Ich habe noch nie so selten im Westen gespielt wie nach der Wende", konstatiert Barbara Thalheim ernüchtert. Aus Anlass des 3. Oktobers zog sie mit ihrer Band, begleitet vom Landesakkordeonorchester, zu einem Galakonzert in der Hochschule der Künste: West-Berlin. "Ich dachte, wenn die Wessis nicht in meine Konzerte im Osten kommen, dann gehen wir eben zu ihnen feiern."
Gesellschaftliche Krisen fanden in persönlichen ihren Niederschlag
Drei Jahre hat "die Wahrheitssucherin" - wie sie sich selbst bezeichnet - geschwiegen, hat ihre Stimme verweigert. Nun singt sie wieder, und das Publikum ist ergriffen von den Liedern, die dieser Zeit und ihrer absurden Ost-West-Gespaltenheit einen unvergessbaren Ausdruck verleihen. Durch schwere Krisen in den letzten Jahren - die gesellschaftlic
e gesellschaftlichen fanden in den persönlichen ihren Niederschlag - gewann sie eine nie gekannte Au thentizität: "Ich war mir noch nie so nah". Sie singt, gerade fünfzig geworden, kraftvoll-melancholisch von der Sehnsucht nach Zukunft, einer Sehnsucht, die Ostdeutschen aus der Seele spricht und die doch vor allem das Ungenügen an der heutigen Gesellschaft meint. "Im Osten ist der Druck größer, die Leute müssen all diese Veränderungen verarbeiten, sie müssen nachdenken. Der Westen schmort nach wie vor im eigenen Saft." Dagegen möchte sie gern anlaufen. Mit ihrer Kunst die Selbstzufriedenheit der Wessis aufrütteln: "Aber wenn ich die Miete nicht zahlen kann ..." Und dann kommt ein Satz, der das Dilemma auf den Punkt bringt: "In der DDR hat man mir unter die Bettdecke geguckt, heute fasst man mir unter die Bettdecke..." und zieht das letzte Laken weg.Immer noch auf der Odyssee durch Aushilfsjobs und UmschulungenDavon könnte auch Martina Weigert, 25 Jahre jung, ein Lied singen. Ich traf die zupackende Frau zum ersten Mal im Sommer, in einer Dorfkneipe mitten in der Mecklenburger Seenplatte. Sie stand am Tresen, bediente die Gäste, half auch mal mit in der Küche - war eben "Mädchen für alles". Der Job machte ihr Spaß, doch im Oktober ist er mit der Saison zu Ende gegangen. 260 DM verdiente sie, ein Zubrot zum Arbeitslosengeld. War immer im Einsatz, wenn sie gebraucht wurde. Ihre Tochter kann sie jederzeit zur Mutter bringen, die ist mit ihren acht undvierzig Jahren auch arbeitslos - seit 1992. Als die Wende kam, absolvierte Martina gerade eine Lehre als Wirtschaftshilfe im FDGB-Hotel und war schwanger. Der FDGB (die Gewerkschaft der DDR) wurde aufgelöst, das Hotel privatisiert, die neuen West-Besitzer entließen das gesamte Personal. Seitdem ist sie immer noch auf der Odyssee durch Aushilfsjobs, Umschulungen, Weiterbildungen. "Zertifikate und der ganze Quatsch, das hat alles nichts gebracht, weil es ja keine Arbeitsplätze gibt." Wenn sie arbeiten kann, ist sie glücklich. Zu Hause ist es langweilig. 1700 DM hat sie jetzt für sich und ihre Tochter. Urlaub? Hat sie noch nie gemacht, höchstens mal eine Tagesfahrt."Ahnung hatte ich nicht, aber ich hatte keine Wahl""Geld ist nicht alles", lautet dagegen das Resümee einer Frau mit völlig anderen Erfahrungen: Gerlind Braunsdorf, Jahrgang 1943. Die aus Leipzig stammende Geschäftsführerin der Wurzener Nahrungsmittel GmbH hat durch die Privatisierung des volkseigenen Betriebes eine zweite Karriere als Managerin gemacht. Wohl wissend, dass die hochqualifizierten Ostdeutschen für den eigenen Markt und seine Konsumenten kompetenter sind als westdeutscher Personalimport, bat der Gesellschafter des Mutterkonzerns, die Getreide AG Rendsburg, Gerlind Braunsdorf 1992, die Geschäftsführung für Marketing zu übernehmen. "Ahnung hatte ich nicht", sagt die couragierte Marketingfrau, "aber ich hatte keine Wahl. Ich stand vor der Frage: Wie geht es überhaupt weiter?" Also hat sie das Schicksal bei den Hörnern gepackt und ist mitten hinein gesprungen in die Marktwirtschaft. "Ich dachte: Geschäfte laufen immer zwischen Menschen, und mit Menschen kann ich umgehen."Inzwischen spielt sie bravourös auf der Klaviatur des Marketings, weist stolz auf das neue Corporate Design der Marke Wurzener, das soeben auf der Welternährungsmesse in Köln völlig neu präsentiert wurde. Die Produkte - Reis, Cornflakes, Snacks - stehen für eine natürliche, gesunde Ernährung, symbolisiert durch das Motiv auf dem Messestand: Eine Gruppe von Kindern läuft in ein golden leuchtendes Weizenfeld hinein. "Unsere Zukunft rennt in die Natur. Die Kinder rennen in eine natürliche Zukunft", kommentiert sie begeistert den neuen Markenauftritt. Doch die Tochter, die in Köln lebt, sieht sie kaum: "Traurig ist das", klagt Gerlind Braunsdorf, "wenn für die eigene Familie kaum noch Zeit bleibt."So prägen ihre Einstellungen die interne Unternehmenskultur: "Bei Wurzener entscheidet nicht das Alter oder das Geschlecht, sondern die Leistung", heißt es in der Pressemappe, die auch gleich mit Zahlen aufwartet: Im Unternehmen arbeiten 47 Prozent Frauen, die Hälfte davon in verantwortlichen Positionen. Ein stattliches Resultat ihres Wirkens, von dem viele, auch weitaus jüngere Frauen nur träumen können.Ist sie glücklich? "Zum Glück gehört auch das Umfeld. Mein Mann unterstützt mich, wo er nur kann, macht vieles im Haushalt. Da bin ich ihm zu großem Dank verpflichtet." Das hat er schon vor zwanzig Jahren lernen müssen, als sie neben ihrer Berufstätigkeit Agrarwissenschaft studierte. "Ja ja, unsere Ostmänner, die wissen, wo sie einen Putzlappen finden... Man kann seinen Job nur wirklich gut machen, wenn man auch zu Hause glücklich ist."Wenn das Selbstbewusstsein erst einmal angeknackt ist, nimmt man jeden JobAm häuslichen Glück mangelt es der 39-jährigen Bettina Berbig nicht. In einem kleinen Dorf bei Jena, im idyllischen Thüringen, hat ihre Familie nach der Wende ein stattliches Haus gebaut - mit Terrasse versteht sich und Blick auf liebliche Berghänge, weidende Kühe. Ein harmonisches Familienleben: Zwei Kinder, ein Mann, ihre Mutter Katja. Katzen, ein Hund - alle gemeinsam unter dem neuen Dach. Doch die Idylle trübt ein Wermutstropfen: Seit der Wende hat Bettina Berbig beruflich vor allem Pech gehabt. "Wenn man arbeitslos ist, verändert sich auch das Privatleben", sagt die gelernte Bauzeichnerin und studierte Betriebswirtschaftlerin. "Früher bin ich arbeiten gegangen, habe irgendwo dazugehört, hatte mein Gleichgewicht." Sie erhielt 1991 - am gleichen Tag wie ihr Mann - die Kündigung. Da war ihre Tochter zwei Jahre alt: "Wenn du mit einem kleinen Kind den ganzen Tag zu Hause bist, kommst du dir wie Muttchen am Kochtopf vor. Und wenn dein Selbstbewusst sein erst einmal angeknackt ist, nimmst du jeden Job. Und wirst auch ganz schnell zum Opfer von Mobbing." Bettina Berbigs Mann hat längst wieder einen Job, er verdient gut, unter finanziellen Problemen leidet die Familie nicht. Nur: Geld ist eben nicht alles. "Hast mal studiert, hast deine Arbeit ordentlich gemacht, wurdest von deinen Kollegen geschätzt. Jetzt fragt dich keiner mehr: ÂWas kannst du? Was willst du? sondern nur noch: ÂMachst du diese Arbeit für das Geld?Â"Der Thüringerin erging es wie vielen qualifizierten Frauen mit kleinen Kindern. Bei der Umstrukturierung der Betriebe landeten sie auf der Straße und mussten sich, um überhaupt eine Arbeit zu finden, mit Aushilfsjobs begnügen. Von einem "Dequalifizierungstrend" spricht die Sozialwissenschaft.Wenn auch mit Brüchen und Verletzungen, hat sie sich inzwischen doch psychisch auf die Ellenbogen-Gesetze eingestellt, sucht nach Spielräumen, nach ihrem Weg: "Ich versuche, mich aus dem Angestellten-Dasein zu emanzipieren und endlich das zu tun, was mir Spaß macht. Das wird nur möglich sein, wenn ich mich selbständig mache - mit anderen, die ebenfalls nicht mehr darauf warten wollen, dass ihnen geholfen wird, die erkannt haben, dass man sich nur selbst helfen kann."Die Kunst, sich den Arbeitsplatz mit wenig Eigenkapital selbst zu schaffenUm der Arbeitslosigkeit zu entkommen, haben sich viele ostdeutsche Frauen ihren Arbeitsplatz selbst geschaffen. Ärztinnen, Rechtsanwältinnen, Architektinnen und Bauingenieurinnen, Handwerkerinnen grün deten ihre eigene Existenz. Das Problem der Gründungswilligen ist bis heute: Die bescheidenen Einkommensverhältnisse verhindern die Anhäufung von nennenswertem Eigenkapital. Ohne Besitz, ohne Sicherheiten geben Banken keinen Kredit. So bleibt ein Teil des großen Potenzials ostdeutscher Frauen an Engagement, Fachwissen und sozialer Kompetenz - Schlüsselqualifikationen in der boomenden Dienstleistungsbranche - brach liegen. Die Schwierigkeiten einer Existenzgründung sind vorprogrammiert. Deutsche Förderprogramme zielen vor allem auf Technologie- und Hightech-Innovationen, kaum auf Klein- und Kleinstunternehmen mit originellen, kreativen Ideen.Doch die Frauen versuchen es immer wieder. Sie lassen sich von ihrem Lebensentwurf nicht abbringen. Zum Mutter-Sein gehört für sie die Berufstätigkeit, wie der Computer zum Internet. - Berufstätigkeit bedeutet für sie: Weiterentwicklung, Selbstverwirklichung, Herausforderung. Bedeutet finanzielle Unabhängigkeit. Wie kann es auch anders sein für die jüngere Generation, die das Managen von Beruf und Familie bereits von ihren Müttern und Großmüttern gelernt hat. Bettina Berbigs Mutter, Katja Schreiner, hat ihre Tochter sogar ohne Mann - niemals jedoch allein - erzogen.Die neue Ideologie ist genauso schlimm wie die frühere, nur raffinierterMutter und Tochter lehnen sich entspannt in den gemütlichen Stühlen auf der Sonnenterrasse zurück und politisieren: Katja Schreiner, Jahrgang 1936, seit acht Jahren glückliche Rentnerin; sie sieht den gesellschaftlichen Wandel gelassen: "Die vollständige Umstellung des Lebens ist sehr gut. Alles, aber auch alles war plötzlich in Frage gestellt. Wir muss ten über alles neu nachdenken. Das brauchten die Westdeutschen nicht." Als Rentnerin genießt sie die Vorteile des ostdeutschen Anschlusses: "Ich habe nicht mehr das Gefühl des Eingeschlossenseins. Der erweiterte Aktionsradius ist ein Gewinn. Man kann lesen, was man will, telefonieren, reisen. Und mein Gefühl für Heimat hat sich verändert. Meine Heimat ist größer geworden", freut sich die Thüringer Frohnatur ihres Lebens. Doch dann wird die studierte Dolmetscherin und Pressereferentin ernster: "Die absolute Geld- und Ideologiedominanz des Westsystems finde ich unerträglich. Die Ideologie ist genauso schlimm wie früher, nur raffinierter." Sie läßt sich darin nicht beirren. Entschlossen und demokratiebewusst hat sie in einem Buch ihre Erfahrungen als persönliche Referentin des Generaldirektors des weltberühmten feinoptischen Kombinates Carl Zeiss Jena ausgewertet, hat sich in die Frage nach dem Scheitern der sozialistischen Wirtschaft hineingekniet, arbeitet aus Engagement in einem Zirkel von Gesellschaftswissenschaftlern mit und dreimal pro Woche in einem kleinen Betrieb, der deutsch-russischen Handwerkeraustausch organisiert.Sie steht immer noch mit beiden Beinen im Leben, sie lebt "in Familie", obwohl sie sich im letzten Jahr von ihrem Mann, den sie erst heiratete, als ihre Tochter schon aus dem Haus war, wieder trennte. Sie ist glücklich, finanziell geht es ihr gut, sie muss sich ums Geld nicht sorgen, denn bei über vierzig Berufsjahren stimmt heute die Rente. Wie bei vielen ostdeutschen Rentnerinnen.Die Rente ostdeutscher Frauen ist um 35 Prozent höher als die westdeutscherDas durchschnittliche Renteneinkommen der ostdeutschen Frauen liegt um 35 Prozent höher als das der westdeutschen, wie das Deutsche Institut für Wirtschaft (DIW) in einer kürzlich veröffentlichten Studie feststellte. Deshalb werden die "jungen" Seniorinnen, die die neuen Freiheiten genießen können, auch als die eigentlichen Gewinner der deutschen Vereinigung bezeichnet. Die ostdeutschen Frauen haben gearbeitet und ihre Kinder aufgezogen, nicht mehr und nicht weniger. Ein Glück, ohne Karriere, ohne Weltumseglung, ohne New York, ohne den Duft von Chanel, ohne Handtasche von Armani. Die Mädchen sind ohne den Traum von Märchenprinzen wie Leonardo di Caprio aufgewachsen, der Junge von nebenan füllte die Träume. Ihre Bodenständigkeit, ihre Abwehr gegenüber dem bürgerlichen Rollenmuster der dienenden Hausfrau lässt sie auch lifegestylte Hohlheit ablehnen, lässt sie hart um ihren Platz in der neuen Gesellschaft ringen.Einige haben ihn bereits gefunden, andere sind auf dem Weg. Manche erhielt keine Chance. Damit aber will sich kaum eine abfinden.
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