Mit mir nicht

Kehrseite Ich fand einen Sitzplatz im hinteren Teil des Busses. Zum Gang. Meine Sitznachbarin war freundlicherweise zum Fenster hin durchgerutscht. Die meisten ...

Ich fand einen Sitzplatz im hinteren Teil des Busses. Zum Gang. Meine Sitznachbarin war freundlicherweise zum Fenster hin durchgerutscht. Die meisten Fahrgäste bleiben gern am Gang neben einem leeren Fensterplatz sitzen. Vielleicht weil sie verhindern wollen, dass sich jemand neben sie setzt, oder weil sie dafür sorgen wollen, dass sie nicht eingezwängt werden, damit sie, wenn sie aussteigen möchten, aufstehen können, ohne ihren Sitznachbarn bitten zu müssen. Meine Nachbarin las eine Frauenzeitschrift, die aussah wie eine Für Sie. Mein Blick ging über die Zeitschrift hinweg zur Fensterscheibe, die so zerkratzt war, dass ich die Welt, die draußen an uns vorbeiglitt, nur schemenhaft erkennen konnte.

Als wir zur nächsten Haltestelle kamen, wurde ich von einem Mann in grünem Lodenmantel angerempelt. Das ist der Nachteil an den Gangplätzen. Will man so viel Platz zwischen sich und seinem Sitznachbarn gewinnen, dass man sich nicht berührt, ragt man mit einem Teil seines Oberkörpers in den Gang hinein und wird so Rempelopfer der durch den Gang Wankenden. Das Wanken entsteht, indem die Menschen versuchen, sich in einem sich fortbewegenden Gefährt fortzubewegen. Da dies alltäglich geschieht, halten viele Fahrgäste das Wanken und vor allem das Rempeln für selbstverständlich, so dass sie es nicht mehr für nötig halten, sich zu entschuldigen. Der Mann im grünen Lodenmantel war wohl der gleichen Ansicht. Jedenfalls entschuldigte er sich nicht bei mir. Ich grollte ein wenig darüber, wurde aber von einem interessanten Geräusch abgelenkt. Es war etwas Kehliges, gleichzeitig Quietschendes, immer Wiederkehrendes, das ich schon bald einem älteren Herrn, der neben dem Behindertenplatz nahe dem hinteren Ausstieg saß, zuordnen konnte. Denn immer wenn dieses Geräusch erklang, durchfuhr seinen Körper eine kleine Erschütterung. Er hatte Schluckauf. Wir begegnen dem Schluckauf anderer Menschen in der Öffentlichkeit mit Erheiterung. Ähnlich wie dem Magengrummeln. Denn diese ungesteuerten, körperlichen Entgleisungen lassen einen tiefen Blick auf den entgleisenden Menschen zu. Dies stimmt uns zum einen peinlich berührt zum anderen heiter überlegen. Ich überraschte mich selbst damit, dass ich mich von meinem Sitz erhob, drei Schritte durch den Gang wankte, bis ich hinter dem Mann mit dem Schluckauf stand, und ihm unvermittelt "Mit mir nicht!" ins linke Ohr schrie. Er zuckte zusammen, es folgte ein Hickser, dann etwas, was einem Quietschen ähnelte, eine schnelle Bewegung nach vorn, dann nach hinten in meine Richtung. Seine rechte Hand fuhr zum Herzen, dann sackte er zusammen. Vielleicht hatte ich ihn vom Schluckauf geheilt. Aber abgesehen davon hatte ich ihn umgebracht. Dachte ich zunächst. Dann sah ich, dass er noch atmete. Ich setzte mich zurück auf meinen Platz. Alle Menschen im hinteren Teil des Busses starrten mich an. Auch meine zierliche Nachbarin hatte ihre Zeitschrift - es war tatsächlich Für Sie - zugeschlagen und sich mir zugewandt. Ich blickte auf den Boden. Dort fand ich ein silbernes Kaugummi-Papier und ein zusammengeknülltes Stück Zeitung. Ich fragte mich, wie häufig wohl die Busböden gereinigt wurden. Und ob es Strecken gab, auf denen der Bus häufiger gereinigt werden musste, weil dort die Fahrgäste mehr Müll mit hineinbrachten. Vielleicht die Strecken aus den ärmlichen Vorstädten heraus?

"Sie sind wohl verrückt geworden!"

Ich fuhr hoch. Neben mir stand der Mann mit dem Schluckauf, der jetzt keinen Schluckauf mehr hatte. Er hatte blaue Augen, die mich heftig anglitzerten. Um seinen Kopf ringelten sich spärlich ein paar graue Haare.

"Das kann sein", antwortete ich. Zwischen Ohren und Kinn wurde mir ganz heiß.

"Sie hätten mich fast umgebracht!"

Hinter ihm sah ich den Park vorbeigleiten.

"Verzeihen Sie bitte!" Mein rechte Hand machte eine winkende Bewegung. Dann tastete sie nach dem roten Knopf, der das Haltesignal auslöste. "Ich muss jetzt aussteigen."

"Ich komme mit Ihnen."

Er ließ mich an sich vorbeigehen. Dann stiegen wir gemeinsam aus.

Ich wäre gern einfach zur Arbeit gegangen, als wäre nichts passiert. Doch der Mann versperrte mir mit vor der Brust verschränkten Armen den Weg. Mit seinem dicken schwarzen Mantel, der dunkelblauen Jeans und den schwarzen Wanderstiefeln stellte er ein überzeugendes Hindernis dar.

"Wie heißen Sie?" fragte er.

"Babette Müller", antwortete ich, als hätte er ein Recht gehabt, nach meinem Namen zu fragen. "Und Sie?"

"Franz Herledanz."

"Das reimt sich." sagte ich.

"Warum haben Sie das getan?" fragte er.

"Sie haben mich an meine Großmutter erinnert." antwortete ich.

Herr Herledanz schnaubte. Sein Gesicht sah aus wie ein längliches Mohnbrötchen. Es war glattrasiert, aber übersät mit schwarzen Punkten. Ob es sich um Sommersprossen, Leberflecken oder Melanome handelte, wusste ich nicht.

"Und Sie hassen Ihre Großmutter so, dass Sie alle Leute umbringen wollen, die Sie an sie erinnern?"

"Ich wollte Sie nicht umbringen. Sie hatten Schluckauf. Ich wollte Ihnen helfen."

Herr Herledanz schnaubte abermals: "Was hat das mit Ihrer Großmutter zu tun?"

"Vor vielen Jahren saß ich mit meiner Großmutter in ihrer Wohnküche und trank mit Fruchtsaft verlängerten, kalten Kräutertee." antwortete ich. "Sie hielt dies für ein geeignetes Erfrischungsgetränk, das einen gesund durch den Sommer bringen konnte. Mit meinen sechs Jahren war ich noch jung genug, um ihr dies zu glauben. Meine Großmutter schien, nebenbei gesagt, ihrer Zeit voraus zu sein, denn einige Jahre später wurde der Ice-Tea erfunden, der sehr ähnlich schmeckte."

"Was faseln Sie da von Kräutertee?" unterbrach mich Herr Herledanz ungehalten. "Beantworten Sie meine Frage!"

"Während wir also in der Küche saßen und den Ice-Tea-Vorläufer tranken," fuhr ich fort, "erzählte mir meine Großmutter von einem Jungen aus ihrer Kindheit, der, als er ungefähr in meinem Alter war, Schluckauf bekommen hatte und ihn nie wieder losgeworden war. Über mehrere Jahre hinweg hickste er sich durchs Leben. Er ist mit zwölf an einer Lungenentzündung gestorben. Ob er auf seinem Sterbebett noch Schluckauf hatte, wusste meine Großmutter nicht. Von da an fürchtete ich, selbst Opfer eines lebenslangen Schluckaufs zu werden. Ich sammelte mit Eifer die über Generationen hinweg tradierten Möglichkeiten, wie ein Schluckauf beendet werden kann. Eine Kerze machen, sieben Menschen aufzählen, die eine Glatze haben‚aus einem Glas über Kopf trinken - oder jemanden erschrecken. Wie alt sind Sie?"

"69", sagte Herr Herledanz.

"Es hätte sein können, dass Sie bereits seit Ihrer Kindheit an diesem Schluckauf leiden, also vielleicht schon 63 Jahre lang. Dann hätten Sie jetzt allen Grund, mir dankbar zu sein."

"Ich hatte diesen Schluckauf aber nicht seit meiner Kindheit. Er hat erst vorhin im Bus angefangen." stellte er klar. "Woher sollte ich das wissen?"

"Sie hätten mich fragen können."

"Dann hätte ich Sie nicht mehr erschrecken können. Und Sie hätten wahrscheinlich immer noch Schluckauf."

Herr Herledanz seufzte.

"Ich möchte, dass Sie mich besuchen." sagte er und reichte mir eine Visitenkarte. Es war eine edle Karte aus hochwertigem Material mit elegantem Schriftzug. "Vielleicht gleich heute? Gegen halb sechs?"

Ich sagte zu.

Katrin Reinhard, geboren 1968, lebt in Hamburg. Mit mir nicht ist Teil einer Erzählung, an der die Autorin derzeit arbeitet.


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