Während in Deutschland immer weniger Kinder geboren werden, trifft dieser Trend zumindest für eine Altersgruppe nicht zu. Immer mehr Teenager im Alter zwischen zwölf und sechzehn Jahren werden schwanger. Das hat nicht zuletzt eine Studie der Universität Leipzig für das Bundesland Sachsen gezeigt. Einerseits bringt es die biologische Entwicklung mit sich, dass junge Leute früher als noch vor hundert Jahren Eltern werden können, doch gibt es für Teenager-Schwangerschaften auch zunehmend persönliche Motive, die auf soziale Ursachen zurück gehen. Besagte Studie aus Mitteldeutschland nennt als einen entscheidenden Grund: Junge Frauen seien durch eine frühe Mutterschaft um mehr soziales Prestige bemüht. Eines aber ist bei alldem zunächst genauso wie immer - erst einmal gibt es ein großes Geschrei.
Von Tom ist außer dem weitaufgerissenen kleinen Mund, aus dem er nach Leibeskräften brüllt, im Augenblick nichts Wesentliches zu sehen. Die Tatsache, dass er ein kleiner Junge ist, zeigt sich nicht sehr augenfällig und kann erst nach geradezu unanständigem Hinstarren entdeckt werden. Der Rest des kleinen Körpers passt in zwei Handflächen und ist durch die Anstrengung des Schreiens nur ein zitterndes Etwas, das rosige Beinchen von seinen Knien hängen lässt. Die Mutter liegt noch wie schlafend in der Narkose und rührt sich nicht.
Mit geübten Griffen nimmt die Hebamme Maß: "50 Zentimeter, Kopfumfang 33", diktiert sie dem Kinderarzt, der parat steht, um das Neugeborene zu untersuchen. Der erste Eindruck: ein kräftiges, gesundes Kerlchen - ganz der Vater. Der kommt gerade, dirigiert von der Stationsschwester, herein, auf Zehenspitzen, aufgeregt und gespannt bis unter den Haaransatz. Patrick Wendl hat ein rundes, von Sommersprossen übersätes Gesicht, einen Stoppelhaarschnitt und wirkt auf den ersten Blick wie der Held eines Jugendromans. 18 Jahre ist der Vater - und jetzt, da er seinen Sohn das erste Mal sieht, mischen sich in seinen Augen Fassungslosigkeit, Staunen und Ehrfurcht.
"Ich bin sprachlos, ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich bin stolz", stottert er und versucht, seiner Gefühle Herr zu werden. Der Boden schwankt unter den Füßen, nur das Drunter und Drüber ist wohl noch gewiss. Ein Moment, in dem man ihn am liebsten in den Arm nehmen und beschützen wollte - Vater geworden, aber selbst fast noch ein Kind.
Das Neugeborene ist keineswegs sprachlos. Es scheint von Anfang dafür sorgen zu wollen, dass seine Eltern begreifen, wie anders von nun an ihr Leben sein wird. Tom stand als Vorname schon seit längerem fest. Nach den beiden Großvätern soll das Kind auch noch Wolfgang und Jonathan heißen, auch das ist so beschlossen. Patrick sieht der Hebamme zu, wie sie das schreiende Bündel in einen Strampelanzug steckt. Ehe er es sich versieht, wird ihm das Baby in den Arm gelegt - gleichsam mit der ganzen Verantwortung, die er ab sofort zu tragen hat. Er ist noch in der Ausbildung als Kfz-Mechaniker - aber er will sich von jetzt an um seine kleine Familie kümmern und möglichst bald auch ihr Ernährer werden.
"Am Anfang habe ich sehr gezweifelt, als Julia sagte, dass sie schwanger ist, und meinte, dass sie das Kind auch bekommen will. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie es weitergehen soll, und dass ich mit 18 schon Vater sein kann. Ich hatte vor allem das Gefühl, mein eigenes Leben noch nicht im Griff zu haben." - Beim Sprechen sieht Patrick auf seinen gebeugten Arm hinunter, behutsam und ängstlich, ob er das Kind auch sicher hält. "Jetzt muss ich es schaffen, meine Ausbildung zu beenden, und dann wollen wir zusammenziehen und als kleine, glückliche Familie irgendwo wohnen - aber wo, wissen wir noch nicht."
Tom scheint diese Worte sehr beruhigend zu finden. Er ist von einer Sekunde auf die andere in den Tiefschlaf eines Säuglings gefallen, der nach der ersten Aufregung und bei all den ungewohnten Lichtern und Geräuschen erst einmal verkraften muss, gerade geboren worden zu sein.
Tom ist für die Magdeburger Universitäts-Frauenklinik kein alltäglicher Fall: der junge Vater, die noch jüngere Mutter, denn Julia Rötters ist noch minderjährig, gerade 16 geworden. Während sie langsam aus der Narkose erwacht, sitzen gleichaltrige Mädchen meist in irgendeiner Schule und lernen fürs Leben. Julia konnte noch im Sommer die zehnte Klasse abschließen, sie hatte sogar einen Ausbildungsplatz. Doch der ist nun verloren. Die junge Mutter hat sicher einen schwierigen Weg vor sich.
Laut einer Studie der Universität Leipzig steigt die Zahl minderjähriger Schwangerer in den ostdeutschen Bundesländern seit Jahren stetig - zwischen 1993 und 2003 wird eine Zunahme um 75 Prozent registriert. Im Institut für Arbeitsmedizin meint Marion Michel, die an einschlägigen Untersuchungen beteiligt war: "Unsere Forschungsresultate spiegeln eine Tendenz, die schon lange absehbar war. In Großbritannien sind wir auf Erhebungen gestoßen, aus denen sich deutlich erkennen lässt, dass dort Jugendarbeitslosigkeit und Teenager-Schwangerschaften zusammen gehören. Als wir Fälle in Sachsen-Anhalt und in Thüringen analysierten, sahen wir uns mit einem ähnlichen Phänomen konfrontiert. Perspektivlosigkeit führt zu mehr minderjährigen Schwangeren. Dabei fällt auf, es gibt signifikante Unterschiede zwischen den Bildungsschichten in Deutschland, aber auch zwischen Ost und West. Im Westen wählen Minderjährige viel häufiger einen Abbruch. In Sachsen hingegen entscheiden sich die Mädchen in der Regel für das Kind."
Mit zunehmender Sorge registriert Marion Michel, dass es stark vom sozialen Milieu abhängt, wie junge Mädchen mit ihrer Verantwortung gegenüber dem eigenen Körper umzugehen lernen. Auch Studien, die das Bundesfamilienministerium und die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung in jüngster Zeit in Auftrag gaben, zeigen, dass im Bundesland Sachen, wo die Zahl der Teenager-Schwangerschaften weit über dem Bundesdurchschnitt liegt, die Mehrheit der betroffenen jungen Mädchen oft nur geringe berufliche Chancen hat. So waren in Chemnitz unter den befragten minderjährigen Müttern nahezu ausschließlich Förder- und Hauptschülerinnen - während die Wissenschaftler für die Stadt Leipzig feststellen mussten, dass unter den Betroffenen nur Absolventinnen von Lernförderschulen zu finden waren. Die frühe Mutterschaft scheint nicht selten ein Weg zur gewünschten sozialen Anerkennung. Gerade Jugendliche aus so genannten Problem-Familien flüchteten sich gern in den Traum von einer idealisierten Beziehung zum eigenen Kind. Sie nehmen dafür auch in Kauf, sich als Alleinerziehende durchzuschlagen. Denn die Väter suchen meist das Weite und geben vor, zunächst einmal sich selbst finden zu müssen, ehe sie an eine Familie denken.
Minderjährige Schwangere landen unter diesen Umständen nicht selten in Heimen für ein betreutes Wohnen, die von verschiedenen Trägern finanziert werden, wie im thüringischen Wernshausen, wo ein solches Refugium unter dem Dach der evangelischen Diakonie entstanden ist. Eine Fachwerk-Villa, deren Bewohnerinnen man auf den ersten Blick um ihr Domizil beneiden möchte. Wolfgang Ader, der Heimleiter, ein Mann in den mittleren Jahren, betrachtet das Haus als sein Lebenswerk. Doch nicht alle kommen freiwillig, einige müssen gezwungenermaßen hier Quartier nehmen.
"Manche mag das nicht unbedingt als das große Glück empfinden, quasi ins Heim eingewiesen zu werden. Aber die Mädchen kommen alle aus einer Lage, die für sie viel schlimmer ist als ein Heim, und die vor allem noch viel schlimmer werden kann. Bei uns sind sie erst einmal raus aus der Krise. Sie lernen, was viele von ihnen sonst kaum lernen würden: den Umgang mit Geld, die Vorbereitung auf die Geburt oder - wenn das Kind schon da ist -, dann helfen wir ihnen, einen regelmäßigen Tagesablauf durchzustehen, was viele nicht kennen. Viele erwerben erst hier all die Fähigkeiten, die eine junge Mutter beherrschen muss."
Oft haben die Mädchen ihre Schwangerschaften auch zu spät wahrgenommen. Bei einer gestörten Beziehung zur Mutter, die das Bild der erwachsenen, überlegenen Frau verkörpert, fehlt zuweilen die Reflexion über die Signale des eigenen Körpers. Zu spät entdeckte Schwangerschaften sind oft das Ergebnis unbewusster kollektiver Verdrängung in einer nicht intakten Familie, sagen diverse Studien.
Finden junge Frauen in einer solchen Situation keine professionelle Hilfe und keinen emotionalen Beistand, ist in Extremfällen nicht auszuschließen, dass eine überforderte junge Frau ihr Kind nach der Geburt tötet oder aussetzt.
Die jüngste Mutter, die Wolfgang Ader je in seinem Heim beherbergt hat, war elf Jahre alt. "Wir mussten, als sie kam, noch dafür sorgen, dass sie überhaupt wieder regelmäßig in die Schule ging und sich später darum kümmerte, einen Schulabschluss zu haben", erzählt der Heimleiter. "Aber viele dieser Fälle lassen sich zum Guten wenden. In eine schwierige Lage geraten wir im Augenblick dadurch, dass unser Haus ständig ausgelastet ist. Fast überlastet. Die Einweisungen durch das Jugendamt haben enorm zugenommen. Das Jugendamt zahlt pro Tag und pro Platz - aber wir müssen die Kosten ständig neu kalkulieren und auch neu verhandeln, denn Strom, Wasser und vieles andere werden schließlich nicht billiger!"
Jeder der 19 Plätze in Wernshausen wird pro Tag mit 63 Euro und 29 Cent vom Landkreis finanziert. Über die Aufenthaltsdauer der jungen Frauen entscheidet das Jugendamt. Die Erzieherinnen haben oft das Gefühl, sie bräuchten noch sehr viel mehr Zeit im geschützten Raum. Aber die Finanznot der öffentlichen Kassen kennt keine Gnade.
So will das Jugendamt den Heim-Platz von Monique nur noch bis zum nächsten Sommer finanzieren. Dann soll sie in eine eigene Wohnung umziehen - mit ihren beiden Kindern. Monique ist ein besonderer Fall. Sie sitzt bequem im Schneidersitz auf dem Sofa ihres Heimzimmers und verbringt die Zeit mit ihrer Lieblingsbeschäftigung: Micky-Mäuse aus Zeitschriften abpausen. Mit Bleistift zieht sie die Konturen der Disneyfiguren nach, die unter ihrem weißen Blatt liegen. Sie widmet sich mit viel Hingabe und Ernst ihrer Zeichnung, einem Hobby für Zehnjährige.
Monique, die zweifache Mutter, ist geistig behindert. Kein Geburtsfehler, eine Fehlentwicklung. Ihr Denk- und Abstraktionsvermögen sei durch mangelnde Zuwendung in der Kindheit stark in Mitleidenschaft gezogen, attestiert der Psychotherapeut. Vor einem halben Jahr hat die 21-Jährige ihre Tochter Svenja zur Welt gebracht. Ihr Sohn Kevin ist schon sieben. Ihr Intelligenzquotient liege bei 74, der ihres Sohnes Kevin bei 75. Denn ebenso wie Moniques Eltern die Tochter emotional und intellektuell vernachlässigt haben, tut Monique es mit ihrem Sohn - ungewollt, einfach, weil es in ihrem Leben nie anders war. Eines aber hatte sie irgendwann verstanden: Dass sie raus musste aus ihrem Elternhaus. "Dass ich schon mit 14 das erste Mal schwanger war, lag daran: Meine Eltern haben mich nie aufgeklärt. Und auch meine jüngere Schwester, die ist jetzt 16, wohnt noch zu Hause und hat einen Freund - die kennt keine Verhütung, absolut gar nichts. Meine Eltern, die trinken beide Alkohol. Nicht nur am Wochenende. Und dann haben sie den Kevin geschlagen. Mich und meine Geschwister auch. Und da habe ich jeden Tag das Jugendamt angerufen."
"Monique, das Bett muss neu bezogen werden!", ruft es aus dem Kinderzimmer. "Svenja hat gebrochen!" Es ist die burschikose Stimme der Betreuerin Claudia Roth, einer sportlichen und lebhaften jungen Frau mit kurzen, rötlich gesträhnten Haaren. Seufzend und schwerfällig erhebt sich Monique vom Sofa, wie ein Kind, das beim Spielen unterbrochen wird und nun eine lästige Pflicht zu erfüllen hat. Claudia hält die Kinderbettdecke bereits in der Hand, weist Monique mit der freien Hand auf das befleckte Spannlaken im Bett ihrer Tochter.
"Oh!", sagt Monique nur, lacht laut und rührt keinen Finger.
"Ja, was - oh! Im Schrank ist Bettwäsche, bring ein frisches Laken her!"
Claudia Roth bezweifelt, dass Monique nach ihrer Entlassung mit der Selbstständigkeit zurecht kommt. Zwar werde sie als Nach-Betreuerin auch dann noch gelegentlich helfen können, wenn Monique ihren eigenen Haushalt hat. Aber nur noch ab und zu, mehr von außen. In der kurzen Zeit, die noch bleibt, bis Monique das Mutter-Kind-Heim räumen muss, wird Roth versuchen, mit der jungen Frau noch einmal alles durchzuspielen, was sie draußen braucht: Umgangsformen, Verhaltensregeln, die Hygiene für die Kinder. Was braucht sie für die eigene Wohnung? Wie viel Geld, welche Möbel? Vor allem soll sie ein Gefühl haben für die Bedürfnisse ihrer Kinder. Beide, Monique und Claudia Roth - sie sind über jeden Tag froh, den die Kinder Svenja und Kevin noch hier verbringen können, sicher und behütet.
Roth muss wie jede ihrer Kolleginnen in der Villa Wernshausen Psychologin, Pädagogin, Buchhalterin und erwachsene Freundin zugleich sein. Eine Schwierigkeit sei es, wenn das ohnehin geringe Selbstwertgefühl der jungen Mütter verletzt werde, wenn sie spüren, "irgendetwas scheine ich schon wieder falsch gemacht zu haben - es wird über mich, aber nicht mit mir gesprochen." Deshalb hat sich Roth angewöhnt, bedingungslos offen mit ihren Zöglingen umzugehen. "Wenn die Mädels stinken, gibt´s einen Spruch von mir. Und schon riecht es abends überall nach Duschbad. Auch wenn es komisch scheint, dass man halb erwachsenen Frauen sagt, sie sollen sich doch mal gründlich waschen."
Gerade hat sie Monique ins Fernsehzimmer geschickt, sie soll nach ihrem Sohn Kevin sehen. Der Siebenjährige sitzt auf dem Ecksofa, das Sandmännchen hat begonnen. Monique setzt sich neben ihn, so ist es ihr gesagt worden. Obwohl sie eigentlich lieber weiter Micky-Mäuse abmalen würde. Der kleine Junge rührt sich nicht, wie gebannt verfolgt er die Gute-Nacht-Geschichte. Roth lehnt im Türrahmen. Es falle ihr ungemein schwer, mit anzusehen, wie wenig Nähe manche der jungen Mütter zu ihren Kindern fänden. Sie habe Monique noch nie richtig mit dem kleinen Kevin kuscheln sehen. Auch jetzt, beim Sandmännchen-Sehen bleibt ein Abstand zwischen Mutter und Sohn. Monique kommt nicht auf die Idee, den Kleinen auf den Schoß zu nehmen, Kevin dreht sich ab und zu nach der Mutter um, aber die rührt sich nicht.
"Die beiden kriegen das vielleicht noch irgendwie hin", hofft die Erzieherin. "Monique und Kevin sind genau genommen wie Schwester und Bruder aufgewachsen. Mit Moniques kleiner Tochter Svenja ist das schon anders. Wichtig ist jetzt aber das Praktische - wir als Heim müssen uns dafür stark machen, dass Monique und ihre Kinder Familienhilfe bekommen. Vor allem muss es jemanden geben, der täglich nach ihnen sieht. Ich glaube, Monique hat riesige Angst auszuziehen. Am liebsten würde sie ihr Leben lang hier bleiben."
Monique hat ihren Sohn Kevin ins Bett gebracht. Sie sitzt in der Küche, mit den anderen jungen Frauen. Sie albern herum, dann ziehen sie sich die Jacken an, um draußen auf der Veranda zu rauchen. Es ist zehn Uhr abends, der Tag geht zu Ende. Monique will nicht daran erinnert werden, dass bald alles ganz anders sein wird.
Die Erzieherinnen kennen jedes Geräusch im Haus, wissen, nach wem sie in ein paar Stunden noch einmal sehen müssen. Claudia Roth sortiert die Tassen in der Spülmaschine - immerhin, die Mädchen haben sie wenigstens hinein gestellt. "Wenn auch alles wie Kraut und Rüben durcheinander ist", schimpft sie, richtet sich auf, atmet tief durch und lässt den Blick über die Küche schweifen - alles in Ordnung. Für sie ist die Arbeitswoche vorbei.
"Manchmal fahre ich schneller nach Hause, und manchmal, da denke ich unterwegs noch viel an den Tag, der vergangen ist. Dann merke ich gar nicht, wo ich bin, und fahre nur noch mechanisch durch die Gegend. Man schüttelt das nicht so einfach ab, was alles passiert ist - und was alles passieren kann." Sie blickt auf ihre Armbanduhr. "Jetzt muss ich los, mein Mann und meine Tochter warten schon!", sie öffnet schwungvoll die Tür ihres kleinen Opel und fährt davon - in drei Tagen hat das Mutter-Kind-Haus sie wieder.
Wieder bei der Familie des kleinen Tom: er ist nun schon vier Monate alt und hat wie selbstverständlich die Regentschaft über die Familie Rötters, über die Großeltern und über seine jungen Eltern übernommen, die in Thale bei Julias Familie leben. Das heißt, sein Vater Patrick wohnt weitgehend bei sich zu Hause.
"Julia schläft, sie hat das bitter nötig", flüstert die junge Großmutter, Vera Rötters, und sie erzählt, wie die Tochter mit ihrer Lage als Mutter zurecht kommt. "Tagsüber kann sie sich wirklich nicht beklagen, wir nehmen ihr viel ab, aber es war schwer für sie, wenn Tom nachts nach dem Stillen nicht schlafen wollte und viel geschrieen hat."
Vera Rötters arbeitet in einem Behindertenheim und verdient nur wenig, auch das Gehalt ihres Mannes erlaubt keine großen Sprünge. Zu fünft, mit Julias jüngerer Schwester, die noch zur Schule geht, leben sie nun in der Drei-Zimmer-Wohnung. Recht zermürbend seien auch die bürokratischen Wege, auf denen Julia versuchen müsse, Unterstützung und Hilfe zu bekommen. Vor allem sei es schwierig, die Zuschüsse zu erhalten, die ihr eigentlich zustehen. Auf einmalige Leistungen wie Kindermöbel zum Beispiel hätte die junge Mutter zwar Anspruch, aber die zuständigen Ämter - sie heißen jetzt umständlich "Arbeitsgemeinschaften Sozialgesetzbuch 2" - beraten im Grunde nur diejenigen ausgiebig, die bereits wissen, auf welche Hilfen sie ein Recht haben.
Matthias Brabant von der ARGE SGB 2 in Quedlinburg, zuständig auch für Julia Rötters, gibt indirekt zu, Sparzwänge seien ein Grund dafür, die Antragstellerinnen nicht mehr umfassend darüber zu informieren, was ihnen dem Gesetz nach eigentlich zusteht. "Wir sind eine Institution, die Steuermittel verwaltet und ausgibt. Und daher ist es unser Auftrag, noch einmal nachzufragen, ob ein Anspruch überhaupt gerechtfertigt ist."
Gern werden Antragstellerinnen auch zu den Wohlfahrtsverbänden abgewimmelt, wie Doris Kister von der Arbeiterwohlfahrt Schmalkalden anmerkt. "Es ist in letzter Zeit immer wieder vorgekommen, dass die ARGE zu uns junge Frauen schickt, die Anspruch auf Hartz IV haben. Ich will nicht behaupten, dass es mit Absicht geschieht, aber die Mitarbeiter der ARGE sagen den Leuten nicht immer, welche Ansprüche sie geltend machen können."
Auch für die Wohlfahrtsverbände und die freien Träger sozialer Einrichtungen sind die Möglichkeiten zu helfen und zu beraten durch die jeweilige Haushaltslage begrenzt. Die evangelische Diakonie in Sachsen-Anhalt beispielsweise kann für 40.000 Einwohner lediglich eine Fachkraft in einer Beratungsstelle bezahlen. Da die Bevölkerungszahl durch Abwanderung gen Westen weiter sinkt, werde es demnächst fünf Betreuer-Stellen weniger in seinem Bundesland geben, erklärt Referentin Birgit Schwab-Nietzsche von der evangelischen Diakonie in Magdeburg. "Es gibt viel mehr Multiproblem-Familien, als man annimmt, so dass der Beratungsbedarf tatsächlich steigt. Und weil gerade junge Leute mit Perspektive aus Sachsen-Anhalt weggehen, während Problem-Familien hier bleiben, wird sich die Situation künftig noch verschärfen. Aber wir müssen uns an den Beratungsschlüssel halten. Und das heißt: Bei weniger Einwohnern - weniger Berater. Sehr bedauerlich."
Verantwortung übernehmen lernen für den eigenen Körper, aber auch für das Leben und die Gesundheit der anderen, nicht der Stimmung des Augenblicks folgen - dafür ist es nie zu früh, wiederholen Pädagogen und Wissenschaftler mit stereotyper Hartnäckigkeit. Aber man schafft natürlich auch mit einer frühen und guten sexuellen Aufklärung nicht die Tatsache aus der Welt, dass viele junge Mädchen in einer Mutterschaft ihre einzige Perspektive sehen. Selbst wenn sie sich darin sehr täuschen und ihre Zufriedenheit nur vorübergehend sein mag.
"Sie brauchen mehr", geht für Marion Michel vom Leipziger Institut für Arbeitsmedizin eindeutig aus ihrer jüngsten Studie über die Entwicklung von Minderjährigen-Schwangerschaften hervor. "Die Jugendlichen müssen die Botschaft erhalten: Auch wenn ihr nicht gleich eine Berufsausbildung bekommt oder keine Arbeit habt, seid ihr uns etwas wert. Das müssen Gesellschaft und Staat vermitteln. Und dann muss es möglichst bald ein vernünftiges Angebote zur beruflichen Bildung geben."
Vor diesem Hintergrund ist die 16-jährige Julia Rötters um so mehr eine Ausnahme. Ihrem Sohn Tom geht es besser als den meisten Kindern in einer vergleichbaren Situation. Die ganze Familie freut sich über ihn. Patrick, der Vater, kommt abends nach der Ausbildung aus Goslar herüber nach Thale. "Patrick kümmert sich die ganze Nacht um den Kleinen, wenn er da ist", erzählt Julia, auf deren Arm das Baby friedlich liegt und mit den winzigen Händen nach dem Haar der Mutter fingert. Die junge Frau hat tiefe Ringe unter den Augen, das ist nicht zu übersehen. So früh Mutter zu werden, das hatte sie nicht gewollt. Sie nahm regelmäßig die Pille. Aber die wirkte nicht, als Julia an einer Magenverstimmung laborierte.
Auch ihre Mutter Vera war keineswegs davon begeistert, mit 39 Jahren Großmutter zu werden. Aber sie hat die Entscheidung, ob das Kind zur Welt gebracht werden sollte oder nicht, ihrer Tochter überlassen. Sich nicht eingemischt, wie sie versichert. Und die Tochter konnte stets sicher sein, sie würde in jedem Fall unterstützt. "Aber dass Julia nur deshalb Mutter sein wollte, weil sie keinen anderen Sinn in ihrem Leben gefunden hätte - nein, das kann nicht sein! Es waren bei ihr andere Gründe. Sie hatte ja ihre Zukunft sicher, sie hatte einen Ausbildungs- und sogar einen Internatsplatz!" Darauf besteht Vera Rötters.
Demnächst soll Tom, wenn er sich weiter gut entwickelt, in die Krippe. Julia will sich um ihre Berufsausbildung kümmern. Sie will mit ihrem Freund Patrick zusammen bleiben und stellt sich vor, dass der kleine Tom später, wenn sie einen Beruf gelernt hat, noch Geschwister bekommt.
Julias Kindheit ist mit 16 Jahren vorbei. Eben hat sie sich in den Sessel fallen lassen, aber schießt erschrocken wieder hoch, weil die warme Milch aus der Tasse geschwappt ist. Warme Milch aus einem riesigen Porzellanpott trinken - das ist eine der wenigen Gewohnheiten, die sie aus früheren, anderen Zeiten hinübergerettet hat.
Schon schreit es aus dem Nachbarzimmer, Julia tauscht einen Blick mit der Mutter, stellt die Tasse ab und eilt zu ihrem Sohn. Wie sie immer wieder beteuert, sieht sie ihre Zukunft nicht verbaut: Vielleicht wird es Tom später einmal zu schätzen wissen, glaubt sie, eine so junge Mutter zu haben.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.