1968: Ein frei schwebender Gruß

SIEGFRIED UNSELD Siegfried Unseld zum 75.

Als ich eingeladen wurde, zum 75. Geburtstag von Siegfried Unseld eine Gratulation zu schreiben, überlegte ich, wann ich ihn zuerst getroffen hätte. Ja, natürlich, während der Frankfurter Buchmesse 1969, eher zufällig. Günther Amendt und ich hatten uns mit dem be rühmten italienischen Verleger Giulio Einaudi zum Essen im Franfurter Hof verabredet, um ihn über die politischen Prozesse in Westdeutschland und die Strafverfahren gegen die Protagonisten der Studentenrevolte zu informieren, vielleicht auch seine Unterstützung für einen internationalen Appell zu erwirken.

Ich war nicht schlecht erstaunt, als wir Giulio nicht wie erhofft allein antrafen. Schon von weitem sahen wir Einaudis eindrucksvollen weißen Schopf am Tisch mit Jürgen Habermas und Siegfried Unseld. Sie versuchten immer wieder, über Erkenntnis und Interesse zu sprechen. Dass sie wohl eine italienische Lizenz verkaufen wollten, habe ich erst Jahre später begriffen. Einaudi jedenfalls gefiel es, sie abzulenken und hinzuhalten, er fand das Gespräch über alte Nazis in der westdeutschen Justiz viel interessanter, die italienische Lizenz lief ihm sowieso nicht weg. Unseld nahm das durchkreuzte Gespräch gelassen, während Habermas' Blicke immer giftiger wurden.

Es war aber nicht das erste Treffen! Warum fiel mir das nicht gleich ein? Ein Jahr vorher, während der Buchmesse 1968, im Frankfurter Theater am Turm, aber kann man das ein Treffen nennen?

Im TAT war Peter Handke 1966 als junger Schriftsteller mit seiner Publikumsbeschimpfung berühmt geworden, der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS) wurde später gebeten, eine marxistische Grundschulung für das TAT-Ensemble zu organisieren. Ob früher ein Beitrag des Suhrkamp Verlages zur Buchmesse anderswo stattfand? 1968 jedenfalls war das TAT gemietet, die gedruckten Einladungen rar, ich freute mich, zum Empfang »unseres« Verlages ein Karte erwischt zu haben.

Das kalte Buffet im Foyer blieb noch zugedeckt. Ich war aufgeregt, die erste literarische Lesung seit Mai 1967. (Im Freiburger SDS hatten wir immer abwechselnd »politische« und »literarische« Veranstaltungen organisiert, Ende Mai 1967 las Stephan Hermlin, dann kam der 2. Juni.) Ich war gespannt, die angekündigten Vortragenden zu hören und vielleicht kennenzulernen. Vortragen sollte Günter Eich, verheiratet mit der von mir verehrten Ilse Aichinger, als Schüler hatte ich sie aus Der Gefesselte lesen gehört: »Alle Möglichkeiten lagen in dem Spielraum der Fesselung. Er stützte die Ellbogen auf die Erde und beobachtete das Spielen der Schnur. Sobald sie spannte, gab er nach und versuchte es mit größerer Vorsicht wieder.« Da ging es um mich, gefesselt, »im Innern des Käfigs, während er die Fessel wie die Reste einer Schlangenhaut von sich riß.

Von uns war ja der »Tod der Literatur« nicht ausgerufen worden, das hatten Autoren und Journalisten im Kulturbetrieb besorgt. Eich, dachte ich, gehört zu uns: »Nein, schlafet nicht, während die Ordner der Welt geschäftig sind! / Seid mißtrauisch gegen ihre Macht, die sie vorgeben für euch erwerben zu müssen! / Wacht darüber, dass eure Herzen nicht leer sind, wenn mit der Leere eurer Herzen gerechnet wird! / Tut das Unnütze, singt die Lieder, die man aus eurem Mund nicht erwartet! / Seid unbequem, seid Sand, nicht das Öl im Getriebe der Welt!«

Nach Eich sollte Erich Wulf lesen, dessen genaue Erfahrungsberichte als Arzt in Hué (Süd-Vietnam) seit Jahren in Das Argument, einem heimlichen Zentralorgan der Studentenbewegung in West-Berlin, erschienen und in den SDS-Gruppen verschlungen wurden. Sein erstaunliches Buch Vietnamesische Lehrjahre hatte er unter seinem Autorennamen Georg W. Alsheimer gerade bei Siegfried Unseld herausgebracht.

Unruhe im Foyer! Geschrei, Rempeleien - bald gab die Einlaßkontrolle auf. Irgendwie hatte es sich herumgesprochen, vielleicht lockte auch das üppige Buffet? Unversehens traf ein schon angeheiterter Demonstrationszug ein, schneller als man sehen konnte, waren die kalten Platten geleert. Ich fühlte mich nicht wohl in meiner Haut, sollte ich mich für den wohlgeordneten Ablauf des Empfangs verantwortlich erklären und einzugreifen versuchen? Ich fühlte mich ohnmächtig und schämte mich, vielleicht zum ersten Mal, für meine grölenden Genossen. Es wurde auch im Saal eng und laut, an den Seiten drängten sich Lederjacken und Jeans.

Im Lärm begann Günter Eich trotzdem zu lesen. Und plötzlich wurde es mucksmäuschenstill: hinter dem Lesepult hatte eine Performance begonnen. Hinter Eich ging, nein, eher: schwebte ein schlanker junger Mann, ohne zu sprechen, auf der TAT-Bühne hin und her, ziemlich bleich, gefaßt, mit sicheren, erstaunlich zarten Bewegungen. Bei jedem Schritt balancierend, nur mit den Zehenspitzen den Boden berührend, und breitete die Arme aus wie zum Fliegen. Ich konnte den Rhythmus der Dichtung in den Schritten des Tänzers wiedererkennen, jetzt erst war Eich selbst wirklich anwesend. Welch einfallsreiche Inszenierung!

Ich kannte Siegfried Unseld ja nicht. Hätte ich darüber nachdenken sollen, wie ich mir wohl den Verleger von Brecht und Adorno, und Walter Benjamin und Günter Eich und Enzensberger, den Verleger des Kursbuch und der »edition suhrkamp« vorzustellen hätte? (Fast alle der aufgeregten Diskussionen schon während der Oberstufe knüpften an Suhrkamp-Bücher an; mit der »Suhrkamp-Kultur« entdeckten wir erst die spezifische Mischung von Kritischer Theorie, Psychoanalyse und Literatur, mit der wir uns bewaffnen wollten; hatte ich in den letzten Jahren überhaupt Bücher gelesen, die nicht in der »edition« erschienen waren? Das außerordentliche epochale Zusammentreffen eines kritischen Verlagsprogramms mit einer Jugendrevolte erschien mir ganz natürlich.) Wäre der Verleger von Rilke und Hesse wohl zart und zierlich, empfindlich und elegisch? Muß ein Verleger sich seinen Autoren anverwandeln? (Oder ist wichtiger, dass er schwimmen kann?)

Der Rest ist schnell erzählt. Ein sonnengebräunter athletischer Mann kam von hinten, sprang nach oben, packte Hans Imhof (denn er, der Frankfurter Dichter und Selbstverleger war es, der das Publikum mit seinem Tanz derart faszinierte) und suchte ihn von der Bühne zu zerren. Das folgende Chaos war unbeschreiblich, nicht nur der Empfang des Suhrkamp Verlages zur Frankfurter Buchmesse 1968 war zu Ende. Hätte ich etwas tun können, um Siegfried Unseld zu signalisieren, dass Hans Imhof kein »Störer«, nicht sein Feind war? Nicht bald danach brach eine Gruppe aus dem SDS in eine Frankfurter SDS-Wohngemeinschaft ein, warf Bücher und Platten aus dem Fenster und pinselte an die Wand: »Theoretiker ins KZ!«

W.F. Haug, der Herausgeber von Das Argument, schrieb 1972 im Vorwort zur zweiten Ausgabe von Vietnamesische Lehrjahre in der edition suhrkamp: »Das Buch hatte von Anfang an mit Schwierigkeiten zu kämpfen, und der Verleger hatte wahrhaftig keine ungetrübte Freude daran. Eine geplante Vorstellung des Autors auf der Buchmesse ging unter in den kulturrevolutionär gemeinten Happenings des damaligen Frankfurter SDS.«

KD Wolff, 1967/68 Bundesvorsitzender des SDS, ist Gründer und Verleger des Verlages Stroemfeld/Roter Stern, Frankfurt am Main/Basel.

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