Irgendwo dort, wo die bewaldeten Hügel mit dem grauen, traurigen, regenverhangenen Himmel des sibirischen Vorfrühlings zusammentreffen, verliert sich die Trasse. Ein riesiges Armeefahrzeug verschwindet in der Ferne. Maria blickt ihm hinterher: Es fährt davon in die große, weite Welt und überlässt sie ihrer Einsamkeit.
In dieser Jahreszeit passiert nachts manchmal stundenlang kein Auto ihr Refugium, und bei schlechtem Wetter wie heute wartet sie tagsüber oft vergeblich auf Kundschaft. Ringsherum dehnt sich endlose, bewaldete, menschenleere Weite, mitten darin ihr Dienstort: Maria Shukowas Tankstelle, an deren Kassenhäuschen ein großes blaues Schild mit dem Hinweis aufwartet: "Moskau: 4.000 Kilometer", während ein weißer Randstein am Stra
in am Straßengraben verkündet: "Hälfte des Weges zwischen Moskau und Wladiwostok". Seit nunmehr zwei Jahren ist die Tankstelle Marias Arbeitsplatz und einzige Verdienstquelle ihrer Familie. Die lebt in einem Dorf 20 Kilometer von der Station entfernt: Weit und breit der einzige bewohnte Ort hier in der sibirischen Taiga, wo sich der frostkalte Wind auch jetzt nicht legt.Während der vergangenen Monate hat hier allein Väterchen Frost das Zepter geschwungen - allerdings ohne die romantische Behaglichkeit, mit der er durch die russischen Kindermärchen geistert, wenn dort auf warmen Ofenbänken und in gut geheizten Zimmern die Märchenfiguren aufmarschieren, die Säufer und Zotenreißer, die Jäger, Beerensammler und Waldläufer, die ein Leben in der Einöde zu ertragen verstehen.Schwarzer Streifen im LebenWochenlang hatten Marias Kinder schulfrei - nicht wegen irgendwelcher Ferienzeiten, sondern weil die Klassenräume nicht geheizt werden konnten. So wie der ganze russische Osten litt auch das Dorf der Shukows unter der Kälte. Zeitweise minus 40 Grad. Erst seit Anfang März begann es, wieder wärmer zu werden: Bekleidet mit mehreren Wollpullovern, einer Strickjacke, mit einer Mütze auf dem Kopf lässt es sich inzwischen bei zehn Grad Raumtemperatur aushalten. "Ein schwarzer Streifen durchzieht dein Leben", erklärt Maria die Situation und ihr Durchhaltevermögen mit einer alten sibirischen Lebensregel, "irgendwann wird es auch wieder einen weißen Streifen geben - nur fluchen darfst du nicht!"Jegor, Marias Mann, und die drei Kinder sind stolz auf eine Mutter, die allein eine ganze Familie ernährt: In dieser Gegend um Kemerowo, wo der Bergbau langsam ausstirbt, weil die Kohleadern immer schmaler werden und ganz zu verschwinden drohen, gilt Arbeit als Seltenheit und daher als Glücksfall.Maria war froh, als sie Ende 1998 das Angebot mit der Tankstelle bekam, obwohl die Arbeit alles andere als beschaulich ist. "Während meiner ersten Nachtschicht überkam mich eine fürchterliche Angst, weil ringsherum eine Totenstille herrschte, die Trasse war vollkommen ausgestorben. Niemand kam." - Bei dem, was sie darüber erzählt, muss sie trotzdem ständig lachen. Zwei goldene Eckzähne blitzen. Hält wirklich einmal ein Lastkraftwagen, greift sie nach einem kleinen Stofftäschchen mit Reißverschluss, aus dem sie schnell den rosafarbenen Lippenstift angelt, in den Spiegel neben der Kasse sieht, sich noch einmal die Lippen nachzieht - jeder Kunde soll diesen Ort in bester Erinnerung behalten. Wer weiß, vielleicht nimmt sich mancher auch Zeit für ein Schwätzchen.Abgerissene Gestalten aus dem WaldMaria ist 47 und in der Taiga groß geworden, städtisches Leben kennt sie nicht. Sie hofft, dass es ihre Kinder "einmal nach Europa schaffen", das heißt nach Moskau oder St. Petersburg - oder wenigstens bis Kaluga oder Tula. Dann will sie ihnen folgen, aber sie träumt wohl schon zu lange davon, der sibirischen Einsamkeit zu entkommen, als dass es ihr irgendwann wirklich gelingen könnte."Eigentlich mag ich diese Arbeit, wenn nur die Angst und die langen Nächte nicht wären." In den Wäldern gibt es Dutzende von Arbeitslagern. Seit den dreißiger Jahren werden Jahr für Jahr Tausende von Strafgefangenen in die undurchdringliche Taiga deportiert - zumeist Häftlinge, die wegen begangener Kapitelverbrechen wie Raub, Mord oder Totschlag verurteilt wurden. Trotz strenger Bewachung gibt es gelegentlich Ausbruchsversuche. Maria hat an ihrem Kassenhäuschen schon abgerissene Gestalten mit einem vorsichtigen Gespräch und einem Glas Tee hingehalten, bis endlich ein Autofahrer zum Tanken hielt und ihrem Herzflattern ein Ende machte.Manchmal suchen entflohene oder frei gelassene Sträflinge, die nicht wissen, wohin, auch das Dorf der Shukows heim. Marias Mann ist Invalide, er verlor seinen linken Arm durch einen Autounfall. Mit der verbliebenen Kraft und der Hilfe seiner Frau hat er der Familie ein Haus gebaut. Nun verdienen sich beide etwas dazu, indem sie Zimmer an Durchreisende vermieten, von denen sie nicht immer wissen, woher sie kommen. Doch Marias 700 Rubel im Monat sind zum Sterben zuviel und zum Leben zuwenig. Ohne Übernachtungsgäste und den Garten am Haus wäre die fünfköpfige Familie kaum zu ernähren. Maria besitzt viel Geschick und Geduld, alles, was rundherum wächst, zu verarbeiten."Am Haus ernten wir Kartoffeln und Gemüse, im Wald Beeren und Pilze - 50 Eimer Maronen und Steinpilze haben wir im Herbst gesammelt. Einen Teil eingekocht, einen getrocknet", erzählt Maria, als sie nach der Arbeit von ihrem Mann mit einem Lada abgeholt wird.Das Fahrzeug quält sich durch verharschte Schneerinnen, die daran erinnern, dass es in dieser Gegend noch bis Mai dauert, ehe der Frost endgültig aus dem Boden gebrochen sein wird. Im Dorf angekommen, lässt Jegor den Motor laufen, auch nachdem alle ausgestiegen sind."Wie bitte, Umweltschutz?", lacht er und deutet an, die Frage nur als Scherz ernst nehmen zu können."Und wie soll ich die Kiste später wieder zum Laufen bringen. Wir haben noch immer Winter ..."Wallfahrer aus Wladiwostok"Der Keller ist gut verschlossen", zeigt Maria die in den Boden eingelassene Tür mit dem schweren Vorhängeschloss davor. Eine Holztreppe führt in den dunklen, eiskalten Raum, in dem es nach feuchter Erde riecht. Auf Regalen an den Wänden: Einweckgläser über Einweckgläser, deren riesige, fünf Liter fassende Bäuche gefüllt sind mit eingelegten Tomaten, Paprika, Gurken, Kürbis und anderem Gemüse. Auf dem Boden lagern Unmengen von Kartoffeln. Ein wahres Paradies für einen ausgehungerten Einbrecher.Direkt über dem Keller liegt die niedrige Küche mit einem weit ausladenden Ofen, der gleichzeitig als Herd dient und die Luft im Raum zum Flirren bringen kann. Die Temperatur lässt sich nur über das Fenster regulieren. Entweder man öffnet es oder es bleibt geschlossen. Kaum irgendwo existieren in Russland Heizungen mit Ventilen - statt dessen nach wie vor staatlich geplante Heizperioden, ein Überbleibsel aus Sowjetzeiten.Beschließt der Gouverneur, dass ab Mitte Oktober die Heizperiode beginnen soll, werden überall im Gebiet die Zentralheizungen angeworfen - egal, ob irgendwo noch der Altweibersommer mit plus 20 Grad die Häuser wärmt. Wem es zu heiß wird, der muss eben die Fenster öffnen.Ein Zustand, der so absurd ist, dass es niemand wagt, die Milliarden zu zählen, die auf diese Weise seit Jahrzehnten im unmittelbaren Sinne des Wortes "zum Fenster hinausgeworfen werden". Aber eine Umstellung des Heizsystems kann und will sich der Staat nicht leisten - auch nicht im Hinblick auf das Geld, das später damit eingespart werden würde. Maria nimmt den pfeifenden Kessel von der Herdfläche und gießt kochendes Wasser in die Teegläser. "Es gibt auch schon komische Menschen, die an meiner Tankstelle auftauchen", lacht sie."Einmal kam jemand zu Fuß: Weit und breit kein Auto, absolut nichts. Ich wollte gerade Angst bekommen, da betrachtete ich den Mann genauer: Er sah ungewöhnlich, aber freundlich aus, mittleres Alter, langer, staubiger Mantel, drahtige Gestalt mit einem langen Bart - eigentlich kein bedrohlicher Anblick. Er bat um ein Gläschen Tee und reagierte verwundert, als ich ihn fragte, welches Benzin er denn brauche, 92er, 95er oder 98er. ÂAber ich bin doch zu Fuß hier! - und so erfuhr ich, dass ich es mit einem Pilger zu tun hatte!" Maria greift schnell nach dem Teeglas, das auf dem Teller in ihrer Hand bedrohlich schwankt, weil sie so lachen muss. "Der Bursche hatte schon 4.000 Kilometer hinter sich - viertausend! Alles auf Schusters Rappen! Er kam aus Wladiwostok und wollte bis nach Moskau, um dort der Heiligen Jungfrau in der Kirche eine Kerze anzuzünden. Wo er auf gütige Leute traf, bekam er zu essen. Doch oft müsse er sich tagelang hungrig durch die Gegend schleppen, sagte er mir. Jedenfalls habe ich ihn mit nach Hause genommen und mit meinen bescheidenen Vorräten beköstigt", kokettiert Maria.Am Abend erzählt sie von Bären und Wölfen, deren Spuren nach langen einsamen Winternächten oft bis an die transsibirische Trasse heranreichen. "Hier im tiefsten Russland muss man auf alles gefasst sein." - Für die 20 Kilometer bis zur Tankstelle macht sie sich zurecht wie für einen Opernball: Zur Arbeit nur in der besten Garderobe - weiße durchscheinende Rüschenbluse, blauer Faltenrock, schwarze Lackstiefel und eine Spange mit einer künstlichen Rose im Haar. "Ja, die große weite Welt - die kenne ich, aber nur aus dem, was die Autofahrer erzählen. Zum Verreisen habe ich keine Zeit ..."
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