VON NATUR WAR NICHT DIE REDE In Luzern trafen Tanzwissenschaftler auf Choreografen und Tänzer und sprachen über "Body as Site", den Körper als Ort und als Anblick
Der Tanz hat die Sprachlosigkeit ohnehin satt. Also folgten die Choreografen der Einladung zum Festival und interdisziplinären Diskurs über Körper-Tanz-Kunst in Luzern recht gern. Body as Site, so der Veranstaltungstitel, ging es um die Möglichkeiten des Körpers. Wo Maschinen uns auf den Leib gerückt sind, Natur und Artefakt sich im Cyborg vereint haben, muss über das Selbstverständnis der Humanoiden neu nachgedacht werden.
Der Körper war uns nie genug und hat uns immer überfordert. Sogar im Tanz, der ursprünglichen Körperkunst, ist er suspekt geworden. Die zeitgenössische Choreografie verzichtet manchmal schon auf ihn. Der Körper, ein diskursives Gespenst? Das choreografische Zentrum luzerntanz am Luzerner Theater rief
m Luzerner Theater rief gemeinsam mit dem Neuen Kunstmuseum, der Universität, der Hochschule für Gestaltung und Kunst und der Neuen Galerie in Luzern Theorie und Praxis zur Pirsch auf. Getagt wurde in den Räumen des Neuen Kunstmuseums, wo parallel die Ausstellung Body as Byte mit Werken von Basicray, Eva Wohlgemuth und anderen den Körper als Informationsstrom imaginierte. Anschließend gab es Tanzperformances dortselbst und im Theater.Zunächst referierte die Wissenschaft viel Verunsicherung. Unser Verhältnis zum Körper spannt sich zwischen Identifikation und Verlust. Je stärker er zum Hort von Identität geworden ist, desto dringlicher scheint es, ihn nicht sich selbst zu überlassen. Als Ausstellungsfläche muss er bearbeitet werden. Fit- und Wellness-Wellen signalisieren sinnliche Hinwendung und krampfhafte Domestizierung zugleich. "Ich will so bleiben, wie ich bin," setzt beständiges Training und intensive Pflege voraus, weil dieses selbstbewusste Motto die Prozesshaftigkeit des Lebens leugnet. Körper ist Zerfall. Wir sind nicht identisch, sondern sterblich. Die Wiedergutmachung dieser Kränkung der Natur verspricht die Naturwissenschaft. Die Erlösungsfantasien sind klassisch, haben aber einen entscheidenden Nachteil: Die Maschine, die uns ersetzt, lässt uns an ihrem Glück nicht partizipieren.Der Körper ist kartografiert und fragmentiert. "Ein Bein", sagt Jürg von Ins, Ethnologe und Religionswissenschaftler, "hat mehr mit jedem anderen Bein zu tun, als mit dem Körper, an dem es hängt." So splittert die Wahrnehmung. Rhetorisch überzeugend wird nachgewiesen, dass wir Ganzheit suchen, weil wir das Gefühl dafür verloren haben. Dass wir Angst vor der Bewegung haben, weil sie die Gefahr des Kontrollverlustes birgt. Bindende Rituale gibt es ja nicht mehr. Da richten sich die Hoffnungen auf die Kunst. Sie ist Suchmedium und spielerisches Experimentierfeld. Den Wunsch nach Fest-Stellung kann die bildende Kunst in reglosen Bildern bedienen. Die Rolle des Tanzes ist zwiespältig. Selbst im Ballett ist die Zeit ästhetisierter Überkörper weitgehend vorbei. Tanz will nicht mehr lautlos, schwerelos und ätherisch sein. An den Platz des allgemeinen Ideals sind einzelne tanzende Personen getreten, die für sich beanspruchen, mehr als Oberfläche zu sein.Weibliche Oberfläche zum Beispiel. Von den Körpervexierbildern der amerikanischen Choreografin und Tänzerin Meg Stuart kann einem schwindelig werden. In Soft Wear scheint ihr Bewegungsprogramm durcheinander geraten. Ihre irre Beweglichkeit nimmt es mit einem Computerpüppchen auf - in deren Schönheitsmaße passt sie nicht. In der Choreografie können Fragmentierungen eben noch ein Freiheitsgewinn sein gegenüber den Zwangsprojektionen von Perfektion.Viele Choreografen setzen sich mit der Gebrechlichkeit ihres "Instruments" auseinander. Dadurch weisen sie auf den unversöhnlichen Unterschied zwischen Tanz und tanzenden Körpern hin: Tanz ver-körpert eine abstrakte Idee, die an der Unvollkommenheit der einzelnen Körper scheitern muss. Beispiel: Boris Charmatz musste seine Hochgeschwindigkeits-Körperprobe aus Verletzungsgründen absagen.Für die Performance und den Bühnentanz ist der Körper unvermeidlich - sei es ex negativo. Er bleibt erzählendes Medium oder Kristallisationspunkt formaler Reflexion. Aber er ist kein eindeutiges Zeichen. Die deutliche Trennung von Körper und Bedeutung, die nachdrückliche Beweisführung, dass leibhaftige Tänzerkörper ebenso wenig authentisch sind, wie selbstverständlich sinnhaft, ist Bewegungsforschern wie der kanadischen Choreografin Lynda Gaudreau zu danken, deren enzyklopädische Recherchen einmalige Beiträge zur Ordnung von Wissensbeständen über das Bewegungs-Repertoire sind. Oder Tanz-Semantikern wie Jérôme Bel.Jérôme Bel mag keine perfekten Illusionen zaubern. Er will über die Bedingungen von Theater nachdenken. Seine Stücke sezieren den Verführungsprozess. Man braucht einen Raum, Darsteller, Licht, Musik. Auf diesen ungeschriebenen Vertrag zwischen Publikum und Künstler pocht der Franzose und nimmt sich heraus, anstelle der ganzen überwältigenden Bühnenmagie nur deren Skelett aufzuführen. Wer sind "seine" Körper? In Jérôme Bel prüfen zwei Tänzer Zentimeter für Zentimeter ihres Fleisches nach distinktiven Merkmalen. Auf eine Schiefertafel haben sie sich mit Name, Alter, Gewicht, Telefonnummer, Kontostand de-chiffriert. Unter der Kreideschrift "Thomas Edison" hält eine Frau eine Glühbirne, daneben singt eine andere die Partitur des Sacre, nachdem sie sich "Strawinsky, Igor" überschrieben hat. Alles da: Licht, Musik, ein Raum und Darsteller. Die beschriften ihre Haut und verwandeln ihre Körper in Geschichten. In einer Szene malt sich ein Tänzer neun Kreuze auf die Haut. Jeweils eines auf die Fußsohlen, die Unterseite seines Penis, die Handflächen, Achselhöhlen und Augenlider. Dann stellt er sich aufrecht vor uns und die Zeichen "verschwinden". Vom Körper versteckte Erinnerungen an vergangenes Erleben. Vieles, was den Körper prägt, bleibt unsichtbar.Die Engländerin Rosemary Butcher sorgt für Transparenz, indem sie die Anatomie ihrer Arbeit mitliefert. Scan ist komplex und geometrisch. Keine Andeutung von Gefühlen oder anderen Deutungszusammenhängen. Fallen, Auffangen, Heben, Bremsen, Balancieren zeigen nur auf physikalische Gesetze und vier Körper, die blitzschnell isolierte Bewegungsphrasen ausführen. Im Video danach durchläuft die Choreografie ihren Entstehungsprozess rückwärts, mit Kamerafokus auf einzelnen Körperpartien. So analysiert und demystifiziert teilt sich die schwierige Bewegung als Bewegungsmöglichkeit mit.Und Möglichkeiten fürs Publikum: Der Berliner Felix Ruckert macht körperliche Annäherung zum Prinzip. Seine Stücke "nötigen" die Besucher zu gegenseitigen Körperrecherchen: Sie sind das Kunstwerk. Verhalten Sie sich entsprechend. Von dem Münchner Choreografen Micha Purucker ließ man sich die Augen verbinden, um sich räumlich zu desorientieren und dabei der Selbstentfremdung eines Bodybuilders und einer Abhandlung über den Hirntod zu lauschen. Puruckers Stück ist eine Stimm-Installation, der Körper der Zukunft hier eine Chimäre. Während technologische Fortschritte suggerieren, er würde zunehmend beherrschbarer, entgleitet er dem Individuum. Nicht nur die Form der Darbietung machte diese Vorstellung ungemütlich.Viel Disparates, das nicht ineinander fließt. Die Choreografen sehen Körper als vom Leben beschriebenes, markiertes Fleisch. Als Bewegung. Als Material. Körper als Sprache, Ausstellungsfläche, Entfaltungsraum. Verhandelbar und flüchtig. Metapher und Spiegelbild. Für reine Ästhetik interessieren sie sich nicht mehr. Aber ein Wesen des Körpers suchen sie auch nicht. Das Wort Natur ist nicht mehr aufgetaucht. In virtualisierten Zeiten hat der Körper seine unschuldige Natürlichkeit verloren. Die einen konstatieren es an ihren Pulten und Bildschirmen. Ihre Zeugen heißen Lacan, Derrida, Deleuze, Foucault, Butler, Haraway. Die anderen reklamieren es für sich auf der Bühne. Natur ist im Kontext von Inszenierungen so verdächtig wie ihre naive Gefährtin die Authentizität.
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken.
Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos.
Mehr Infos erhalten Sie
hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt.
Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.