Artikel 6 des Grundgesetzes sagt: „Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung“. Das kann so interpretiert werden, dass sein Zweck vor allem einer ist: die nachkommenden Generationen bestmöglich „groß zu kriegen“. Sie sind schließlich die Zukunft der Gesellschaft, die künftigen Bürger des Staates. Artikel 6 bestimmt nicht nur, dass die nachkommende Generation, vermittelt durch Familie und Ehe, besonders geschützt werden soll. Er legt auch fest, wo die Grenzen zwischen Elternrecht und Staatsrecht liegen. Denn der Streit, ob die Erziehung besser beim Staat oder bei den Eltern liegen soll, ist ebenso alt, wie das Nachdenken über Kindheit und Erziehung an sich. Deswegen regelt das Grundgesetz, wie weit die alleinige Erziehungsbefugnis der Eltern reicht und ab wann der Staat einzuschreiten hat.
Bereits in der Antike ersann Platon für den Athener Stadtstaat einen Weg, dessen Kinder bestmöglich zu schützen. Er wollte vor allem erreichen, dass sich Eltern nicht nur eigennützig um die eigenen Kinder, sondern die staatliche Gemeinschaft als Ganze sich um die nachkommende Generation als Ganze kümmerten. Die Sicherung des Wohls aller Kinder und damit die Sicherung der staatlichen Gemeinschaft ist ein beliebtes Thema unter den Staatstheoretikern in der Geschichte, genau wie unter Utopisten. Artikel 6 des Grundgesetzes soll eine Antwort geben: Familien sollen besondere Privilegien erfahren. Das ist ein Grundrecht, wohlgemerkt.
Ein kritischer Blick auf gesellschaftliche Realitäten zeigt jedoch: Der deutsche Staat bietet diesen Schutz bei weitem nicht allen Kindern. Geschützt – oder besser gesagt: bevorzugt behandelt – wird vor allem die Ehe. Das Familienmodell der bürgerlichen Kleinfamilie dient als Grundlage und Schablone zur Umsetzung des Schutzes der Familie. Familie ist demnach da, wo Ehe ist. Ob Kinder da sind oder nicht, ist nicht so wichtig. Und das im 21. Jahrhundert! Heraus fallen Alleinerziehende, Wohngemeinschaften, Regenbogenfamilien, polyamore Familien und natürlich: alle Familien, in denen Eltern ohne Trauschein leben.
Kein Schutz ohne Trauschein
In den vergangenen 30 Jahren, so dokumentiert es das Statistische Bundesamt, hat die Anzahl der Eheschließungen beständig abgenommen. Die Anzahl der Kinder, die unehelich geboren werden und aufwachsen, nimmt stetig zu. Vor allem in Ostdeutschland ist der Effekt groß: Fast 60 Prozent aller Kinder werden dort unehelich geboren, im Westen sind es gut 25 Prozent. Die Lebensformen in denen diese Kinder leben, sind bunt und vielfältig.
In Deutschland leben etwa 70.000 homosexuelle Lebensgemeinschaften. Da aber nur die Ehe begünstigt wird, die homosexuellen Paaren als Option nicht offen steht, werden diese Lebensgemeinschaften finanziell benachteiligt: Bei der Einkommenssteuer werden weder die Partnerschaft noch das nicht-leibliche Kind berücksichtigt. Sie können den Kinder- und Betreuungsfreibetrag nicht auf die jeweilige „Co-Mutter“ oder den jeweiligen „Co-Vater“ übertragen, wie das in Ehen möglich ist. Dass auch homosexuelle Paare ihre Kinder betreuen, erkennt der Staat also nicht an.
Nur langsam werden diese staatlichen Diskriminierungen durch die Justiz angeprangert. So erklärte erst im November dieses Jahres das Finanzgericht Niedersachsen, dass auch eingetragene Lebenspartnerschaften ein Recht auf Steuersplitting haben müssten. Erst im Juli 2010 hatte das Bundesverfassungsgericht eine Gleichbehandlung von Lebenspartnerschaften bei der Erbschaftssteuer angemahnt.
Unverheiratete Paare leben mitunter auch riskant – vor allem die Frauen. Da in Deutschland oft immer noch die Mütter bei der Erziehung der gemeinsamen Kinder beruflich zurückstecken und das Alleinverdienermodell trotz all seiner Risiken gelebt wird, sobald Kinder kommen, müssen unverheiratete Frauen im Fall einer Trennung enorme finanzielle Nachteile abfedern. Ohne staatlichen Schutz. Wie bei Regenbogenfamilien ist auch die gesetzliche Erbfolge bei unverheirateten Paaren bislang nicht klar geregelt. Ohne ein Testament oder einen Erbvertrag bekommt im Todesfall der Lebenspartner nichts. Das Ehegattensplitting genießen unverheiratete Paare natürlich auch nicht. Denn Familie ist ja da, wo Ehe ist. Nicht da, wo Kinder sind.
Familie nur im Jobcenter
Nach Leuten, die nicht nur keinen Trauschein, sondern auch keine Kinder haben, braucht man eigentlich gar nicht erst zu fragen. Sie leben in Deutschland bislang ohne jede rechtliche Stütze. Das ältere Paar, das seinen Lebensabend gemeinsam verbringt, sich gegenseitig unterstützend; die Wohngemeinschaft, die füreinander Verantwortung übernimmt, füreinander da ist – sie alle scheinen nicht schützenswert zu sein. Weder bei steuerlichen, erbrechtlichen, noch bei ganz alltäglichen Fragen – etwa, im Krankheits- oder Pflegefall – werden sie berücksichtigt. Nur wenn Ansprüche an ein Jobcenter gerichtet werden, wird aus dem Nichts plötzlich eine „Bedarfsgemeinschaft“. Dann zählen sie. Dann wird die Frage gestellt: Sind Sie willens, füreinander Verantwortung zu tragen und füreinander einzustehen? Die Beweislast liegt dann übrigens bei der vermeintlichen Bedarfsgemeinschaft. Die Vermutung, dass sich hier Menschen umeinander kümmern, füreinander da sind, füreinander eintreten reicht, um alle Einkommen der Bedarfsgemeinschaft auf das Arbeitslosengeld II anzurechnen. Die Rechte, die bisher nur Verheiratete zugestanden bekommen, erhalten sie hingegen nicht.
In Frankreich ist man längst weiter. Der sogenannte Zivile Solidaritätspakt, kurz PACS (pacte civil de solidarité) ermöglicht dort auch ohne Ehe eine Gütergemeinschaft, gemeinsame steuerliche Veranlagung und macht Regelungen in Erbschaftsfragen möglich. Er ist für Paare aller sexuellen Orientierung gedacht und wird zu über 90 Prozent von Heterosexuellen genutzt.
In Deutschland mangelt es auch nicht an Ideen: 2009 forderten die Grünen in Nordrhein-Westfalen, Familie müsse „da sein, wo Kinder sind“. Damit einher ging der Entwurf eines sogenannten „Familienvertrags“, der die Vorteile der Ehe auf all jene übertragen wollte, die Kinder haben. Zwischen biologischen und sozialen Eltern sollte endlich nicht mehr unterschieden werden. Doch der Bundesparteitag der Grünen lehnte das Modell ab. Die Bundestagsfraktion war gegen einen solchen Vorstoß. Für den staatlichen Schutz von Kindern in allen Lebensformen wollen in Deutschland offenbar nicht viele einstehen.
Soziale Lage ist entscheidend
Doch der Artikel 6 im Grundgesetz beinhaltet mehr, als nur ein Gebot über den besonderen Schutz der Familie, er will allen Kindern die gleichen Entwicklungschancen geben: „Den unehelichen Kindern sind durch die Gesetzgebung die gleichen Bedingungen für ihre leibliche und seelische Entwicklung und ihre Stellung in der Gesellschaft zu schaffen wie den ehelichen Kindern.“
Im Jahr 2010 sollte es allerdings besser heißen: ALLEN Kindern seien gleiche Bedingungen zu schaffen. Denn oft spielt für ein Kind seine soziale Situation die viel größere Rolle als die Rechtsstellung seiner biologischen oder nicht-biologischen Eltern – die vor 50 Jahren sicherlich noch ein brisantes Thema und Quell von Benachteiligungen war. Die Schere zwischen Arm und Reich geht in Deutschland immer weiter auseinander. Je nach Studie und Definition von Armut lebt jedes sechste (UNICEF) und jedes achte Kind (Bundesregierung) in Armut. Gerade die Kinder von Alleinerziehenden – zu 90 Prozent Frauen – sind einem steigendem Armutsrisiko ausgesetzt.
Die Milieustudie des Sozialwissenschaftlers Klaus Hurrelmann, Kinder in Deutschland 2007, zeigt, dass sich Armut im Kindesalter durch das gesamte Leben eines Menschen wie ein roter Faden zieht. Kinder aus sozial schwächeren Haushalten haben schlechtere Bildungschancen. Ein Aufstieg aus dem sozialen Abseits ist in Deutschland vergleichsweise schwer.
Unterschwelliger Sozialdarwinismus
Wer von Hartz IV lebt, profitiert von keiner der Bevorzugungen für Familien: Kindergeld wird auf das Arbeitslosengeld II angerechnet; Steuer-Ersparnisse hat nur, wer überhaupt Steuern zahlt. Mit der Streichung des Elterngeldes für Hartz-IV-EmpfängerInnen wird die Stigmatisierung und Benachteiligung von Familien aus sozial schwächeren Milieus verschärft. Schulmaterialien, ordentliche Kleidung, kulturelle Aktivitäten und Bildungsausgaben wie die heute fast unumgängliche Nachhilfe sparen sich Hartz-IV-Familien oft vom Munde ab – oder können sie ihren Kindern einfach nicht ermöglichen.
Diese Familien sind am stärksten vom „Nicht-Schutz“ des Staates betroffen. Die gleichen Bedingungen und Chancen für diese Kinder? PISA und die Studie Kinder in Deutschland zeigen, dass hier mitnichten gleiche Möglichkeiten bestehen. 2010 verläuft ein gesellschaftlicher Graben nicht mehr nur zwischen ehelichen und unehelichen Kindern, sondern zwischen Hartz IV und Normalgesellschaft. So verhindert ein unterschwelliger Sozialdarwinismus den verfassungsgemäßen Schutz auch dieser Familien. Er zeigt sich in der ständigen Schelte der Underclass, die nicht nur die Bild-Zeitung betreibt, auch Vertreterinnen und Vertreter der Regierung tun es.
Katrin Rönicke ist Mutter einer Tochter und schreibt regelmäßig über Geschlechterfragen im Freitag und auf maedchenmannschaft.net
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