Dies ist kein Text über Musik oder Partys. Es ist auch keine Geschichte über Botox oder Haartransplantationen. Es geht um etwas Heikleres und Abstrakteres: um eine Haltung. Eine Denkschule. Einen Kultur-, Werte- und Handlungskanon, der die Gegenwart prägt wie kaum ein anderer. Es geht, um es mit dem Stanford-Professor Robert Pogue Harrison zu sagen, um die Mentalität der Jetztzeit. Suchte man für diese Mentalität einen griffigen Namen, könnte man sie als das Prinzip Pop bezeichnen.
Viele denken beim Wort Pop zuerst an ein Musikgenre, vielleicht an Filme oder Mode, an beliebte – eben populäre – Produkte der Unterhaltungsindustrie. Doch das Prinzip Pop wirkt schon lange nicht mehr nur in der Kultur. Es hat sich in der Waren- und der Arbeitswelt durchgesetzt, beeinflusst die Politik, prägt Familien und Freundschaften, den Umgang mit Geschlechterrollen, die Art, wie Menschen sich austauschen. Die sozialen Medien sind heute die aktivste Arena des Pop. Bevor man sich etwa bei Facebook mit einem Unbekannten befreundet, kann man dessen Gefällt-mir-Listen studieren wie eine Landkarte des Geschmacks und der möglichen Gemeinsamkeiten. Lieblingsserien und -bücher entscheiden mitunter über Sympathie oder Antipathie, über ein Verwandtschafts- oder Fremdheitsgefühl.
Viele Facebook-User haben die 40 oder 50 überschritten, im Vergleich zu Snapchat oder Whatsapp gilt das Netzwerk als langsames Ding, als etwas, das die Älteren nutzen. Angenommen, es haben dort zwei ambitionierte Mitglieder der Bildungselite zusammengefunden, so führen sie sich vielleicht in aller Ruhe Ausschnitte aus obskuren französischen Filmen vor oder erklären und kommentieren in epischer Breite ihre Musikvorlieben. „Unnützes Wissen“ heißt eine Rubrik im Magazin Neon, das sich, zugegeben, an eine Leserschaft unter 30 richtet. In der Soziologie ist dank der Grundlagenarbeit von Pierre Bourdieu heute oft von „kulturellem Kapital“ die Rede. Ob unnützes Wissen oder brachliegendes Kapital: Wer im Prinzip Pop geistig zu Hause ist, der betrachtet sein über Jahre gesammeltes jugend- oder popkulturelles Spezialwissen jedenfalls als einen Ausweis für Gegenwartsbildung, als einen Schatz.
Viele Erwachsene funktionieren heute nach dieser Matrix, auch wenn man es ihnen nicht unbedingt ansieht. Keinem Zeichenspiel ist ganz zu trauen. Weder weist eine Baseballkappe zwingend auf einen beweglichen Geist hin, noch verhindert ein Anzug intellektuelle oder politische Radikalität. Mit den „heutigen Erwachsenen“ ist ohnehin kein spezifisches Milieu gemeint, sondern schlicht diejenigen, die Verantwortung tragen und Entscheidungen fällen. Menschen, die als Lehrkräfte, Gesetzeshüter, Politikerinnen, Publizisten, Mütter oder Väter aktiv sind. Die Lektionen erteilen, Geld ausgeben, Knöpfe drücken. Pop wird in vielen dieser Bereiche täglich mitgedacht, mal auf elaborierterem, mal auch auf gröberem Niveau.
Campino meets Merkel
Für den Fall, dass Zweifel an dieser Behauptung aufbranden, sei auf einige plakative Fakten verwiesen. Etwa darauf, dass dieses Land aktuell einen Vizekanzler hat, der einst als „Beauftragter für Popkultur und Popdiskurs der SPD“ tätigt war, und dass es von einer Kanzlerin regiert wird, die ihre politische Laufbahn als Bundesjugendministerin begann. Als solche ließ Angela Merkel sich 1994 für ein Spiegel-Spezial-Heft zum Thema Pop & Politik von Campino, dem Sänger der Toten Hosen, befragen. „Auf Feten (war ich) immer das Mädchen, das Erdnüsse isst“, gab sie zu Protokoll und erzählte von Rauscherfahrungen mit „zu viel Kirsch-Whisky“.
Im selben Magazin verfasste Ulf Poschardt, damals 27, heute als Cheffeuilletonist des Axel-Springer-Verlags im Einsatz, einen Aufsatz über „Stil und Subversion“. Vom ebenfalls 27 Jahre alten Schriftsteller Christan Kracht war in dem Heft ein Text „über Tweedjacketts, Ecstasy und das Ende der Rebellion“ zu lesen, ein Vorabauszug aus Krachts Debütroman Faserland, der kurz darauf erschien und als Start einer neuen Popliteratur gefeiert wurde.
All diese beispielhaft herausgegriffenen Menschen jonglierten mit dem Begriff Pop. Sie wollten, so schien es, irgendetwas damit sagen. Über die Welt, wohl auch über sich selbst. Heute, 20 Jahre später, sind sie an der Macht – als alternativlose Regierungschefin, Meinungsbildner oder Beinahe-schon-Jahrhundertschriftsteller.
Inzwischen wetteifern Städte mit Events und Kongressen um einen höchstmöglichen Pop-Faktor, denn der lockt Investoren und Touristen an. Und die haben womöglich – wenn sie sich schon für Musik interessieren – noch ein paar Euro übrig. 57 Prozent aller CDs und 59 Prozent aller Schallplatten in Deutschland werden von Über-40-Jährigen gekauft, bei Musikdownloads machen sie laut Bundesverband der Musikindustrie rund 42 Prozent der Kundschaft aus. Nach den After-Work-Clubs der 90er Jahre bieten manche Gastronomen jetzt „Lunch Beats“ an, Mittagspausenclubs für Angestellte. Derweil hat Berlin einen Exmanager der Musikindustrie, Tim Renner, zum Staatssekretär für Kultur ernannt. Und wenn nächste Woche das Literarische Quartett im ZDF wiederaufgelegt wird, zwei Jahre nach dem Tod von Marcel Reich-Ranicki, sitzt mindestens ein Kritiker in der Runde, der schon selbstgespielte Songs im Internet hochgeladen hat: Die Gitarrenlieder, die Maxim Biller da ab und an von sich hören ließ, klangen gar nicht schlecht.
Die wichtigste Nobilitierung erfährt der Pop mittlerweile aber an den Hochschulen: Seit den Nullerjahren haben Universitäten Lehrstühle und Dozenturen für Pop-Theorie eingerichtet. Ähnlich wie die Gender Studies hat sich die Pop-Wissenschaft den Rang einer seriösen Disziplin erarbeitet.
„Wir erkennen nicht gern an, wie viel Menschen einer Altersgruppe doch gemeinsam haben, und das über Klassen-, Geschlechts- und Nationalitätsgrenzen hinweg“, schreibt Robert Pogue Harrison in seinem Buch Juvenescence (2014). Der Titel ist eine Wortschöpfung des Literaturwissenschaftlers, sie soll das Gegenteil von Adoleszenz ausdrücken: „Jüngerwachsen“ statt Heranwachsen. Das „Jüngerwachsen“ identifiziert Harrison als dominante sozialpsychologische Strömung in der westlichen Welt. Es gebe, auch in der hyperindividualisierten Gegenwart, eine „generationenspezifische Disposition, die Menschen einer Altersgruppe prägt. Ist diese Disposition einmal geformt, wird sie auch spätere Lebensphasen prägen.“ Also auch das Älter- und das Altwerden.
Harrison, Jahrgang 1954, sieht die Juvenescence kritisch. Und er ist damit nicht allein. Die US-amerikanische Philosophin Susan Neimann, Jahrgang 1955, deren Essay Warum erwachsen werden? Anfang des Jahres auf Deutsch erschien, sieht in den Erwachsenen der Gegenwart vor allem zwangsinfantilisierte Konsumenten. Menschen, die sich vom Internet und anderen technischen Spielereien in Unmüdigkeit halten ließen, wie lauter verträumte Peter Pans. Leider legt Niemann nicht überzeugend dar, wie ein korrektes, nichtkindisches Erwachsensein denn wohl aussehen könnte – außer dass das Smartphone öfter mal beiseitegelegt wird.
Die Altersgruppe der 35- bis 50-Jährigen ist solcherlei Skepsis und Rund-um-Angriffe gewohnt. Als „unpolitische Konsumkids“, und „oberflächliche Ego-Taktiker“ wurden sie von den Vorgängern aus der 68er-Generation beschimpft. „Turnschuhminister“ Joschka Fischer verhöhnte die Jüngeren in den 90ern als „Heiapopeia“-Jugend, weil sie weder einen Krieg erlitten, noch einen Straßenkampf ausgefochten hätten. Er höhnte ausgerechnet in dem Moment, als er kurz davor stand, Mitglied einer Regierung zu werden, die schon bald dem Neoliberalismus den Teppich ausrollen würde.
Verfolgt man die Beliebtheits- und Verbreitungskurve des Pop-Begriffs vom Jahr 1994 bis heute, erweist sich: Der Pop ist in der Tat die Begleitmusik, der Rhythmus und der Running Gag des Neoliberalismus. „Der Kapitalismus hatte kein Interesse mehr an Anpassern, Ordnungsfanatikern und Leuten, deren Weltbild spätestens mit 30 schön gerahmt und hinter dickem Glas an der Wand hing und nicht mehr verrückt und verschoben werden durfte“, schrieb Claudius Seidl in den eiskalten Nullerjahren in seinem Buch Schöne junge Welt. Warum wir nicht mehr älter werden.
Erst Avantgarde, dann Alltag
Doch dem Prinzip Pop ist etwas gelungen, von dem andere als Erben profitieren werden: Emanzipations- und Liberalisierungsprozesse, die eine mutige, aber kleine Avantgarde rund um das Jahr 1968 losgetreten hat, wurden erst unter dem Prinzip Pop zur breiten Alltagsrealität. Die strafrechtliche Lockerung beim Cannabiskonsum (1994), das Antidiskriminierungsgesetz (2006), die eingetragenen Lebenspartnerschaften (2008): Das Prinzip Pop hat den Flexibilisierungsdruck sehr geschickt genutzt, neue, andere Lebensformen endlich zu erleichtern und zu ermöglichen – und praktisch anzuwenden, ganz ohne pathetische Manifeste.
Das Zusammenwohnen in WGs, in traditionell aufgestellten oder in Patchworkfamilien, gleich- oder verschieden- oder sonstwie geschlechtlich: Keine andere Erwachsenengeneration des 20. Jahrhunderts hat je so eigenwillig gelebt, wie es jetzt unter dem Prinzip Pop geschieht. Der unbedingte Wille zur Individualität: Er hat nicht zwingend mit Narzissmus oder Egoismus zu tun, sondern vor allem mit einer Idee von Freiheit. Und zwar mit einer Freiheit für alle, wenn es irgendwie möglich ist.
Als der bayrische Innenminister Joachim Herrmann unlängst von Roberto Blanco unter Zuhilfenahme des N-Worts schwärmte und die Menschen sich über den Rassismus aufregten, war das auch der Pop-Linken zu verdanken, dem radikal politisch denkenden Flügel der Pop-Mentalität. „Es war ja nicht so gemeint“, versuchte Herrmann sich zu entschuldigen. Doch das Prinzip Pop lässt das nicht durchgehen. Pop kann nicht nur sehr stil-, sondern auch sehr inhaltsstreng sein. Niemand hat die feinen Bedeutungsnuancen von scheinbar harmlosen Zeichen so intensiv studiert wie diejenigen, die sich in das Pop-Denken eingegraben haben. „Es geht immer um leidenschaftliche Einordnungsversuche: Was verrät dieses oder jenes Zeichen zum Beispiel über Machtverhältnisse“, sagt die Theoretikerin Nadja Geer (siehe Text rechts).
Glücklicherweise sind nun viele Erwachsene da, die diese Analysekompetenz besitzen, die wissen, wie Sprach- und Symbolcodes zu knacken und zu entlarven sind – und wie diese Erkenntnisse effektvoll in die Öffentlichkeit transportiert werden können, gegebenenfalls auch via Satire
„Man wird nicht alt, weil man eine gewisse Anzahl Jahre gelebt hat, man wird alt, wenn man seine Ideale aufgibt“, sagte neulich Nena, die mit 54 noch aussieht wie 31. Hannah Ahrendt wiederum schrieb 1958 in ihrer Werk Vita activa oder Vom tätigen Leben, dass „dem Neuankömmling die Fähigkeit zukommt, selbst einen neuen Anfang zu machen, d. h. zu handeln“. Mit Neuanfängen aller Art sind die Menschen, die unter den Vorzeichen des Pop zu Erwachsenen reiften, sehr gut vertraut. Sie werden die ersten wirklichen neuen Alten sein. Und eine Vita activa daraus machen.
Die Theoretikerin
Nadja Geer, 46, führt Studierende in Seminaren ins Pop-Denken ein
Mit 14 oder 15, als ich anfing, mich für Musik zu interessieren, hätte ich mir nicht vorstellen können, dass Pop einmal zu meinem Beruf wird. Ich komme aus dem Ruhrgebiet, die erste Plattform für Pop war der Schulhof. In den 80ern sprach man ja von Szenen, von Gothics, Punks, Mods, Poppern. Als junges Mädchen habe ich all das als Inszenierungen erkannt. Als Markierungen eines Widerstands gegen das, was man „den Kommerz“ nannte. Ich wollte das auch, ich wollte „Teil einer Jugendbewegung sein“, wie die Band Tocotronic später mal sang. Es gab das Café Klick in Essen, ein New-Wave-Café, in dem Bands wie die Oberen Zehntausend spielten. Das war mein Ding. Ich weiß noch, wie ein Freund mich mal als „Szene-Tussi“ bezeichnete. Da war ich direkt stolz drauf.
Ein Erlebnis aus jener Zeit erscheint mir im Rückblick paradigmatisch für das Pop-Prinzip: Wollte man dazu gehören, trug man Jeans der Marke Levi’s 501. Einmal kam ein Typ mit einer No-Name-Jeans ins Café, und ich hörte jemanden zischeln: „Verräterjeans!“ Da war ich 16 oder 17, und mir ging damit auf, dass hinter der Ästhetik der Oberflächen viel mehr steckt. Auch damals lief das Beobachten und Analysieren schon bei mir mit. Das Zeichensystem des Pop bot mir ein Identifikationsmuster – aber das hatte von Anfang an auch sehr viel mit Vernunft, mit Logos und Ratio zu tun. Auch mit einer kühlen Distanziertheit. Wer in Pop-Kategorien denkt, der klopft alles auf das Verhältnis Subjekt–Welt ab.
Meine pop-intellektuelle Erweckung hatte ich mit Rainald Goetz. 1986 war ich in Bochum bei einer Lesung von seinem Stück Krieg. Der Text war voll mit Referenzen, da wurden lauter Wirklichkeitsschnipsel aneinandermontiert. Ich erinnere mich an die Zeile „Heidegger, Stammheimer, Stockhausen“. Das fand ich aufregend. Von da an trug ich immer ein Goetz-Buch in meiner hinteren Jeanstasche, sodass andere es sehen konnten. Ich las auch das Magazin Spex, klar, da standen Texte, die sich auf eine Art mit politischen Fragen beschäftigten, wie es sonst nirgends geschah. Da fand der Diskurs statt. In den 90ern verschlang ich die Theoriebände des Merve-Verlags.
Mode- und Musikstile oder Sprachcodes auf ihren sozialen oder politischen Gehalt hin zu untersuchen: So würde ich die „Methode Pop“ erklären. Subkulturelle Symbole hatten immer einen emanzipatorischen Kern. Es waren meist Minderheiten, die sich mit den Mitteln von Pop neue Ausdrucksmöglichkeiten schufen.
Heute leite ich als Dozentin Pop-Theorie- Seminare an Unis. Bis in die späten 90er gab es dieses Feld noch gar nicht. Ich studierte damals Germanistik und Amerikanistik. Mein aktuelles Studienprojekt heißt „Selfing versus Posing“: Wie unterscheiden Selfies sich vom Posieren aus früheren Zeiten? Manchmal fragen meine Studierenden: „Wo ist Pop denn authentisch?“ Ich antworte dann: „Falsche Frage. Im Pop geht es immer um durchdachte Künstlichkeit.“ Wir Älteren haben über das Pop-Prinzip gelernt, alles erst mal in Frage zu stellen und notfalls als Scharade zu entlarven. Ein Professor hat uns in den 90ern immer wieder vor der „Plumpifzierung“ der Welt gewarnt: Die Welt ist komplex, sagte er, Eindeutigkeiten gibt es nicht, macht euch nicht dümmer, als ihr seid. Bei den Jüngeren scheint die Sehnsucht nach Eindeutigkeit und sogenannter Echtheit aber groß zu sein, auch nach moralischen Kategorien: Manche wollen wirklich „die Welt retten“, wie es in diesem Hit von Tim Bendzko heißt. Sie glauben, dass das möglich ist, wenn jeder sich moralisch einwandfrei verhält. Eine Pop-Intellektuelle muss da sofort fragen: Was soll das denn sein, „moralisch einwandfrei“, wie sieht das denn aus, was ist das denn wieder für eine Inszenierung?
Zur Person
Nadja Geer ist Mitherausgeberin des Magazins POP. Kultur & Kritik (pop-zeitschrift.de). Ihre Dissertation ist als Buch erschienen: Sophistication. Zwischen Denkstil und Pose (V&R unipress 2012, 267 S., 44,99 €)
Die Mutter
Patricia Parisi, 41, veranstaltet Konzerte für Kinder
Pop ist für mich der Transporteur eines Lebensgefühls. Bei meinem Aufbruch von zu Hause hat er zum ersten Mal eine große Rolle gespielt. Ich wuchs als Halbitalienerin in einer Kleinstadt in Nordrhein-Westfalen auf, mit zwei älteren Brüdern. Ich war das kleine zarte Mädchen, aber ich war rebellisch. Bald wurde es mir zu eng, die Familie, die Provinz. Einer meiner Brüder hörte Hippie-Rock, der andere stand auf Breakdance und Funk. Ich hatte Respekt vor dem Kosmos, den sie sich aufgebaut hatten, ihre eigenen Welten. So wollte ich es auch machen.
Mit elf oder zwölf sah ich zum ersten Mal Psychobillys, die punkige Variante des Rockabilly-Stils. Es war sofort eine Leidenschaft da, so viel wie möglich herauszufinden über die Musik und Looks. Wenn ich meine Kinder mit ihren Smartphones heute sehe, denke ich oft: Wahnsinn, wie ich es damals ohne Internet hinbekam, mir all die Infos zu beschaffen. Es war eine mit Passion betriebene Sucherei. Ich wollte Dinge lernen und sie adaptieren, auf meine Art.
Mit 17 ging ich nach Berlin, machte mein Abitur, studierte Grafik und Kunstgeschichte. Architektur, Design und Mode sind für mich auch Formen von Pop. Etwa die Dada-Kunst der 20er, Künstler wie Hans Arp oder Hannah Höch: Frauen und Männer sprengten alte Rollen und Regeln – und drückten das auch mit ihrer Kleidung und ihrer Art zu sprechen aus. So habe ich das Pop-Prinzip immer verstanden: Man kann mit ihm einen Aufbruch inszenieren, man kann sich befreien und etwas erfinden, das wiederum andere anregt.
Mit 22 bekam ich mein erstes Kind. Als ich meinen heutigen Mann kennenlernte, spielte das Pop-Prinzip wieder eine riesige Rolle. Wir nahmen uns erst Kassetten auf, schickten uns Tapes hin und her. Dieser Austausch, das Sprechen über Musik, Filme und Literatur, hat uns extrem zusammengeschweißt. Mit ihm bekam ich dann auch mein zweites und mein drittes Kind. Gemeinsam führen wir eine Booking-Agentur. Ich mache auch selbst Veranstaltungen. Früher zum Beispiel eine Reihe, die „Rock ’n’ Cry“ hieß, mit Livemusik und Mode, die zu der jeweiligen Ära passte. Es geht mir um ein breites Verständnis verschiedener Epochen. Es gibt ja nicht nur die bürgerliche Kultur. Ich finde, dass auch Bildung in Pop-Fragen wichtig ist. Der Pop hat das gesamte 20. Jahrhundert stark geprägt.
Vor allem deshalb habe ich jetzt auch den Milchsalon entwickelt, eine Musikreihe mit Konzerten für Kinder und Eltern, tagsüber. Es gibt immer andere Stile bei uns zu hören, mal eine Jazz-Combo, mal eine Singer-Songwriterin, mal eine Punkrockband. Es war mir sehr wichtig, dass die Erwachsenen sich nicht langweilen, sondern genauso viel Spaß haben wie ihre Kinder.
Auf die Idee kam ich, weil mir auffiel, dass Kulturveranstaltungen für Kinder oft eine Katastrophe sind. Was Kindern oft für ein alberner Quatsch vorgesetzt wird. Als eines meiner Kinder aus der Kita diesen supertrashigen Song Schni-Schna-Schnappi, das kleine Krokodil mitbrachte, bin ich beinahe ausgerastet. Ich finde: So wie Kinder das Alphabet lernen, so kann man ihnen spielerisch das Einmaleins des Pop beibringen. Und ich weiß: Es gibt viele Eltern in meiner Generation, die ernsthaft etwas von ihre kulturellen Kenntnissen an ihre Kinder weitergeben wollen. Es steckt einfach ein ungeheurer Schatz in der Pop-Kultur. Einer meiner Söhne war sieben, als er einmal, während bei uns zu Hause ein Rockabilly-Song lief, sagte: „Das ist ein Slap-Bass, Mami, stimmt’s?“ Das fanden wir toll, mein Mann und ich.
Info
Der Milchsalon. Gute Kindermusik auch für Erwachsene 8. 11. und 22. 11., jeweils 14 Uhr, im Grünen Salon, Berlin; 6. 12. und 24. 1., jeweils 11 Uhr, im Columbia-Theater, Berlin
Der Fan
Martin Giese, 52, sammelt Vinyl und spielt es im Politradio vor
Ich wuchs in Hamburg auf. Mein Schlüsselerlebnis mit Pop hatte ich Mitte der 70er, als ich mit meiner Mutter in der Küche Radio hörte, die NDR2-Sendung Kurier am Mittag, die heute noch läuft. Meist geht es da um politische Themen. Meine Eltern waren in der DKP und sehr an Politik interessiert, deshalb hörte meine Mutter das regelmäßig. Ich erinnere mich, wie ich aus der Schule kam, und es lief gerade ein Beitrag über „Nazi-Rock aus England“. Der Tenor war etwa so: „Eltern, passt auf eure Kinder auf, in England gibt es jetzt Bands, die treten mit Hakenkreuzen auf!“
Es ging um die Sex Pistols, um Punk! Das war noch ganz frisch damals. Ich war knapp 14 und hörte zum ersten Mal diese neue Musik, ich verstand damals noch gar nicht richtig Englisch. Aber musikalisch war ich schon so belesen, waren meine Instinkte schon so trainiert, dass mir sofort klar war: „Nazi-Rock? Nie im Leben! Das kann nicht sein, so wie das klingt, das muss anders gemeint sein, da gibt es ein riesiges Missverständnis.“ Dieser Moment war für mich im Grunde der Einstieg in das System Pop. Ab da fing ich wirklich mit dem Denken an, also: mit dem Denken in der Pop-Matrix.
Es ist eben ein Grundpfeiler des Pop-Zugangs zur Welt: Symbole gegen den Strich zu bürsten, sie auch mal als Gegenteil dessen zu betrachten, was sie eigentlich bedeuten sollen. Um genau damit dann auf etwas hinzuweisen. Andy Warhol machte Suppendosen zu Kunst, der Punk verwendete das Hakenkreuz, um gegen das Mitläufertum der älteren Generation zu mobilisieren. Es ist eine eigene Sprache, eine Denkweise, mit der meine Generation gut vertraut ist, denke ich.
Irgendwann fing ich an, Platten zu sammeln. Inzwischen müssen es etwas über 20.000 sein. Wie politisch Pop-Musik sein kann, auch wenn sie weich und verspielt rüberkommt, hat sich für mich vor allem in den 80ern gezeigt, als ich so um die 20 war. Bands wie Heaven 17, die aus Sheffield kamen und sich als „Corporation“ bezeichneten, oder Dexy’s Midnight Runners beschäftigten sich in ihren Texten stark mit Working-Class-Themen, letztlich auch mit marxistischen Motiven. Nicht für jeden waren die Botschaften gleich lesbar. Manche fanden einfach, es ist gute Tanzmusik.
Das ist eben der subversive Ansatz des Pop. Es geht darum, dass das, was gestern noch passend war, heute nicht mehr unbedingt sitzt. Zum hundertsten Mal zu singen, Krieg ist Mist, funktioniert nicht. Die Botschaft stimmt zwar immer noch. Aber es geht im Pop darum, stets neue Formen der Vermittlung zu finden, frisch und wach auf die Gegenwart zu reagieren, damit zugehört wird, damit es wirkt. Das Magazin Spex, in dem solche Themen diskutiert wurden, hatte anfangs den Untertitel „Musik zur Zeit“. Genau das ist das Anliegen von Pop im politischen Sinne.
Während des Studiums in Frankfurt gründete ich mit einigen Bekannten das Magazin Heaven Sent. Einer von uns, Jörg Heiser, gibt heute das Kunstmagazin Frieze mit heraus. Heaven Senthatte einen interdisziplinären Ansatz, es ging um Musik, Literatur, Kunst, Politik, Gesellschaft. Wir waren einfach hellhörig, was uns anspricht, was uns neugierig machte oder aufregte. Darüber haben wir berichtet. Wir wollten Anregungen geben, wie man vielleicht den Schlüssel zur Welt finden kann, wie man seine Wahrnehmung verfeinern kann, etwa indem man Dinge mit anderen Dingen auf ungewohnte Art in Bezug setzt.
Heute verfolge ich diesen Ansatz mit meiner Radioshow Soul Stew beim politischen Hamburger Lokalradio FSK weiter, neben meinem Job ehrenamtlich, no budget, einmal im Monat, zwei Stunden.
Was mich neulich begeistert hat: Wie Vivienne Westwood, die große britische Lady des Punk und des New Wave, mit einem Panzer vor David Camerons Wohnhaus vorfuhr, um gegen Fracking zu protestieren. 74 Jahre alt ist diese Frau – und sie fährt da eine Protestaktion, die alle Kriterien des Pop erfüllt. Keine Ahnung, wie es ist, wenn ich mal 74 bin. Aber mit 20 konnte ich mir auch nicht vorstellen, dass ich mit über 50 noch auf Konzerte gehe. Ich bin gespannt. Hauptsache, es bleibt rhythmisch.
Info
Martin Gieses Radiosendung Soul Stew läuft am 16. 10. um 20 Uhr und am 28. 10. um 12 Uhr bei FSK
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