"There is no dancing in this place!", kommandiert der Tänzer Benoît Lachambre im Laborkittel. Er fängt sich einen ungläubigen Seitenblick seiner Partnerin Meg Stuart ein. Ihr Endzeitduett Forgeries, Love and Other Matters in der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz ist schließlich eines der Highlights beim diesjährigen Internationalen Tanzfest Berlin. Gut, wenn man sich in ihrer Umgebung umschaut, versteht man, dass es Dringenderes gibt als Choreografie. Sie sitzen im Bunker unter desolatem Brachland. Die räudigen braunen Plüschhügel rings umher künden von Öko-Apokalypse. Geschieht uns recht, sagt die Vision, wenn wir mit unseren Umweltsünden freudlos weiter leben müssen, statt friedlich mit Mutter Erde unterzugehen.
Wir müssen besser haushalten. Auch der zeitgenössische Tanz hat nur begrenzte Energievorräte und sollte seine Neuigkeiten nach dem Prinzip der Nachhaltigkeit produzieren. Abgefischte Gründe wie (Wahrnehmungs-) Realität versus Fiktion, Gender, Identitätskonstruktion und Tanzgeschichte ruhen lassen, bis sich die Bestände erholt haben - oder zufüttern. Am überzeugendsten tat das die Berlinerin Eszter Salamon, indem sie die Kategorien zu Reproduction zusammenfasste und vor unseren Augen acht Hermaphroditen entstehen und zerfallen ließ, ohne das Rätsel ihrer wahren Gender-Identitäten zu lüften. Recycling, das zeigten die zweieinhalb Festivalwochen, kann sich lohnen. Voraussetzung ist allerdings, dass aus den alten Wertstoffen wirklich neues Material geschmolzen wird.
Michael Clark zum Gegenbeispiel war vor 25 Jahren in London Punk und Ballerino, und das war ein Skandal. Heute kommt er wieder, als Punk und Ballerino mit Company, und es sieht aus wie vor 25 Jahren, nur müder. Hätte er Oh My Goddess nicht als Rückkehr zur Radikalität annonciert, könnte man ihn mild gestimmt in die Klassiker-Ecke durchwinken. Dort stampft sich die kafkaeske kanadische Gesellschaftsparabel JOE den Orwell - in allen Ehren, denn mehr als ein Klassiker will die Wiederaufnahme von 1984 gar nicht sein. Womit nicht gesagt ist, dass Geschichte und Verehrung simultan gedacht werden müssen. Régine Chopinot, 52-jährige Edel-Veteranin des französischen Choreografie-Aufbruchs der Achtziger, hat ihr Hühnchen mit der alt gewordenen Revolution zu rupfen. In den Müll damit. Die Gaultier-Fetzen gleich hinterher. Ihr Punk geht ab wie ein Himmelfahrtskommando auf Speed. Das Licht blendet, die Lautsprecher kreischen, Stühle fliegen. Und die verfestigten Strukturen - ein Turm aus Bürotischen - geraten immerhin ins Wanken. Während einer rasant verzappelten Impro-Stunde schlittern drei wahnsinnige Sex-Pistolenkugeln in haarsträubender Ver- und Entkleidung von Symbolen von gestern zu deren Zerstörung. Dabei wird bekanntlich neue Energie freigesetzt. Quod erad demonstrandum.
Sasha Waltz´ Dialog-Reihe fällt in die Abteilung fossile Brennstoffe, die nicht zünden. Der jüngste Versuch der Schaubühnen-Co- Chefin, mit heiligem Ernst und einer Handvoll namhafter Kollegen den Geist der amerikanischen Postmoderne anzurufen (sinnigerweise in einer entkernten Kirche, wie die legendären Vorbilder in den Sechzigern) verläuft erst mal im Sand. Buchstäblich. Das Ideen-Spektrum der Crew reicht über buddeln, baggern, Sand essen oder werfen kaum hinaus. Gerade bei allem Respekt für die historische Vorreiterrolle der New Yorker Judson Church Tänzer: Innovation lässt sich nicht nachmachen und Improvisation kommt um frische Einfälle nicht herum. Am falschen Ende gespart.
Die New Yorkerin Sarah Michelson, um den Geschichtsexkurs abzuschließen, persifliert Gruppenekstasen aus dem Siebziger-Tanzschulfilm Fame, ohne auf Nachruhm zu spekulieren. Vier Kinder im toten Winkel und fünf Witzfiguren mit Duracell-Antrieb stolpern solange über ihre drei Schritte, bis definitiv allen die Puste ausgeht. So gesehen ist Michelson eine Meisterin der Ökonomie der Mittel. Lediglich mit leerem Raum und (unserer) Zeit geht sie verschwenderisch um.
Auftanken bitte im ehemaligen Hebbel Theater, seit je Stammsitz des Tanzfestes und inzwischen erfolgreich wieder aufbereitet zum Haupthaus des HAU-Theaterkombinats. Hier hängt, von falschen Farnen umrankt, ein Videofilm unserer zivilisatorischen Widersprüche auf der dunklen Bühne. Weite Himmel, sattes Grün, Häschen auf der Heide. "All this can be yours", grüßt der Immobiliengroßhandel. Schnitt. Bauschutt. Kein Entkommen.
Wir wollen es nicht wahrhaben, aber natürlich ist die Welt unsretwegen ein giftigerer, öderer Ort. Details in der Totale: Wir entwickeln karzinogene Pestizide für den perfekten englischen Rasen. Unsere Sehnsucht nach idyllischer Natur hinterlässt Spuren der Verwüstung ebendort. Plastiktüten, Fertighäuser, Autobahnen. Von Lärm und Gestank gar nicht zu sprechen. Was ist los mit uns (fragt die satirische Collage des Filmers Ben Speth)? Schnippeln Bio-Gemüse, starren aber den ganzen Tag auf Bildschirme. Und rund um die Uhr verbrennen wir die Ressourcen unseres Planeten. Da muss noch ein Choreograf aus New York kommen, um dem Tanzpublikum im Land des Grünen Punkts Bild für Bild zu zeigen, dass unser Leben absurd ist, kurzsichtig und lebensgefährlich. Wie unangenehm.
Tere O´Connors Lawn hat bei den professionellen Mülltrennern von der Tagespresse dementsprechend verhaltene Reaktionen ausgelöst. Begeistert hatten sie den britischen Bangladeshi und Baumfreund Akram Khan ob seiner pfeilschnellen, poetischen Vermählung von Himmel und Erde, Demut vor der Schöpfung und Anmut in der Kreation - "Ma" - erneut zum Wegweiser ausgerufen. Mit vollem Recht. O´Connors Choreografie dagegen sei rührend, aber simpel und einfallslos. Was nicht stimmt, im Effekt aber durchaus beabsichtigt ist. Rührung berührt mehr als Sarkasmus. Da sind Khan und O´Connor sich einig. Die naiv anmutenden Trippeltänze und beschwörenden Menuett-Kreisel zu lullendem Harfenzirpen in Lawn - das ist unsere inkonsequente Ökoromantik. Vom Waldrand im Video grinst eine hässliche Hex. Mutter Natur, geschändet, aber sie ergibt sich nicht. Durchs Unterholz flitzt sie, sammelt Tüten und scheucht die Picknicker samt Papierservietten zurück auf den Asphalt, über den sie gekommen sind. Ist die Beobachtung zu "grob gestrickt"? Oder macht schlechtes Gewissen humorlos? O´Connor verflicht ironisches Filmmärchen und erschreckende Stilleben urbaner Wucherungen, zuckersüße Wohlfühl-Klänge, schiefen Gesang und hingebungsvoll amateurhafte Bewegung so gekonnt, dass von der präzisen Arbeit nur die Metapher sichtbar bleibt und nicht die Anstrengung. Noble Intentionen unterstellt man wohl allen Künstlern des Festivals. Ach, wenn sie immer so fruchteten!
Zurück im emotionalen Endlager von Trash-Girlie Meg mit Blondperücke und Benoît, dem aufrechten Neandertaler, bricht derweil doch Hoffnung sich Bahn. Zwar ist ihr verheißungsvoller Sonnenuntergang nur aufs Zelt gemalt. Aber wie sie sich so in Bärenpelze gehüllt bekuscheln, scheint the day after wieder lebenswert. "I could stay here forever!", seufzt Benoît Lachambre aus dem Schlafsack. Dabei ist es Leuten wie ihm, Stuart, O´Connor, Khan, Chopinot und Salamon zu verdanken, dass der Tanz sich weiter bewegt. Und uns.
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