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MEDIENTAGEBUCH Tagebücher im Internet: Innerlichkeitskitsch für die Öffentlichkeit

Muss mal - kurz raus. 17h15". Das enigmatische Kürzel 24/7 steht in der S/M-Szene für das angestrebte Ziel, rund um die Uhr jeden Tag die eigene Leidenschaft zu leben. Im Netztagebuch ist's nahezu erreicht. Die Graphomanie grassiert. Hypothese: Zwei Wege gibt es zum Schreiben. Einer führt von der Sprache über das Instrument Autor zur Sprache zurück und wird (gute oder schlechte) Literatur. Beim anderen stolpern Gefühle über Wörter zum Ausgangspunkt Ich zurück, wo sie kreiseln und liegen bleiben. Der Gewinn sind erleichterte Seufzer und tausend Seiten Tagebuch. Einmal waren Tagebücher das Privateste, was ein Teenager hatte. Jeder ein junger Werther, die Welt dumm und grausam, allein das Selbstgespräch zeigte Verständnis. Jetzt, wo sich die Gesellschaft vorwiegend über Bildschirme begreift, verlagert sich der Schwerpunkt der Innerlichkeit - nach außen.

Öffentlich soll das Tagebuch sein. Kamera in den Kopf gehängt und draufhalten auf den Gedankenfluss. Warum? Ach, das weiß Ilona wirklich nicht. Aber weil "da etwas Menschliches rüberkommt", fühlt man sich "sehr persönlich angesprochen". Es gehört schon dazu zur "Sehnsucht nach dem Hier in seiner Gesamtheit", den "Spaziergang im Park" mit der Community zu teilen. "Hier" hat es "übrigens schon wieder geschneit", dokumentiert per eingescanntem Foto von Teich und Hühnerhäuschen. Wie gesagt, jeder schlechte Literat fängt bei seinen Gefühlen an, also beim Wetter.

Internet-Tagebücher heißen Blogs, Logs oder Diaries. Geschrieben wird per Browser (für Faule), auch ohne eigenen Webspace. Die Angebote sind in der Regel kostenlos, die Bedienung ist simpel. Instant communication - "post your thoughts to the web whenever the urge strikes". Am 23. Februar vermeldet die User-Statistik 13.474 Einträge in 24 Stunden via Blogger, die Woche davor waren es 12.361 am Tag.

Die ungeschriebenen Gesetze lauten: Beichte und sei dir treu. Das Internet als letzter Ruheort persönlicher Integrität. Schon deshalb muss man viel vertextete Wahrhaftigkeit fürchten. Umdichten, abstrahieren liefe dem Selbstfindungs-Projekt zuwider und muss abgelehnt werden. Wer hier von "wiegenden Wiesen im Wind", von "Morgensonne" und "der Freiheit, ganz ich zu sein" schwärmt, begreift sich endlich in seinem Element. Literatur? Nicht doch. "Bauchig sein". Mitten im Ich wird das Ende der Form zelebriert. Gut ist, was von Herzen, sprich: spontan, kommt. Online-Tagebücher leben nämlich von der Nähe- und Interesse-Simulation, die sie aufbauen. Ihr seid mir wichtig, I love you, wie geht's Euch, lasst von Euch hören. Gesteigertes Kommunikationsbedürfnis nach zerfallenem Sozialgefüge? Kaum. Im Vordergrund steht klar das Mitteilungsbedürfnis, also die Einwegkonversation. Geredet wird obsessiv und en détail von sich. Die imaginären Gegenüber werden zwar angesprochen und in die Privatsphäre eingeladen. Dort wartet der monologische Wasserfall. Gnadenlos wie hundert rachsüchtige Hausmeisterinnen, denen vorbeieilende Nachbarn das Wort abschneiden. Liebeskummer. Haarausfall, Hundekuchen und Langeweile. Viel, viel Langeweile. "Heute war wieder so ein Tag. ..." Nichts zu sagen hätten die Online-Schreibenden, mutmaßt der Theoretiker. Das aber im Megabytepaket.

Im Knaurschen Konversationslexikon steht: Kitsch, scheinkünstlerische Gestaltung, ersetzt mangelnde Formkraft durch inhaltliche (erotische, politische, religiöse, sentimentale) Phantasiereize. Nach Giesz, Phänomenologie des Kitsches, wäre das Wort Kitsch gleichbedeutend mit "künstlerischem Abfall". Rainald Goetz, Künstler, nannte sein Internet-Tagebuch (Februar 1998 bis Januar 1999) Abfall für alle. Weise oder kokett, Recht hat er. Legt er doch den Finger in die Wunde. Seine täglich aktualisierten Internet-Kommentare zur Welt im Allgemeinen und Besonderen sind nicht zu vergleichen mit der Masse der persönlichen Wörter, die ins Netz drängen. Weit sind die Online-Tagebücher entfernt von Goetzschen "Reflexions-Baustellen". Die arbeiteten sich an Luhmann und Foucault ab, am Schreibprozess selbst - und inszenierten sich, in ihrer virtuellen Unmittelbarkeit, als Performance. Was wir vom Autor erfahren? Jedenfalls keine Intimitäten. Und wenn er von Gefühlen schreibt, setzt er sich dem Leser nicht gleich auf den Schoß.

Vielleicht hat er ein anderes Ziel. "Alles für den Text", sagt er. Goetz schreibt vielleicht junk talk, aber er betreibt content management. Dazu brütet er über der Form. Hinterher erscheint das Buch, die traditionelle Distanz, zeitlich, räumlich, materiell, ist wieder hergestellt. Das Internet ist für ihn ein Zwischennetz, Station und Prozess, und am Ende liegt es in der Buchhandlung.

Dorthin wollen viele Tagebüchler gar nicht. Um die Herstellung von Identität geht es. Spätestens seit dem 18. Jahrhundert ist das so, das Medium ist eben ein anderes. In Zeiten der Patchwork-Identität, wo schon stabile Eigenschaften höchstens die Halbwertszeit einer sozialen Situation haben, kann man solche Ich-Projekte ja verstehen. Die Welt ist groß, schnell, banal und doch zunehmend unverständlich. Also schreibe ich mir kleine Merkzettel, damit die alltäglichen Kleinigkeiten nicht im Chaos untergehen. Am Ende des solchen, wer weiß, lässt sich dem Tag ein Sinn erretten. Nebenbei verleihen gerade die unsortiertesten Banalitäten nach alter Weisheit Bedeutung. Wenn jeder an sich selber denkt, ist an jeden gedacht. Dem paradoxen Credo der Individualisierung (sei unverwechselbar, mach mit) folgt nun wieder das Pathos der narrativen Selbstversicherung.

"Im Web" darf halt "jede wie sie will!" Cousteau spielen in philosophischen Hirnpfützen und Tränen der Rührung vergießen im Widerschein des verschriftlichten Selbst.

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