Abschied und Aufbruch« lautete das Jahresmotto - Zeit für eine Standortbestimmung. Frage an die Kritikerarena: Was gibt es zu sagen über die euro-scene Leipzig, Festival zeitgenössischen europäischen Theaters, anläßlich ihres Zehnjährigen? Vielfältig ist sie, nach Osten offen, ein ambitionierter Kulturvermittler, neugierig. Intimer als andere Festivals. Eines der wenigen im Herbst, das einzige in Ostdeutschland.
Doch, doch, Leipzig kommt, ist längst aufs internationale Karussel aufgesprungen und kann, nach Durchsicht eines europäischen Querschnitts, locker den Standard vergleichbarer Veranstaltungen halten. Bei deutlich bescheidenerem Budget. 122 Gastspiele und 225 Vorstellungen fanden in den zehn Jahren statt. Einmal ist die Ostlage Standortvorteil. Aber mit einer Manövriermasse von 850.000 DM ist klar, dass man große Brücken nur mit Verbündeten bauen kann.
Aber: Leipzig sorgt für die eigene Identität. Mit der ersten Eigenproduktion wurde die freie Szene an Bord gehievt, was eine so enthusiastisch angekündigte Richtungsentscheidung war, dass die Lokalpresse empfindlich reagierte. Seit Jahren zärtlich umhegter Bestandteil ist der Wettbewerb Das beste Tanzsolo. Zwar wird noch am Selbstverständnis rumgedoktert, doch der Stolz der Leipziger kennt keine Hemmschwelle. Immerhin hat das Event auf dem runden Tisch aus Kirsche berühmte Paten, die überregionale Strahlkraft erzeugen. Als geistiger Vater zeichnet der Choreograf Alain Platel, der einst in Gent einen legendären Tanztisch aufstellte. Die euro-scene begleitet er seit Jahren mit außergewöhnlichen Abendfüllern. Leider kam er jetzt zum letzten Mal, bevor er dem Nachwuchs das Feld räumt. Abschied und Aufbruch.
»Allemaal Indiaan« macht das nicht leicht. Platel führt vor, dass wir alle arme Schweine sind. Exemplarisch zwei kinderreiche Rumpffamilien im nachbarschaftlichen Chaos ihrer bunten Randexistenz. Mutter im Irrenhaus, Halbstarke mit mehr Tagesfreizeit als gesund ist, Arno liebt Federschmuck, Steve kriegt Zellenkoller, Mireille hat Liebeskummer, und Elleke räkelt sich im Pheromonrausch. Erst ein Selbstmordversuch und dann Karaoke. Perspektivlosigkeit ist jedenfalls kein Grund, nach dem Strick zu greifen. Die zwei Hütten auf der Bühne sind pastellfarben, und solange man sich entscheiden kann, ob man sich küsst, prügelt oder lieber schwimmen geht, ist das Ghetto Herkunft - vielleicht - zu ertragen. Aufbrechen? Wohin?
Unerträglich und düster stellt sich das Leben im Theater der Socìetas Raffaello Sanzio dar. Die Bühne beherrschen eine aufgequollene Pferdeleiche und eine Maschine. Auf kreisrunden Leinwänden laufen assoziative Bildketten: Kriegshorror, obszönes Fleisch, hilflose, stinkende Kreatürlichkeit, unentrinnbar, brutal, allgegenwärtig. Die Akteure bleiben Klanginstrumente. Mit kaum zu überbietender Nachdrücklichkeit pressen gequälte Stimmen ihre Anklagen gegen die Menschheit hervor. Prophetisch hauchen sie, bösartig wispern, quietschen, kreischen und stöhnen sie alle Niedrigkeit und Verzweiflung heraus, zu der das letzte Jahrhundert fähig war. Dass sich die Italiener entschlossen, Célines Roman Voyage au bout de la nuit als theatrales Konzert zu inszenieren, ist ein genialer Coup. Sie unterlaufen die Sinnesabstumpfungen unserer visuellen Kultur und legen auf akustischem Umweg neue Zugänge für die Filmprojektionen.
Experimentiertheater aus Osteuropa lud die künstlerische Leiterin Ann-Elisabeth Wolff nach Leipzig, bevor sich weiter westlich die Veranstalter anstellten. Damit beweist das Festival Mut zum Risiko. Ausgerechnet zum Jubiläum hat der Osten Leipzig jedoch heftig im Stich gelassen.
Mag sein, die Komuna Otwock löst zwischen Warschau und Krakau Begeisterungsstürme aus. In der Schaubühne im Lindenfels verbreitete sie dröhnende Langeweile. Prinzipiell muss sich Theater nicht transportieren lassen. Manches hat seinen Platz eben, wo es entsteht. Im katholischen Polen brüllen und trommeln die sympathischen jungen Leute offenbar noch Mauern nieder. Wahrscheinlich macht das Publikum die halbe Wirkung aus. Hat jemand die an die Wand gewaberten Parolen vom Schlafen, Säen, Töten verstanden? Was wirklich fehlte, war die Körperspannung. Wer Götter herausfordern will, darf nicht dastehen wie durch Zufall.
Wenn der Mensch im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit in Plastikfolie daherkommt, glättet das bei Männlein und Weiblein die Oberfläche. Zur Überwindung der Zweiteilung trägt es im Gegenteil gar nichts bei. Das Teatr Sytuacji, Krakau, übertreibt mit sterilen Paarungsritualen vor Videoflackern, ihr safer sex Dichotomos ist schlicht zum Gähnen. Aber es gibt ja Prag und zwei Tanzstücke, die wenigstens herzerfrischend und hübsch sind.
Der Vergleich mit den beiden Beiträgen aus Bergen und Helsinki verbietet sich dennoch. Die norwegische Choreografin Ina Christel Johannessen gehört zu den profiliertesten in ihrem Land. Weil sie, wie sich überprüfen ließ, eigenwillige Bewegungen zwischen verschiedenen Medien mit einem dramaturgischen Bogen zu verbinden in der Lage ist. Nach Leipzig brachte sie ein Kreuzverhör: hunt out (reprise). Die Nachforschungen beziehen sich auf eine schlammige Mädchenleiche, die im Wald(-film) herumliegt und später auf der Bühne in 3D die Kooperation verweigert.
Kenneth Kvarnströms Choreografie heißt zwar Splitvision - im Programm übersetzt mit »gespaltener Eindruck« -, über das ungeteilte Entzücken des Publikums bestehen jedoch keine Zweifel. Die Schwerkraft ist überwunden, vier Tänzerkörper fließen weich wie Wasser. Wären nicht Bühne und Sound so nüchtern und technisch, man müsste sich auf Knien nähern. Elegische Momente zweisamer Zärtlichkeit weichen offener Herausforderung, konzentrierte Soli folgen einer jagenden Gruppensequenz. Emotion und Abstraktion sind ideal ausbalanciert. Die Frau und die drei Männer sind so ebenbürtig wie unterschiedlich, gängige Beziehungsroutinen werden nicht abgebildet. Kraft und Leichtigkeit verschmelzen. Jede der gleitenden Bewegungen erfordert perfekte Körperbeherrschung, die Anstrengung bleibt unsichtbar.
Das Festivalmotto soll Gegenwartsfähigkeit ohne Kaltschnäuzigkeit signalisieren, ein beherztes Vorwärts im Namen der Bühnenfantasie. Lunchtime-theatre aus Reykjavik beispielsweise, wo als charmante Zwischenmahlzeit 1000 isländische Suppen an Wortsalat in Originalsprache serviert wurden. Oder die Compagnie In Extremis aus Avignon, die wortlos tanzend mit Beckett über Godot kommuniziert und das Jammertal in einen Märchenwald verwandelt. Auch da ist das Programm siegreich auf dem Kriegspfad gegen die kreative Oberhoheit von McTheater.
Dass die Festivalleitung sich zum Abschluss von der Hoffnung verabschieden musste, von Stadtseite zumindest mit gleichbleibender Unterstützung rechnen zu können, ist allerdings kein nettes Geburtstagsgeschenk. Budgetkürzung ist ein schlechtes Vorzeichen für den Aufbruch.
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