganz normale Menschlichkeit", die ihn das Kind retten ließ.
Umständlich blättern die gichtigen Hände des alten Mannes im Fotoalbum, um das Bild mit der gewaltigen, 13 Meter hohen Bronzefigur aus dem Treptower Park zu finden, den Soldaten mit dem kleinen Mädchen auf dem Arm und dem zerbrochenen Hakenkreuz als Symbol des niedergekämpften und bezwungenen Faschismus unter dem Stiefel.
"Kurz vor Berlin bin ich zum Fahnenträger erklärt worden", erinnert sich der 82-Jährige mit heiserer Stimme. "Ich renne also mit der Fahne in der Hand nach vorn. Die Kalaschnikow, die nutzlos am Riemen über der Schulter hängt, schlägt mir gegen die Beine. Ringsum Artillerieeinschläge. Plötzlich höre ich in der Nähe ein Kind schreien und brülle rüber zu meinen Kameraden, die an den Häuserwänden von Tür zu Tür hasten, zum Teil springen wie die Hasen: Ich gehe und hole das Kind! Dann krieche ich zum Ufer des Landwehrkanals an einer zerstörten Bücke entlang und sehe da eine Frau liegen, daneben das Kind. Die Frau - tot. Ich nehme also das wie verrückt schreiende Mädchen und renne mit ihm zum Stab."
"Eine bleibende monumentale Gedenkstätte ist zu schaffen, die der internationalen Befreiungsmission der Sowjetarmee gerecht wird", hieß es in der Ausschreibung für den künstlerischen Wettbewerb, die der Militärrat der sowjetischen Besatzungstruppen in Deutschland 1946 formuliert hatte. Etwa 40 Entwürfe gingen ein, darunter auch solche, die einen 300 Meter hohen Gedenkturm vorsahen. Schließlich wurden zwei ausgewählt und bestätigt - eines für das Ehrenmal in Berlin-Schönholz, das andere für das in Treptow, entwickelt vom bereits erwähnten Juri Wutschetitsch und dem Architekt Belopolski. Es sei ihm nicht darum gegangen, so Wutschetitsch später, einen bestimmten Heerführer oder Helden zu verewigen, sondern eine volksnahe, aber auch symbolträchtige Figur zu schaffen.
Das Modell für den Korpus des Denkmals fand der Bildhauer im Sommer 1948 bei Sportwettkämpfen sowjetischer Soldaten in Weißensee mit Iwan Stepanowitsch Odartschenko, einem Arbeiter aus der Stadt Tambow, der am Sturm auf Berlin teilgenommen hatte. Für "das Gesicht" aber kam ein anderer in Betracht.
Kein Ehrenbürger mehr
Noch immer sitzt Nikolai Mossalow auf seinem Federbett und tastet mit fahriger Hand über die Tasche seines rauen Jacketts, einst wohl Teil eines Anzugs aus besseren Zeiten, um ein weißes Röhrchen mit Tabletten heraus zu fingern. Eine Herzkrankheit macht ihm zu schaffen. Während er die Medikamente in den Mund schiebt, weist er auf die Plaketten, die mit Sicherheitsnadeln auf einem Schleifenband befestigt sind, das vom Türrahmen herabhängt: "Deutsch-Sowjetische Freundschaft" - "20. Jahrestag der Befreiung". Die heutzutage in Deutschland längst entsorgten Zeugen einer inzwischen belächelten Vergangenheit werden hier noch wie Reliquien behandelt. Vielleicht sind sie für Mossalow ein letzter sichtbarer Hoffnungsschimmer, das alles doch noch einmal so werden könnte, wie es früher war, jetzt, da sein Leben fast vorbei ist.
Damals, am 8. Mai 1965, zum 20. Jahrestag des Kriegsendes, war er als "das Gesicht" des Treptower Ehrenmals zusammen mit elf sowjetischen Marschällen, Offizieren und Soldaten in Berlin (Ost) zum Ehrenbürger der Stadt ernannt worden. Eine der vielen Auszeichnungen, die ihn während der Nachkriegsjahrzehnte erreichten und ihm schließlich doch das Gefühl gaben, ein Held zu sein, wie das die Propaganda in den eigenen Reihen von Anfang an verkündet hatte. Jahrelang konnte er auch den Kontakt mit dem Mädchen halten, dem er in Berlin vermutlich das Leben rettete. Irgendwann aber seien die Briefe immer seltener gekommen und immer kürzer geworden, bis sie schließlich ganz ausblieben.
Nach Kriegsende war Mossalow wieder in seine Heimat, nach Sibirien, zurückgekehrt. In das Städtchen Tjashinski, 5.000 Kilometer entfernt von Berlin, wo er zu Ruhm und Ehre gekommen war. Ein solcher Held, Modell und Vorbild eines Denkmals, könne nicht in der Fabrik oder auf dem Feld arbeiten, entschied die Partei. So wurde Mossalow Mitglied der Parteirates seiner Heimatstadt und erhielt eine Tafel für die Vorderseite seines Holzhauses, auf der neben dem Vor-, Vaters- sowie Familiennamen und dem Geburtsdatum auch die Ehrenbürgerschaft in Berlin Erwähnung fand. Außerdem wurde auf dem Leninplatz von Tjashinski eine kleine, mannshohe Kopie des Berliner Ehrenmals aufgestellt - kein Wunder, dass Nikolai Iwanowitsch in der Kleinstadt als Berühmtheit galt.
Allerdings erreichten Anfang der neunziger Jahre die Ausläufer von Wende und Wiedervereinigung auch das sibirische Tjashinski: Der Zeitgeist war weder gelassen noch großzügig, und ein CDU-geführter Berliner Senat erkannte Nikolai Iwanowitsch Mossalow 1992 die Ehrenbürgerschaft der Stadt wieder ab. Doch darüber mochte er nie sprechen, weil er diese Entscheidung nie verstehen konnte.
Die Lehre seines Lebens
Schon zu Beginn des Jahres war klar, zur großen Parade am 9. Mai in Moskau, zum 60. Jahrestag des Sieges im Großen Vaterländischen Krieg, würde der alte Mann nicht reisen können. Gegen seine Herzkrankheit war kein Kraut mehr gewachsen. Schon gar nicht hier in der Provinz, in der eine angemessene medizinische Versorgung der Alten als rausgeworfenes Geld angesehen wird.
Knapp 10.000 Kriegsveteranen erhalten von Präsident Putin am 9. Mai noch einmal eine Feier wie zu Sowjetzeiten: Auch die ehemaligen Soldaten der 3. Weißrussischen Front, Mossalows Kameraden, denen Russland alles andere als einen Lebensabend in Wohlstand bieten kann. Dass Tausende Pensionäre und Veteranen erst vor kurzer Zeit Woche für Woche demonstrierten, weil ihnen Putins Parlament die verbilligten Bus- und Bahnfahrten und den freien Eintritt in Theater und Museen gestrichen hatte, übergeht der Kreml ungerührt.
So bleibt Mossalow nur, in Erinnerungen zu schwelgen. Das mag ihn vergessen lassen, längst kein gefeierter Held mehr zu sein. Seine Tochter, die ihn pflegt, ist aus Kummer darüber und aus Langeweile zur Trinkerin geworden. Selbst längst eine alternde Frau, nachlässig gekleidet in einen Rock undefinierbarer Farbe und eine grell-rosa Strickjacke, schlurft sie in ihren ausgetretenen Pantoffeln zum Bett des Vaters, der darauf besteht, dem Gast noch seine von Orden behängte Uniformjacke zu zeigen. Sie hängt wie ein Paradestück über einem offenbar sonst unbenutzten Stuhl in der kleinen, niedrigen Wohnstube.
"Früher waren wir ein Reiseziel für Schüler und Studenten aus der DDR!", meint Valentina Mossalowa. "Mit Briefen wurden wir zugeschüttet. Jeden Tag um die 30 Briefe! Und als der Vater einmal dorthin gefahren ist, haben sie ihm viele Souvenirs geschenkt. Und er hat für mich mehrere Paar guter Schuhe aus der DDR mitgebracht."
Diese Zeiten sind längst vorbei. Nach Mossalows Heldenreden fragt niemand mehr. Und er macht sich auf sein eigenes Schicksal und die jüngere Geschichte Russlands einen Reim, dem sowohl die Enttäuschung eines um sein Leben betrogenen Menschen anzumerken ist als auch die feste Überzeugung, alles müsse auf einem Irrtum beruhen. Früher oder später werde sich die wirkliche Größe Russlands wieder zeigen und damit all das, was er einen Lebtag lang von Tribünen und aus Megaphonen gehört und gern geglaubt hat.
Der Krieg bleibt für Mossalow die Lehre seines Lebens. "Ich spreche oft mit Frontkameraden über Tschetschenien", krächzt er und streicht sich die für sein Alter erstaunlich dunklen Haar zurück, die immer noch wie ein Soldaten-Schnitt frisiert sind. "Tschetschenien ist ja nicht groß, gerade mal eine Region, die man in 24 Stunden überrollen kann. Und zwar so, dass nichts mehr übrig bleibt. Aber um alles wieder aufzubauen - dazu brauchen wir 50 bis 60 Jahre. Wozu bloß heute wieder solch eine Zerstörungswut?"
An diesem milden Frühlingsnachmittag wollen Nikolai Iwanowitsch und seine Tochter Valentina endlich einmal wieder einen Spaziergang wagen: Zur Kopie des Berliner Ehrenmals. Seufzend, gestützt von seiner Tochter, lässt sich der alte Mann in seine Paradejacke mit den Orden helfen. Vielleicht erkennt ihn ja im Ort noch jemand und grüßt freundlich. Denn eines hat Nikolai Iwanowitsch Mossalow bis ins hohen Alter hinein nie anders empfunden: Die Statue mit seinem Gesicht ist nicht zuerst ein Heldendenkmal, sondern ein Mahnmal für die ganz normale Menschlichkeit.
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