Die Tödin

Weibliches Erbe Die Theologin Andrea Martha Becker bildet nur Frauen zu Trauer- und Sterbebegleiterinnen aus
Ausgabe 46/2015

Der Tod war früher nicht allein unterwegs. Die Tödin begleitete ihn. Legenden, Gedichten und Sagen zufolge stritten sie miteinander, führten Zwiegespräche, teilten sich die Arbeit. Tödinnen kennt heute so gut wie niemand mehr. Dabei ist der Tod im Russischen und Französischen feminin. Und die Santa Muerte spielt im Totenkult Mexikos und Kubas eine Rolle.

Im Mittelalter gab es aber noch weitere Frauen, die Trauer- und Sterbebegleitung als Beruf ausübten: die Seelfrauen. Sie überbrachten in Dörfern und Städten Todesnachrichten, nähten Leichenhemden, übernahmen Pflege und Totenklage, spendeten Trost. Heute liegen Beerdigungen, Trauerreden oder Seelsorge überwiegend in männlicher Hand. Die Theologin Andrea Martha Becker aus Hamburg will das ändern: Seit drei Jahren bildet die 52-Jährige Frauen zu Trauer- und Sterbebegleiterinnen aus. „Seelfrauen begleiteten Trauernde und Sterbende mit Kompetenz und Empathie. Sie spenden Trost und helfen beim Abschied“, sagt sie.

Schon früh beschäftigte sich Becker mit alternativen Heillehren. Sie entdeckte altes Frauenwissen, studierte feministische Befreiungstheologien und Schriften führender Kirchenfrauen. Becker hat katholische Theologie studiert: „Die Rolle der Frau in der Kirche war immer bedeutsamer, als man uns heute glauben machen will. Gleiches gilt beim Trauern und Sterben. In unserer Kultur gibt es ein vornehmlich weibliches Erbe an Unterstützungs- und Begleitungsmöglichkeiten für Menschen an Lebensübergängen und in Trauer.“

Kein Platz in der Kirche

Die katholische Kirche betrachtet die Aktivitäten ihres Mitgliedes mit Argwohn. Als Becker beginnt, Trauernde und Sterbende zu begleiten, wirbt sie mit einem Flyer, der Nut, Göttin der Gestirne, abbildet. Eine Figur aus der ägyptischen Mythologie. Nut verschluckt abends die Sonne und gebärt sie morgens wieder – in Person des Sonnengottes Re. Becker findet: „Dieses Symbol spendet Trost. Die Sonne verschwindet, sie kommt aber wieder.“ Das provoziert die Kirchenmänner. Sie untersagen ihr, den Flyer in kirchlichen Einrichtungen auszulegen. Becker tritt ein paar Jahre später aus der Kirche aus. Es sei zugleich ein Akt der Befreiung von ihrem frommen Elternhaus gewesen, bilanziert sie. Aber sie sagt auch: „Meine katholische Prägung fließt in meine heutige Arbeit als positives Erbe ein.“

Warum bildet Becker nur Seelfrauen und nicht auch Seelmänner aus? Das männlich dominierte Beerdigungswesen, findet sie, sei lange darauf ausgerichtet gewesen, Sterben und Tod technokratisch abzuwickeln. Die Toten sollten schnell unter die Erde, ohne dass Verwandte sich groß Gedanken hätten machen müssen. Heute hätten Angehörige immer öfter das Bedürfnis, auf Trauerfeiern zu reden, eine Kerze zum Sarg zu tragen oder einen selbst geschriebenen Brief hineinzulegen. Den Toten etwas auf die letzte Reise mitzugeben. Das vermittelt sie ihren Schülerinnen: „Die von mir ausgebildeten Frauen lernen, altes Wissen um Geburt und Tod in zeitgemäßer Weise anzuwenden und werden in die Totennachsorge eingeführt. Dabei geht es auch um Seelengeleit.“ Sie fügt hinzu: „Auch unter Männern gibt es zunehmend gute Seelsorger und Trauerbegleiter.“

Von den 850.000 Menschen, die jedes Jahr in Deutschland sterben, erlebt etwa die Hälfte ihre letzten Augenblicke in Krankenhäusern. Dabei wollen laut einer aktuellen Umfrage 66 Prozent aller Befragten am liebsten zu Hause sterben. Die Zahl der Hospize wächst aber, an die 200 gibt es mittlerweile in Deutschland. Und dies trägt auch dazu dabei, dass der Umgang mit dem Tod sich wandelt, dass mehr darüber gesprochen wird, besser auf die Wünsche der Sterbenden und Todkranken eingegangen wird. Becker ist überzeugt: „Es sind die Frauen, die maßgeblich dazu beigetragen haben, dass sich Sterbebegleitung, Trauerfeiern und Beerdigungen verändern. Sie gehen mit Sterben und Tod anders um als Männer.“

Zu einem Informationsabend, zu dem Becker in eine Hamburger Frauenbibliothek eingeladen hat, sind knapp ein Dutzend Interessierte gekommen, keine ist unter 40 Jahre alt. Kerzen brennen, gelb und rot schimmernder Tüll liegt auf den Tischen. Auf einem Flipchart stehen die Ausbildungsabschnitte angeschrieben – 14 Wochenenden in zwei Jahren, alle zwei Monate eines. Fast alle Zuhörerinnen haben einen Block auf ihrem Schoß und schreiben mit, während Becker spricht.

Seelfrauen, referiert sie vor den Zuhörerinnen, würden Trauernde beim Wiederfinden des psychischen Gleichgewichts unterstützen. Die Ausbildung sei aber auch eine tiefgreifende Selbsterfahrung. Am Anfang stehe eine ausführliche Selbstkritik: Warum will ich helfen? Wo sind meine Grenzen? Bin ich fähig, zu erkennen, wann ich anfange, mich zu identifizieren? Becker sagt: „Es geht darum, trauernde und sterbende Menschen mit psychologischem Feingefühl und fachlichem Wissen zu begleiten. Dabei ist eine spirituelle Offenheit wichtig.“ Sie erläutert auch, wo die Risiken der Tätigkeit liegen. Man müsse Frust aushalten können, weil nicht immer eine Rückmeldung komme. Und es gebe nicht immer Anhaltspunkte, ob die Dienstleistung gut gewesen sei.

Hebamme und Totenamme

Worin bestand denn das alte Frauenwissen übers Sterben? Erni Kutter, Autorin des Buches Schwester Tod, zeigt, dass vor den Hexenverbrennungen Leichenwäscherinnen oder Totenammen zugleich Geburtshelferin und Hebamme in einer Person gewesen sind. Der Zusammenhang bestehe darin, dass Neugeborene langsam in diese Welt eintauchen und Verstorbene sich langsam von ihr lösen. Praktisch könne das so aussehen: „Das sanfte Wiegen und Berühren, zum Beispiel Stützen, Halten, Wiegen oder sanfte Massagen, können Atemnot, Ängste, Unruhe und andere Beschwerden lindern. Der Atem ist eine Brücke zur Seele, der auf diese Weise geholfen wird. Lieder oder Musikstücke können schmerzlindernde, entspannende und beruhigende Wirkung haben, die ein Mensch zu Lebzeiten gern gesungen oder gehört hat.“

Sterben Frauen anders? Sigrid Beyer, Herausgeberin der wissenschaftlichen Studie Frauen im Sterben. Gender und Palliative Care, hat untersucht, welche geschlechtsspezifischen Unterschiede es in der letzten Lebensphase gibt. Die meisten sterbenden Frauen würden versuchen, so lange wie nur irgendwie möglich unabhängig zu bleiben, sich selbst zu versorgen, niemandem zur Last zu fallen. Ein gepflegtes Aussehen, Schönheit und Attraktivität wären auch in der Nähe zum Tod für viele von Bedeutung. Körperlicher Verfall und krankheitsbedingte Entstellungen würden oft als Persönlichkeitsverlust erlebt.

Seelfrauen unterscheiden sich von anderen Sterbebegleiterinnen und Fachleuten in Hospizen darin, dass sie über dieses geschlechtsspezifische Wissen verfügen. Sie haben das weibliche Erbe der Ars moriendi, der Kunst des Sterbens, die stark von geistlichen Männern und ihren Werten geprägt ist, bei Andrea Martha Becker kennengelernt. Becker legt allerdings Wert darauf, dass Trauern und Sterben etwas sehr Individuelles ist. Und dass es keine richtige oder falsche Trauer gibt: „Frauen meinen oft zu wissen, wie man trauert. Daran gehen Ehen kaputt. Dabei ist ein Mann oft nur sprachlos und kann seine Gefühle nicht äußern.“

Ende November beginnt der dritte Kurs von Becker für weibliche Trauer- und Sterbebegleiterinnen, dessen Inhalt die Anforderungen des Bundesverbandes für Trauerbegleitung erfüllt. Knapp ein Dutzend Frauen haben sich angemeldet. Diejenigen, die ihre Ausbildung bereits beendet haben, sind alle als Seelfrauen aktiv: Es sind ehemalige Altenpflegerinnen unter ihnen, Frauen, die einst eine Krebsdiagnose bekamen oder die die Ausbildung berufsbegleitend absolvierten. Wie Janin Boecker, 47 Jahre alt, die als Coachin arbeitet: „In meinen Beratungen habe ich oft mit Trauer zu tun. Nicht nur, wenn es um verstorbene Angehörige geht, sondern auch, wenn Lebenspläne gestorben sind, eine Partnerschaft scheiterte. Ich handle da jetzt intuitiver.“

Und die ehemalige Altenpflegerin Anja Thoms-Schnipper, 59 Jahre alt, sagt: „In der Pflegeausbildung ist seelische Begleitung nicht vorgesehen. Man hat zu wenig Zeit für die Menschen, das ist immer schlimmer geworden. Ich habe jetzt etwas nachgeholt, was mir im Umgang mit Pflegebedürftigen immer gefehlt hat. Als Rentnerin werde ich mich in einem Hospiz engagieren.“

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Geschrieben von

Kersten Artus

Journalistin, Bloggerin, Frauenaktivistin

Kersten Artus

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